Der trügerische Schein der digitalen Demokratie

Die Hoffnung, mithilfe neuer technischer Mittel unbeteiligte Menschen zur politischen Partizipation zu bewegen, hat sich nicht erfüllt. Die demokratische Wirkung der E-Politik wird langfristig davon abhängen, wie die digitale Avantgarde mit der schweigenden Mehrheit umgeht

A n die Entwicklung des Internets als Sinnbild des Fortschritts haben sich von Anfang an große demokratische Erwartungen geknüpft. Sie gründeten in der Hoffnung auf eine neue technologisch-demokratische Kreativität, auf die Möglichkeit, Proteste über digitale soziale Medien zu mobilisieren, die Schwellen für die politische Beteiligung abzubauen, partizipationsorientierte Plattformen zu etablieren oder Abstimmungs- und Entscheidungssoftware zu entwickeln. Die Befürworter der „elektronischen Demokratie“ verweisen noch immer auf die Schnelligkeit und die geringen Transaktionskosten von Information, Partizipation und Dezision im Netz.

Die unteren Schichten bleiben weiterhin außen vor

Das große demokratische Versprechen der basisorientierten Befürworter der digitalen Demokratie lautet: Raum und Zeit verlieren ihren Begrenzungscharakter für die Demokratie. Der aufgeklärte digitale Bürger kann je nach Bedürfnis zwischen Kommunikation, Partizipation, Repräsentation und Dezision wechseln. Er kann morgens partizipieren, mittags repräsentieren oder repräsentiert werden und abends in die direktdemokratische Position des Entscheiders wechseln. Alles fließt zusammen in der schönen neuen Welt des Internets.

Was diesen schönen Schein trübt, ist die Wirklichkeit. Die unteren Schichten bleiben weiterhin außen vor. Die neuen elektronischen Medien haben nicht zu einem Anwachsen der Wahlbeteiligung geführt. Es sind vor allem junge Menschen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen, elektronisch ihre Stimme abzugeben. Voraussetzung ist, dass sie sich schon vorher für Politik interessieren. Tun sie dies nicht, wird sie auch die (durchschnittliche) Zeitersparnis von 4 mal 20 Minuten alle vier bis fünf Jahre bei Kommunal-, Regional-, Bundes- und Europawahlen kaum dazu veranlassen, sich ihres vorher vernachlässigten Wahlrechts zu bedienen.

Aber die demokratischen Hoffnungen der digitalen Aktivisten richten sich gar nicht wesentlich auf Wahlen, sondern auf direkte Beteiligung. Diese setzt Wissen und politische Informationen voraus. Das Internet bietet dafür heute eine historisch bisher nicht gekannte Vielfalt. Allerdings ist diese Vielfalt nicht risikofrei zu haben. In den elektronischen Medien verschmelzen Information und Meinungsbildung viel stärker als in den großen Zeitungen und öffentlichen Funk- und Fernsehanstalten. Die Authentizitäts- und Qualitätsprüfung fällt im Internet weg. Die Gefahr von Manipulation, Konspiration und Desinformation ist viel größer, ebenso die der shitstorms mit grober Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Die Auswahl seriöser Informationsquellen ist schwieriger geworden. Zudem haben wir heute in den entwickelten Demokratien nicht ein Vielfalts-, sondern ein Selektionsproblem der Informationen. Die Gleichung, mehr Informationsangebot ist gleich größere politische Kompetenz, kann jedenfalls nicht überzeugen.

Die Mobilisierung »gegen etwas« klappt im Netz am besten

Doch womöglich ist dies alles zu konventionell gedacht. Bei „unkonventionellen“ Beteiligungsformen wie der Protestmobilisierung bieten Internet, Twitter, Facebook und andere digitale Netzwerke tatsächlich neue Möglichkeiten. Dies gilt für die Mobilisierung zu Demonstrationen auf der Straße wie für die Manifestation von Protest durch Petitionen im Netz. So war etwa die Mobilisierung der Occupy-Bewegung auf den Straßen vergleichsweise gering. Ihre eigentliche Bedeutung hat sie durch die Protestartikulation und Problemsensibilisierung im Internet erfahren. Die neuen sozialen Medien im Netz haben sich bisher in der Mobilisierung von Protest „gegen etwas“ viel wirksamer erwiesen als in der gemeinsamen Konstruktion „von etwas“.

Eine zunehmend wichtige Rolle spielen onlinebasierte Kampagnen, die, von NGOs betrieben, rasch und direkt auf die politische Agenda zugreifen. Ihr Hauptinstrument sind elektro­nische Petitionen. Eine der ersten dieser elektronischen Plattformen war 1998 „MoveOn“ in den Vereinigten Staaten. Heute agieren die virtuellen Organisationen länderübergreifend (wie „Avaaz“) oder national (wie „Campact“ in Deutschland). Sie sind also nicht nur transparenzfördernde Beobachter der repräsentativen Institutionen, sondern schalten sich über Kampagnen und Protestmobilisierung direkt in politische Entscheidungsprozesse ein. Der australische Demokratieforscher John Keane spricht deshalb von einer heraufziehenden monitory democracy.

Weniger leuchten die verwirrenden und verwirrten Delegationsregeln der liquid democracy ein. Diese waren ein programmatisches Versprechen der Piratenpartei. Die Diagnose, dass der große Freilandversuch der Piraten mit diesen Regeln und der dazu passenden Software vorerst an Peinlichkeit, Konfusion und elektronisch gestützter Niedertracht gescheitert ist, erscheint im Jahr 2015 alles andere als spekulativ. Aber auch ohne die Piraten können digitale Plattformen für die Kommunikation, Partizipation und Dezision in Parteien eine beachtliche Zukunft haben. Offen und solidarisch angewandt, können sie der Mitgliederbasis und den Wählern eine bessere Mitsprache bei parteiinternen Angelegenheiten ermöglichen. Sie könnten helfen, Robert Michels vermeintliches „eherne Gesetz der Oligarchie“ rund 100 Jahre nach seiner erstmaligen Formulierung nun zu dementieren. Die Vertrauensverluste, die Parteien und Parlamente in den vergangenen drei Jahrzehnten hinnehmen mussten, werden jedoch durch diese unausweichliche technologische Modernisierung allein nicht zu stoppen sein.

Die von der Piratenpartei verkündete Vision, „dass mit­hilfe neuer technischer Mittel Demokratie heute neu erfunden werden kann“ (so Piratenfunktionär Andreas Nitsche im Jahr 2010), verrät ein naiv-technokratisches Verständnis von Demokratie und ihren normativen wie institutionellen Geboten. Die Hoffnung, „niederschwellige“ Beteiligungsangebote zögen vormals unbeteiligte Gruppen und Individuen in die politische Partizipation, hat sich bisher nicht bestätigt. Das Gegenteil könnte der Fall sein. Denn selbst wenn alle Bürger über die notwendigen digitalen Kompetenzen und Ausrüstungen verfügten, bliebe der Verdacht, das Internet und seine politischen Plattformen beförderten einen digitalen Habitus der Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurzfristigkeit. Es entstünde die Illusion, man könne mit einem bequemen Mausklick schon politisch gestalten.

Politische Teilhabe erfordert aber ein Fundament an Beharrlichkeit, Erfahrung und Berechenbarkeit, ohne das sie leerläuft. Gerade der regellose, unverbindliche und individuelle Charakter digitaler Kommunikation erschwert allerdings den Aufbau kontinuierlicher Vertrauensbeziehungen. Wirksame politische Partizipation ohne kollektive bürgerschaftliche Verantwortung funktioniert nicht. Die Politik bleibt, wie es Max Weber formuliert hat, „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.

Das Netz kann repräsentative Politik nicht ersetzen

Bisher hat das Internet die sozial ungerechten Exklusionsmuster der politischen Teilhabe nicht verändert. Die demokratische Wirkung der E-Politik wird aber nicht nur davon abhängen, wer sich einmischt und wie viele dies tun. Sie wird auch daran zu messen sein, wie die digitale Avantgarde der Netzgemeinde mit der schweigenden Mehrheit umgeht. Diese muss in Entscheidungen berücksichtigt werden. Das in bestimmter, wenn auch vielleicht nicht zureichender Art und Weise zu garantieren, ist eine der Stärken der repräsentativen Demokratie, die weder direktdemokratische Referenden, deliberative Bürgerversammlungen noch digital-partizipative Verfahren auch nur annähernd erreichen. Das von Jürgen Habermas entworfene Schleusenmodel, das er für die Beziehung von Zivilgesellschaft und Parlament entworfen hat, muss auch für das Internet gelten: Entscheidungen, die allgemeine Gesetzeskraft erhalten wollen, müssen – von direkten Volksabstimmungen zu sorgsam ausgewählten Fragen einmal abgesehen – durch die Schleusen „demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren am Eingang des parlamentarischen Komplexes“ gehen.

Die digitale Kommunikation wird die repräsentativen Institutionen nicht ersetzen, könnte sie aber in Zukunft effektiver durchleuchten und gegenüber der digitalen Zivilgesellschaft responsiver machen. Dies ist die positive Seite. Responsiveness, verstanden als Rückbindung an die Wähler, ist aber noch lange nicht Responsibility, also Verantwortung. Eine zukunftsfeste, fortschrittliche Demokratie benötigt aber beides: die enge Bindung der Repräsentanten an die Repräsentierten sowie gleichzeitig eine deliberative Distanz der Regierenden gegenüber den Regierten, um langfristig verantwortlich für gegenwärtige und zukünftigen Generationen handeln zu können. Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl der Gesellschaft heute und morgen entsteht eher im Pluralismus großer kollektiver Organisationen und der kompromissbereiten Deliberation parlamentarischer Diskurse als in der atomistischen Beteiligungslandschaft des Internets.

zurück zur Ausgabe