»Diese Krise ist ein Moment der Wahrheit«

Jürgen Kocka ist Mitbegründer der Historischen Sozialwissenschaft. Er forschte vor allem zur Geschichte der industriellen Revolution, zu Arbeiterbewegung und Klassenkampf und auf dem Gebiet der international vergleichenden Geschichtswissenschaft. Der Emeritus ist Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und wurde in diesem Jahr für seine Leistungen als öffentlicher Intellektueller mit dem Holberg-Gedenkpreis ausgezeichnet. Für die »Berliner Republik« sprach Johanna Lutz mit Jürgen Kocka über Umbruchphasen in der europäischen Geschichte, Kapitalismuskritik und die Bewältigung der Krise Europas

Herr Kocka, Sie sind ein Fachmann für historische Umbrüche, für Epochen und Epochenwechsel. Auf vielen Gebieten scheinen sich derzeit Phänomene für einschneidende Veränderungen zu vermehren: Es gibt immer mehr Verbitterung, Unbehagen und Protest über die europäischen Staatsschuldenkrisen, über wachsende ungerechtfertigte Ungleichheit und den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts insgesamt und über massive Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern. Wir erleben den Arabischen Frühling und den kometenhaften Aufstieg der Occupy-Bewegung. Gibt es historische Parallelen zu den heutigen Protestbewegungen?

Das ist die Frage. Ist es erlaubt, die heutigen Protestbewegungen mit denen von 1968 zu vergleichen, die auch im Laufe weniger Monate an verschiedenen Stellen der damaligen Welt auftraten? Und mit den Protestbewegungen von 1989, die ebenfalls – wenngleich auf den östlichen Teil Europas beschränkt – transnational auftraten und sich zumindest in der DDR und in der Tschechoslowakei zu Revolutionen steigerten? Die Unterschiede springen ins Auge: Während die Achtundsechziger-Bewegung das Produkt einer Aufschwungs- und Prosperitätsperiode war und sich kaum über das Anprangern von Not, Arbeitslosigkeit,
Unsicherheit und ökonomischer Perspektivlosigkeit profilierte, finden die Proteste heute in einer tiefen Krise des Kapitalismus statt. Entsprechend ausgeprägter sind in ihnen die sozialökonomischen Beschwerden, Ängste und Forderungen. Während 1989 der Kampf für Freiheit und gegen diktatorische Herrschaft zentral waren, gilt dies heute – in abgewandelter, vor allem in viel blutigerer Form – nur für die Emanzipationsbewegungen in der
arabischen Welt, nicht aber für die anderen Proteste der Gegenwart, die Sie genannt haben.

Was verbindet die heutige Protestbewegung überall auf der Welt?

Im Unterschied zu 1968 und 1989 scheinen mir die heutigen Proteste vor allem zweierlei gemeinsam zu haben: Zum einen bedienen sich die Protestierenden überall digitaler Kommunikationsmittel und gewinnen dadurch ein seinerzeit undenkbares Ausmaß an Beweglichkeit, Verständigungsfähigkeit und Durchsetzungskraft – jedenfalls vorübergehend. Zum anderen hat die Medialisierung der Wirklichkeit rasant zugenommen, und zwar im globalen Ausmaß. Die mediale Wahrnehmung der Proteste erfolgt heute blitzschnell, sie überspringt fast alle Grenzen und sie wirkt auf die Proteste ein, die sich so verändern: Sie werden dadurch miteinander verknüpft, sie lernen voneinander leichter als früher und sie werden zu Techniken der Selbstinszenierung gedrängt – mit neuen publikumswirksamen Mitteln.

Der Schriftsteller Robert Musil beschreibt das Europa der frühen zwanziger Jahre als „babylonisches Narrenhaus“. Er konstatiert politische Haltlosigkeit und allseitige Orientierungslosigkeit in dieser
Umbruchphase zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Wirtschaftskrise. Sehen Sie Parallelen zur heutigen europäischen Mentalität?


Wer hier Parallelen sieht, unterschätzt gröblich das Chaos, die Verzweiflung und die Hilflosigkeit der zwanziger Jahre in großen Teilen der Welt, jedenfalls in Europa. Damals lag der Erste Weltkrieg mit seiner einschneidenden Erfahrung von Tod, Brutalisierung, Demütigung und Desorientierung nur wenige Jahre zurück, zwischen dem noch tiefer einschneidenden Zweiten Weltkrieg und heute liegen dagegen zwei Drittel eines Jahrhunderts. Die Verarmung hatte vielerorts wieder das tiefe Ausmaß des 19. Jahrhunderts erreicht, der Sozialstaat war noch nirgends ausgebaut, das wirtschaftliche Wachstum durch politische Kriegsfolgen eingeschnürt. Die diktatorischen Alternativen zur rechtsstaatlichen Demokratie, nämlich Faschismus und Kommunismus, hatten den größten Teil ihrer Zukunft noch vor sich, hatten sich noch längst nicht diskreditiert und ihre immense Verführungskraft noch keineswegs verloren – ganz anders als heute, da wir wissen, wie ineffizient, repressiv und menschenverachtend sie wurden, als sie zur Macht kamen. Wir haben aus den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelernt, was in den zwanziger Jahren naturgemäß noch nicht möglich war. Das gilt auch für die Mechanismen der Abstimmung und Kooperation zwischen den Staaten, besonders in
Europa. Trotz ihrer gegenwärtigen Probleme ist die Integration Europas ein erheblicher Fortschritt, der die Gegenwart fundamental von den zwanzigerJahren unterscheidet. Andere Unterschiede wären zu nennen, manches ist – beispielsweise mit der Globalisierung – auch schwieriger geworden. Die Beschwörung von
Parallelen zwischen damals und heute führt jedenfalls in die Irre.

Bereits vor rund 80 Jahren versammelten sich protestierende Menschenmengen vor der Wall Street. Haben wir überhaupt etwas aus früheren Finanz- und Wirtschaftskrisen gelernt?

Als die große Banken-, Kredit- und Finanzkrise 2007/08 ausbrach, mit dem Bankrott von Lehman Brothers 2008 einen ersten Tiefpunkt erreichte und – mit den Aktienkursen im freien Fall und rasch schrumpfenden Handels- und Produktionsvolumina – in eine weltweite Wirtschaftskrise überzugehen drohte, haben die Regierungen gezielt aus den Fehlern im Umgang mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929 zu lernen versucht.
Ganz im Unterschied zu damals haben sie in großem Umfang öffentliche Gelder benutzt, um systemrelevante Banken, Versicherungen und andere Unternehmen vor dem Zusammenbruch zu bewahren, der zweifellos zu großen Verlusten nicht nur für Großaktionäre, Investoren und Finanzmanager, sondern auch für viele Sparer, Konsumenten und kleine Leute geführt hätte, mit tiefen wirtschaftlichen Störungen, Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen in der Folge. Die Politik war erfolgreich, eine Weltwirtschafskrise wie die der dreißiger Jahre wurde zunächst einmal verhindert, man hatte aus der Geschichte gelernt. Aber damit wurde die Krise der Märkte von den Staaten absorbiert und gewissermaßen geschultert, was sich in einem sprunghaften Anstieg ihrer in der Regel ohnehin schon hohen Verschuldung spiegelte. Die Krise wurde nicht gelöst, sondern von einer Ebene auf die andere verschoben: von der Ebene der Märkte auf die Ebene der Staaten. Der Staat fun-
giert als Reparaturbetrieb des Kapitalismus und gerät in die Gefahr, sich damit zu übernehmen. Was als Marktkrise begann, setzt sich als öffentliche Verschuldungskrise fort und führt als solche zur Erschütterung der inneren Legitimität der betroffenen Staaten und zur Komplizierung der Beziehungen zwischen ihnen. Das wirkt auf die Finanzmärkte zurück und droht, sie erneut zu destabilisieren. In dieser Situation befinden wir uns
jetzt, besonders in der EU.

Also hat die staatliche Krisenpolitik unbeabsichtigte negative Folgen gehabt, gerade weil man aus der Katastrophe der dreißiger Jahre zu lernen versuchte.

Ja, das Lernen aus der Geschichte kann dysfunktional sein, hat jedenfalls seine Grenzen, denn bei aller Ähnlichkeit sich wiederholender kapitalistischer Krisen: In ihrem Kern geschehen sie unter immer neuen Bedingungen. Alte – keynesianische – Rezepte helfen unter den neuen Bedingungen nur noch zum Teil, sie wirken vielmehr gleichzeitig krisenverschärfend, weil sich das Spar- und Verschuldungsverhalten in den letzten Jahrzehnten radikal verändert hat. Einen Wandel vom Spar- zum Pumpkapitalismus diagnostizierte bereits Ralf Dahrendorf. Belege dafür sind die gefährlich geschrumpften Eigenkapitalanteile großer Banken, die exorbitanten, auch unter guten konjunkturellen Bedingungen nicht zurückführbaren Verschuldungsquoten vieler Staaten, übrigens auch Deutschlands, und die nachlassende Sparneigung vieler Haushalte – beispielsweise in den USA. Dem Problem kommt man nicht bei, indem man Staaten und Märkte gegeneinander ausspielt. Man muss vielmehr eine Konstellation herbeiführen, in der sich beide – Märkte und Staaten – wie checks and balanceszueinander verhalten und gegenseitig bremsen, statt sich wechselseitig zum Leben über die Verhältnisse anzustacheln. Letztlich geht es um eine Änderung unserer Kultur.

Sie haben einmal geschrieben, dass große Wirtschaftskrisen „produktive Wirkungen“entfalten. Welche produktiven Wirkungen dieser Art hat es denn in der Vergangenheit gegeben?

Nehmen Sie die internationale Wirtschaftskrise von 1873. Sie führte in Deutschland und in Österreich zu einem Börsenkrach, Bankenpleiten, einer Deflation und zu einer über Jahre hinweg schwachen Konjunktur. Sie provozierte eine Welle der Kapitalismuskritik, politische Polarisierung und eine Stärkung der Rechten. Aber sie führte auch zu institutionellen Reformen. Neue Formen der Kooperation wurden geschaffen – unter den großen Industrie-Unternehmen wie auch zwischen diesen und den großen Banken. Eine Vielzahl von Interessenverbänden entstand, und es gab andere Bestrebungen zur Organisation des Marktes, unterstützt von zunehmender staatlicher Regulierung und den Anfängen des Sozialstaats seit den 1880er Jahren. Die  sozialdemokratische Arbeiterbewegung wuchs. Später sprach der sozialistische Theoretiker Rudolf Hilferding vom „organisierten Kapitalismus“.

Und welche produktiven Wirkungen hatte die Krise von 1929?

Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 führte bekanntlich zu ausgedehnter Arbeitslosigkeit, Armut und Entbehrung, zu Statusverlust und politischer Orientierungslosigkeit. Aber es gab auch produktive Reaktionen. Man denke an Franklin D. Roosevelts „New Deal“ in den USA, der Elemente des Sozialstaats einführte, verschiedene staatliche Regulierungen institutionalisierte und den Kapitalismus reformierte. Zu nennen sind neue Rechte für die Gewerkschaften, die Einführung der Sozialversicherung und die Regulierung der Banken. Und man denke an John Maynard Keynes, der seine „General Theory of Employment, Interest and Money“ 1935 vollendete und 1936 publizierte. Es war vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, dass er seine weitreichenden politischen Empfehlungen entwickelte, die im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts und erneut in der Gegenwart zur Grundlage der Wirtschaftspolitik in vielen Ländern wurden: ein struktureller Wandel und ein Stück Reform des Systems. Auch grundlegende Ideen wie Alfred Müller-Armacks „soziale Marktwirtschaft“ oder der stark koordinierte „Rheinische Kapitalismus“ der Bundesrepublik hatten ihren gedanklichen Ursprung in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Das waren produktive Reaktionen auf die Misere, die in diesem Sinne als Katalysator für die Reform des Kapitalismus dienten und strukturellen Wandel erzeugten oder doch beschleunigten.

Hat auch die gegenwärtige Krise positive Folgen?

Das ist schwer zu sagen. Einige Schritte werden zwar bereits diskutiert und teilweise realisiert: vor allem neue Formen der Regulierung des Finanzmarktkapitalismus, die effektive Begrenzung der Verschuldungspolitik von Banken und Staaten, die Durchsetzung intensiverer Koordinationsmechanismen zwischen den Staaten, vor allem, jedoch nicht nur innerhalb der EU. Aber nur wenig davon ist bisher gelungen. Darüber hinaus müssten weiterreichende Reformen in den Blick genommen werden, die die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus einhegen, ohne zugleich seine wohlfahrtschaffende Dynamik zu lähmen. Davon sind wir aber weit entfernt. Zum Teil liegt dies an der Schwäche der derzeitigen Kapitalismuskritik. Denn: Die genauere Analyse der politischen Reaktionen auf die Krisen von 1873 und 1929 würde zeigen, dass es nicht die kapitalistische Wirtschaft per se, sondern das Zusammenspiel zwischen der Krise des Kapitalismus, starken Wellen der Kapitalismuskritik und politischer Handlungsfähigkeit auf der Basis gesellschaftlicher Mobilisierung war, welches partielle Lösungen für grundlegende Probleme ermöglichte und zu Strukturreformen führte. Die praktisch werdende Kritik des Kapitalismus gehörte dazu, denn die Reformen mussten zumeist gegen den Widerstand machtvoller Akteure im Wirtschaftsbereich erdacht, propagiert und durchgesetzt werden. Natürlich sind die kapitalismuskritischen Stimmungen und Bewegungen in den letzten Monaten stärker geworden. Dennoch: Im historischen Langzeitvergleich ist die Kapitalismuskritik heute schwach. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs und seines Staatssozialismus mangelt es an etablierten Alternativen zum Kapitalismus, in der intellektuellen Diskussion sind überzeugende Utopien jenseits des Kapitalismus knapp. Von einflussreichen Linksbewegungen mit kapitalismuskritischer Spitze ist wenig zu sehen, im Unterschied zu den Arbeiterbewegungen des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem fehlt es an ausformulierter, institutionalisierter und politisch ins Gewicht fallender Kapitalismuskritik auf globaler Ebene. Diese aber zählt, künftige Reformen des Kapitalismus müssen auf globaler Ebene wirksam werden.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz spricht im Zusammenhang mit der Occupy-Wall-Street-Bewegung von einer „Globalisierung des Protests“. Liegt er damit richtig?

Ansätze dazu gibt es zweifellos, wir sind ja zu Anfang dieses Gesprächs darauf eingegangen. Aus den genannten Gründen wäre eine solche Globalisierung sehr zu begrüßen. Unzufriedenheit ist weit verbreitet, die Exzesse des Finanzkapitalismus haben die Legitimität des gesamten Systems ausgehöhlt und tun dies weiterhin, in den Augen vieler liefert der Kapitalismus nicht mehr genug Wohlstand für alle, die Zahl der Verlierer nimmt zu. Doch bessere Alternativen sind nur schwer zu erkennen, nach den schlechten Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert mit Verstaatlichung, staatlicher Verwaltungswirtschaft und zuletzt mit staatlicher Schuldenwirtschaft, aber auch immer wieder mit genossenschaftlichen Experimenten gemacht haben. Die Ziele der Occupy-Bewegungen sind vage, ihre Kräfte sind schwach, und eine weltweite Bewegung über einige Brennpunkte im Westen hinaus vermag ich nicht zu erkennen. Ich fürchte, bei Stiglitz ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

Die Kritik am Kapitalismus ist so alt wie dieser selbst. Wie unterscheidet sich die heutige Kritik von der Kritik in früheren Zeiten?

Ihre zentralen Themen haben sich geändert. In den Klassenkämpfen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war der Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung am Arbeitsplatz und gegen den unterprivilegierten Status der Arbeiterklasse zentral. Für die marxistische Kapitalismuskritik seit dem späten 19. Jahrhundert und vor allem in der Zeit der Weltkriege stand der Vorwurf im Mittelpunkt, dass kapitalistische Interessen zu imperialistischer Expansion führen und der Kapitalismus kriegstreibend sei. Proteste gegen Arbeitslosigkeit und Elend spielten in der Krise der dreißiger Jahre die Hauptrolle. Dass der Faschismus, auch der deutsche Nationalsozialismus, letztlich ein Produkt der Krisen des Kapitalismus in seiner finanzkapitalistisch-imperialistischen Form sei, wurde nicht nur ein zentraler Topos der kommunistischen Propaganda im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein wichtiger Pfeiler unterschiedlicher Varianten marxistischer Faschismusanalyse bis ins späte 20. Jahrhundert. In den Jahrzehnten des Kalten Kriegs hat die kommunistische Kritik immer wieder die dunklen Seiten des Kapitalismus angeklagt und damit dessen Neigung zur Selbstreform beflügelt. Die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themen und Thesen der Kapitalismuskritik füllen ganze Bibliotheken. Eine systematische Geschichte der Kapitalismuskritik kenne ich aber nicht.

Was genau wird dem heutigen Kapitalismus vorgeworfen?

Derzeit konzentriert sich die Kapitalismuskritik, jedenfalls im Westen, nicht mehr auf die Gefahr der Verelendung, die Entfremdung am Arbeitsplatz und die Entrechtung der Arbeiterklasse, auch nicht auf das antidemokratische Potenzial des Kapitalismus, das für marxistische Faschismusanalysen lange zentral gewesen ist. Vielmehr zielt die gegenwärtige Kapitalismuskritik auf die „neoliberale“ Deregulierung der Marktwirtschaft seit den achtziger Jahren, die zur Radikalität der Krise seit 2007/08 erheblich beigetragen hat. Es geht um Exzesse und Anstößigkeiten des Finanzkapitalismus, die – wie die Trennung von Entscheidung und Haftung oder der Widerspruch von individualisierten Gewinnen und kollektivierten Verlusten – nicht nur Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit, sondern auch Prinzipien des Kapitalismus selbst widersprechen. Es geht um die in den wirtschaftlich entwickelten Gesellschaften zunehmende ökonomische und soziale Ungleichheit als Folge des unzureichend regulierten Kapitalismus. Es geht um die mit der globalen Konkurrenz und der Digitalisierung der Arbeitswelt gesteigerte Unsicherheit und den unablässigen Veränderungs- und Beschleunigungsdruck, die der Kapitalismus in seiner neuesten, manchmal als „postfordistisch“ bezeichneten Form hervorruft und notwendig macht – prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse eben. Kapitalismuskritik tritt überdies oft in der Form von Globalisierungskritik auf. Kritisiert wird schließlich der Kapitalismus zu Recht im Hinblick auf seine zwanghafte Abhängigkeit von permanentem Wachstum und dauernder Expansion per se, die die natürlichen Ressourcen wie Umwelt und Klima und die kulturellen Bedingungen, etwa Solidarität, zu zersetzen und zu zerstören drohen – Ressourcen, die für nachhaltige Lebens- und Politikformen ebenso unverzichtbar sind wie für das langfristige Überleben kapitalistischer Wirtschaftssysteme selbst. Auf der grundsätzlichsten Ebene bleibt die Diskrepanz zwischen dem an universalisierbaren Werten orientierten Verständigungs- und Gestaltungsanspruch demokratischer Gesellschaften einerseitsund der sich demo- kratischer Politik und moralischer Gestaltung im Kern entziehenden, letztlich nicht diskursiv gesteuerten, sub-politischen und amoralischen Dynamik des Markt- und Konkurrenzkapitalismus andererseitsein permanenter Stein des Anstoßes und eine Quelle fortdauernder Kritik.

Existiert diese Diskrepanz auch außerhalb der westlichen Sphäre?

Ja, die Kapitalismuskrise wird zusätzlich bestärkt durch die am Beispiel Chinas und Russlands gegenwärtig erhärtete Einsicht, dass kapitalistisches Wirtschaften zwar nicht unter allen, aber doch unter sehr verschiedenartigen – auch autoritären und diktatorischen – Politikformen möglich ist. Doch Intensität und Stoßrichtung der Kapitalismuskritik unterscheiden sich weltweit noch stärker voneinander als die Varianten des Kapitalismus selbst. Kapitalismuskritik variiert mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen, Öffentlichkeitsformen und politischen Artikulationsmöglichkeiten. Auch deshalb ist die Entstehung von transregionalen, weltweit koordinierbaren und global wirksamen kapitalismuskritischen Strömungen und Bewegungen schwierig, so sehr sich einzelne Nicht-Regierungs-Organisationen wie Attac auch darum bemühen.

Als Krisenfaktor wird derzeit die EU selbst gesehen. Die gemeinsame Währung hat die ökonomischen Ungleichgewichte nicht wie erhofft vermindert, sondern verstärkt. Zugleich fehlen institutionelle Strukturen für eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Ist die – historisch einmalige – „supranational governance“ der EU, intendiert nicht zuletzt als Antwort auf die Globalisierung, gescheitert?

Meiner Überzeugung nach bleibt die europäische Integration eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts und ihre Fortführung, auch im Sinn weiterer Intensivierung, ein dringlich zu verfolgendes Ziel, aus ökonomischen wie aus politischen Gründen, auch und gerade im Interesse der Deutschen. Ob sie aber fortgeführt wird, erscheint mir derzeit offen: weder ausgemacht noch ausgeschlossen. Zu bedenken ist, dass einige der stärksten Motive, die die europäische Integration ursprünglich in Gang setzten und vorantrieben, an Kraft erheblich verloren haben: Der Kalte Krieg ist vorbei, der das Zusammenrücken des Westens gegenüber der sowjetischen Herausforderung nahelegte und die USA dazu bewegte, den europäischen Zusammenschluss zu unterstützen. Die Erfahrung der blutigen Kämpfe zwischen den europäischen Nationalstaaten mit ihrer Zuspitzung in den beiden Weltkriegen motivierte die Generation der Gründer der heutigen EU aus Sorge um den Frieden, doch diese Erfahrung verblasst mit der Zeit und bewegt die Heutigen weniger. Deutschland fest einzubinden und von erneuten einseitigen Kraftakten abzuhalten, war ein weiteres Motiv, das unsere europäischen Nachbarn auf europäische Integration setzen ließ. Doch die Angst vor einer Übermacht Deutschlands in Europa ist abgeklungen. Die großen Vorteile, die europaweit integrierte Märkte bieten, sind etabliert und können wohl auch ohne weitere Integrationsschritte wahrgenommen werden. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung gaben der europäischen Integration zwar einen weiteren Schub, doch auch dies liegt nun mehr als 20 Jahre zurück. Im Grunde ist es verwunderlich, dass die Erweiterung und gleichzeitige Vertiefung der EU sich bis in die Gegenwart fortsetzen ließen. Offensichtlich ist die europäische Idee mittler- weile tief eingewurzelt. Institutionen bestehen, Interessen sind entstanden und Bindungen haben sich entwickelt, die den Prozess der Integration in Gang halten, auch wenn die ursprünglichen Motive teilweise obsolet geworden sind. Die Herausforderungen der Globalisierung liefern neue Gründe, die für die Integration sprechen.

Die jüngste Krise hat nicht nur zur erheblichen Ausdehnung innereuropäischer Transferzahlungen und damit zur praktischen Stärkung gemeineuropäischer Solidarbeziehungen – übrigens über die Eurozone hinaus – geführt. Im Stress der Krise wird man auch daran erinnert, dass die traditionell unfreundlichen Stereotype zwischen den Nationen keineswegs tot sind, sondern nur abgeschwächt oder überdeckt, und dass ein Rückfall in nationalpolitische Spannungen zwischen den einzelnen Staaten selbst für Europa nicht ausgeschlossen ist: ein weiterer guter Grund, für mehr Integration zu kämpfen.

Aber viele Leute sagen: „Diese Union, so wie sie ist, funktioniert doch nicht!“ Haben sie denn Unrecht?

Überhaupt nicht. Die Krise enthüllt schonungslos die Schwachstellen der bisherigen Konstruktion. Es greift zu kurz und führt in die Irre, das Problem im Widerstreit zwischen dem Primat der Märkte und dem Primat der staatlichen Politik zu verorten, wie es in der gegenwärtigen Debatte so oft geschieht. Zum einen: Die Verletzbarkeit der staatlichen Politik durch Spekulation oder Verweigerung seitens der Finanzmärkte resultiert aus Defiziten der Politik, die nur zum Teil als Folge der Krise der Märkte zu erklären sind; vielmehr resultieren diese Defizite aus der jahrzehntelangen und wohl systemisch bedingten Unfähigkeit der Politik vieler (nicht aller) Staaten, Einnahmen und Ausgaben einigermaßen zur Deckung zu bringen. Man lebt langfristig über die eigenen Verhältnisse, überschuldet sich und macht sich so extrem verwundbar, denn man ist angewiesen auf das Vertrauen der Besitzer von finanziellen Ressourcen, die der moderne, in seiner Macht eingeschränkte und verfassungsmäßig begrenzte Staat weder allmächtig kontrollieren kann noch allmächtig kontrollieren können sollte, jedoch – falls verschuldet – für den eigenen Machterhalt ebenso braucht wie zur Einlösung seiner Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern. Zum andern: Die Krise deckt die großen ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern der Eurozone auf, die durch die gemeinsame Währung nicht gemildert, sondern nur überdeckt und sogar – durch Fehlsteuerung – verschärft worden sind. Diese Krise ist insofern ein Moment der Wahrheit, in dem dramatisch eingefordert wird, was im Grunde seit Einführung des Euros bekannt war: dass die Entscheidung für die gemeinsame Währung Entscheidungen zur Harmonisierung von Finanz- und Wirtschaftspolitik nach sich ziehen muss und ohne solche Nachfolgeentscheidungen nicht dauerhaft sein kann.

Ob es nun gelingt, den Verschuldungstrend zu bremsen und die nötigen finanz- und wirtschaftspolitischen Koordinationsmechanismen der Währungseinheit hinzuzufügen, ist in praktischer Politik zu erproben; kostenlos ist eine solche Strategie, die derzeit versucht wird, aber nicht: Sie fordert schmerzliche Einsparungen sowie schwer zu vermittelnde und demokratisch erst noch zu legitimierende Souveränitätsverzichte zugunsten von „mehr Europa“ innerhalb der Eurozone – mit dem großen Nachteil, dass der Spalt zwischen dieser und den EU-Staaten mit eigenen Währungen sehr viel tiefer werden wird.

Mahlen die Mühlen der Demokratie zu langsam?

Die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie sind durchaus in der Lage, Entscheidungen zugunsten solch tiefgreifender Veränderungen herbeizuführen und zu legitimieren. Volksabstimmungen braucht es dazu nicht unbedingt und schon gar nicht überall. Technokratenregierungen taugen dazu allerdings nicht, sondern demonstrieren nur, dass sich die politischen Parteien des jeweiligen Landes der Verantwortung entziehen und die parlamentarische Demokratie dort in der Krise ist.

Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten des europäischen Krisenmanagements?

Dass die Zähmung der Schuldenpolitik und die anstehenden weiteren Koordinationsschritte zwischen den Ländern der Eurozone gelingen, ist nicht ausgemacht – obwohl solche Reformpolitik ohne die gegenwärtige Krise gar keine Chance hätte. Ein Scheitern des Euro ist deshalb nicht auszuschließen. In diesem hoffentlich zu vermeidenden Fall wäre es möglich und wünschenswert, am Ziel der Integration Europas festzuhalten und diese mit jenen Mitteln weiter zu betreiben, die bis zur Einführung der gemeinsamen Währung die Integration vorangebracht haben und im Verhältnis zu den nicht der Eurozone angehörenden EU-Mitgliedern auch heute noch den Zusammenhalt verbürgen, ohne sich auf eine gemeinsame Währung stützen zu können. Von der riskanten Maxime „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ ist dringend abzuraten, auch wenn sie im Ringen um die dringliche Reformpolitik ihren strategischen Wert besitzt.

Herzlichen Dank für das Gespräch.
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