Was bleibt, wenn ein Arbeiter stirbt

Werner Bräunigs großer Roman vom Anfang der DDR ist erst jetzt erschienen

Kann ein Dichter irgendwo wichtiger sein als in diesem Staat, zu dieser Zeit? Die DDR im Herbst 1965. Am 30. November fasst das SED-Politbüro auf Antrag von Hager, Honecker und Fröhlich einen Beschluss, in dem es unter anderem heißt: „Im ‚Neuen Deutschland‘ ist die öffentliche Auseinandersetzung mit den Gedichten von Biermann ... zu beginnen. Außerdem ist im ‚Neuen Deutschland‘ die Auseinandersetzung mit dem in der Zeitschrift ‚Neue Deutsche Literatur‘ veröffentlichten Stück von Bräuning (Rummelplatz) zu führen. Es ist zu organisieren, dass Arbeiter, die den Aufbau der Wismut miterlebt haben, dazu schreiben.“

Wie die Geschichte mit dem Dichter Biermann weiterging, ist im Westen und im geeinten Deutschland gut bekannt. Wolf Biermann wurde 1976 von der DDR „ausgebürgert“, viele andere – darunter Günter Kunert, Sarah und Rainer Kirsch, Manfred Krug – wollten freiwillig gehen und wurden gehen gelassen. Aber der gefährliche Werner Bräunig, dessen Name im Politbüroprotokoll nicht einmal richtig geschrieben war, der blieb, floh in den Alkohol – und starb im Alter von 42 Jahren 1976 in Halle-Neustadt.

Bräunigs einer, großer Roman, der plötzlich zum Gegenstand des Kampfes zweier Linien um die Kulturpolitik im Arbeiter- und Bauernstaat geworden war, dieses nachgelassene Manuskript, von dem damals nur der Vorabdruck eines Kapitels in der Neuen Deutschen Literatur („Rummelplatz“) bekannt war, ist jetzt, beinah zwei Generationen später, endlich erschienen.

Es ist ein großes Buch, dick, feist, anmaßend: alle Probleme der Welt verhandelnd, Vergangenheit und Zukunft, das Kleine im Großen, Engagement und Distanzierung, das Erstaunen über die Gegenwart: „Alle schaukelten nach links, wenn der Zug nach rechts schlingerte, und nach hinten, wenn er bremste. ‚Das ist komisch‘, sagte er. ‚Wir sitzen alle im gleichen Zug und machen alle die gleiche Bewegung mit und fahren alle in die gleiche Richtung. Und doch will jeder woanders hin und steigt woanders aus. Und jeder ist woanders hergekommen.‘“

Werner Bräunig ist einer der schon erfolgreichen, aufsteigenden Arbeiterschriftsteller der DDR. Proletarische Herkunft, kaputte Familie, Heimerziehung, Gelegenheitsarbeiter in West und Ost, Schweißer, Fördermann in der Wismut, Papiermacher in Niederschlema, Gefängnis wegen Schmuggelns. Dann Genosse. Zweimal verheiratet, fünf Kinder. Oberassistent am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Schreibt Essays, Erzählungen, bekommt zwei Kunstpreise des FDGB. Er ist es, der 1959 den Text des Aufrufs der „1. Bitterfelder Konferenz“ („Greif zur Feder, Kumpel!“) formuliert: Arbeiter sollen ihre Literatur selber machen.

Aber nicht so. Bräunig wird vorgeworfen, er stelle die Geschichte der Wismut AG, des DDR-Uranbergbaus für die sowjetische Atomrüstung, falsch dar. Und in einem „Offenen Brief der Wismut-Kumpel“, zu Papier gebracht von ND-Kulturredakteur Klaus Höpcke (dem späteren stellvertretenden DDR-Kulturminister), heißt es: „Bergarbeiter sind nicht zimperlich. Eine harte Arbeit bringt oft auch harte Töne mit sich. Aber deine literarische Arbeit hat bis jetzt noch keiner von uns seiner Frau oder gar seinen erwachsenen Kindern zu lesen gegeben. [...] Wir empfinden sie ihrem Gehalt nach als eine Beleidigung unserer eigenen Frauen.“

Panoptikum einer untergegangenen Welt

Selbst wenn der Roman sexistisch wäre: Was könnte sexistischer sein, als „unsere eigenen Frauen“ vor ihm in Schutz zu nehmen? Die Kampagne gegen Werner Bräunigs unveröffentlichtes Werk hat komische und groteske Züge. Aber solche Kampagnen können im real existierenden Sozialismus für den Betroffenen existenziell sein.

Natürlich ist alles im Roman Fiktion; er erzählt nicht die „Geschichte der Wismut“. Das wird von Lesern überall auf der Welt immer gern verwechselt, wenn man glaubt, Personen entschlüsseln und wiedererkennen zu können. Und tatsächlich gibt es ja – 1965 – die DDR, die Sowjetunion, die Partei, die Pläne, die Wismut. Es gibt gute und schlechte Kommunisten, in der Realität wie im Roman. Damit ist allerdings nicht zu spaßen.

Für den heutigen Leser entfaltet Bräunigs Buch das Panoptikum einer untergegangenen Welt: die ganze DDR in den ersten Jahren ihres Bestehens. Fünf Jugendliche entwickeln sich zu mehr oder weniger nützlichen Gliedern ihrer Gesellschaft. Hoffnungen, Argumente, Sprüche, Einstellungen werden da lebendig, die nicht gleich vom Autor ein Etikett bekommen. Bräunig schreibt, was er hört und sieht. Also doch keine Fiktion, sondern gefährlicher „Skeptizismus“, wie die siegreiche SED-Linie (der Kulturminister wird ausgetauscht, es kommt: Klaus Gysi) diese literarische Haltung entlarvt.

Am Ende des Buches steht der 17. Juni 1953. Der gute Kommunist Hermann Fischer wird von aufgehetzten Arbeitern erschlagen. Was Werner Bräunig dann die Ärzte sagen lässt, erinnert an ein Gorbatschow-Zitat aus der Zukunft. Hier heißt es: „Die Ärzte bemühten sich. Aber es blieb zu spät. Es blieb zu spät. Hermann Fischer starb in den Abendstunden. Da war der Aufstand niedergeschlagen, ein paar Versprengte nur noch, in einigen Städten. Da war ein letztes schwaches Aufbäumen. Dann war es still. Der Arzt drückte dem toten Arbeiter die Augen zu.“

Werner Bräunig hat wie viele andere Schriftsteller und Intellektuelle in der DDR an die Möglichkeit eines besseren Sozialismus geglaubt. Deshalb wollte er als Mitglied der SED sagen, was ist, Fehler benennen, Kritik üben, Widerspruch aushalten, Neues wagen.

Es gibt sensible Romane aus diesen Jahren, die erscheinen dürfen, etwa Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“, oder später „Nachdenken über Christa T.“. Aber auch die Nationalpreisträgerin muss lavieren, Kompromisse schließen, wird beinahe krank davon.

Keine Kompromisse allerdings macht Christa Wolf, die Kandidatin zum ZK der SED, als auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees vom 16. bis 18. Dezember 1965 Erich Honecker im Bericht des Politbüros eine ganze Anzahl von Autoren, darunter Bräunig, an den Pranger stellt: „Leider hat sich in den letzten Jahren eine neue Art Literatur entwickelt, die im wesentlichen aus einer Mischung von Sexualität und Brutalität besteht. Ist es ein Wunder, wenn nach dieser Welle in Literatur, Film, Fernsehen und Zeitschriften manche Jugendliche nicht mehr wissen, ob sie richtig oder falsch handeln, wenn sie dort ihre Vorbilder suchen?“ Walter Ulbricht schließt sich dem an. Dagegen spricht dann Christa Wolf, unvorbereitet, erregt in eine feindselig-aggressive Umgebung hinein. Sie verteidigt „das freie Verhältnis zum Stoff“ und die Subjektivität des Künstlers. Danach ist sie krank, nicht zufrieden mit sich, aber froh, wenigstens etwas gesagt zu haben.

Jetzt, 42 Jahre später, hat sie ein Vorwort zum „Rummelplatz“ geschrieben. Weil es immer noch ein wichtiges Buch ist.

Werner Bräunig, Rummelplatz, Berlin: Aufbau-Verlag 2007, 768 Seiten, 24,95 Euro

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