Zwegat für alle!

Millionen von Zuschauern verfolgen Woche für Woche, wie TV-Schuldnerberater Peter Zwegat überschuldeten Menschen auf die Sprünge hilft. Die Popularität der Sendung verweist auf Defizite des deutschen Sozialstaates

Biggi Ü. ist 36 Jahre alt und mit dem 37-jährigen Ismael verheiratet, der früher einmal spielsüchtig war, seit Jahren arbeitslos ist und gerade halbherzig eine Umschulung zum Dreher macht. Die beiden haben zusammen fünf Kinder und insgesamt 160.000 Euro Schulden, davon allein 10.000 Euro Mietrückstände. Seit Monaten schon öffnen sie nicht mehr die Post – aus Angst vor neuen Rechnungen. Mittlerweile füllen die ungeöffneten Briefe mehrere große Plastiktüten.

Ein typischer Fall für Peter Zwegat, seit einem Jahr jeden Mittwoch im Einsatz als Schuldnerberater bei RTL. Zunächst arbeitet er, einsam und kopfschüttelnd an seinem Schreibtisch sitzend, den Postberg ab. Parallel vergibt er an die Familie mehrere Aufgaben, etwa die, ein Haushaltsbuch zu führen, um einen Überblick über die Ausgaben zu gewinnen. Es folgt der erste Höhepunkt der Sendung: die Auflistung der Schulden und die Einnahmen-Ausgaben-Gegenüberstellung an der Flipchart. Mit einem dicken Filzstift bewaffnet und um ein sorgenzerfurchtes Gesicht bemüht, vollzieht Zwegat das immergleiche Ritual. Neben größeren Schuldenproblemen, meist aus einem Haus- oder Geschäftskredit oder massiven Mietrückständen entstanden, summieren sich offene Handyrechnungen, Versandhaus- und Versicherungsschulden auf einen für die jeweilige Familie kaum zu schulternden Betrag.

Viele Zigaretten, horrende Handyrechnungen

Ähnlich kompliziert sieht es bei den Einnahmen und Ausgaben aus. Selten gibt es ein Erwerbseinkommen, meist addieren sich nur die Transferleistungen aus Arbeitslosengeld II und Kindergeld. Die Ausgaben übersteigen grundsätzlich die Einnahmen, weil bei den Einkäufen meist nicht auf die Preise geachtet wird. Hinzu kommen fast immer starker Zigarettenkonsum und horrende Handy- und Telefonrechungen. Bei Biggi und Ismael belaufen sich die Einnahmen aus Arbeitslosen-, Wohn- und Kindergeld auf 2.670 Euro im Monat, die Ausgaben liegen 1.200 Euro höher.

Nachdem Zwegat der Familie und dem Zuschauer die gesamte Tragik und Ausweglosigkeit der Situation vor Augen geführt hat, beginnt der zweite Teil der Sendung: Raus-aus-den-Schulden-mit-24-Stunden-Betreuung. Zwegat verhandelt mit Banken, Versandhäusern und Telekommunikationsunternehmen, fährt überall persönlich hin, stylt die Eheleute um und besorgt ihnen neue Jobs. Höhepunkt ist das Verhandlungsgespräch mit dem Hauptgläubiger in irgendeinem Hochhaus des Frankfurter Bankenviertels. Wenn alles nichts hilft, organisiert Zwegat die Privatinsolvenz. Natürlich gibt es in dieser Dramatik Rückschläge, aber am Ende gelingt es dem Mann von RTL immer, die Probleme zu lösen. Die Schlussszene: Familie Ü. steht winkend an der Wohnungstür, während Zwegat glücklich das Haus verlässt und der Kamera gesteht, dies sei – wieder einmal – sein schwerster Fall gewesen, aber wenn die Familie sich an seine Ratschläge halte, sei die Schuldenfalle besiegt.

Nach diesem Muster verläuft jede Raus-aus-den-Schulden-Folge auf RTL. Und jeden Mittwoch schauen knapp 5 Millionen Deutsche zu. Auch andere Lebenshilfe-Sendungen haben solche Einschaltquoten – etwa die Super-Nanny Katharina Saalfrank mit ihrer 24-Stunden-Kindererziehung (5 Millionen Zuschauer), das Erziehungscamp für straffällige oder drogenabhängige Jugendliche in der texanischen Wüste (4 Millionen Zuschauer) oder die Unternehmensberatersendung Hagen hilft auf dem Spartensender Kabel 1 (1,15 Millionen Zuschauer und damit deutlich über dem Senderschnitt). Beinahe jeder Fernsehsender leistet sich heute mindestens einen Berater, selbst der NDR übernahm den schmierigen, bei RTL 2 ausrangierten Anwalt Michael Requardt für eine Schuldensendung Der große Finanz-Check.

Lebenshilfe ist angesagt im deutschen Fernsehen, out sind Ratgeber alter Couleur. Wo früher Fernsehanwälte wie Wolfgang Büser Gesetzesberatung gaben, Pädagogen die beste Erziehung erklärten oder Finanzberater Wege aus den Schulden aufzeigten, müssen die Experten heute dahin, wo es wehtut: zu den Betroffenen. Generalisierende Erklärungen, die jeder erst einmal auf seine ganz individuelle Situation übertragen muss, will keiner mehr sehen. Direkte Hilfe, intensive Betreuung und am Ende eine möglichst umfassende Problembeseitigung (unabhängig davon, ob sie dauerhaft ist) – das ist bei den Zuschauern gefragt.

Sehnsucht nach mehr Sicherheit

Das Fernsehen übernimmt hier für einige Auserwählte eine Kernaufgabe des Sozialstaats: direkte, nichtmaterielle Hilfe in der Not. Marcel Reich-Ranicki würde diese Sendungen wohl einfach als „Blödsinn“ abtun. Aber Pauschalkritik hilft wenig weiter. Wer das Fernsehen verbessern will, muss auch die Frage stellen, warum Millionen Menschen Peter Zwegat zuschauen. Ist es nur Voyeurismus? Oder der Wunsch, das eigene Leben anhand des Vergleichs mit Menschen aufzuwerten, denen es schlechter geht? Oder wünschen sich die Deutschen am Ende gar einen Sozialstaat, wie ihn das Fernsehen vorspielt?

Umfragen zu den Einstellungen der Deutschen zum Sozialstaat sprechen eine klare Sprache. Nach einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2007 sind 66 Prozent der Deutschen der Meinung, der Staat müsse stärker eingreifen, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. Der Informationsdienst Soziale Indikatoren kam im Juli 2006 zu ähnlichen Ergebnissen: Rund 52 Prozent meinten, für die soziale Sicherung sei vor allem der Staat zuständig; nur 24 Prozent sahen in erster Linie die privaten Haushalte dafür verantwortlich. Nur 4 Prozent bringen den Leistungen des Arbeitslosengeldes II großes Vertrauen entgegen, 46 Prozent haben nur wenig, 24 Prozent überhaupt kein Vertrauen. Ähnlich sehen die Ergebnisse bei der Sozialhilfe aus.

Viel spricht also dafür, dass in den hohen Einschaltquoten der neuen Reality-Ratgeber-Sendungen eine weit verbreitete Sehnsucht nach mehr Sicherheit zum Ausdruck kommt; und eine Sehnsucht danach, an die Hand genommen zu werden. Viele Menschen wollen und können ihre Probleme – mit kaum noch erziehbaren Kindern oder überbordenden Schulden – nicht selbstverantwortlich lösen. Sie wollen direkte Beratung und Hilfe. Gefragt ist eine Politik des Kümmerns, gesucht sind Institutionen, die diese Politik in die Tat umsetzen. Doch wie müssten solche Institutionen aussehen? Und was müssten sie leisten?

Denkbar wäre die Schaffung einer Stelle, die diese Aufgaben bündelt: ein Sozialmanager. Über ihn könnten die Betroffenen alle ihre Ansprüche auf Sozialleistungen geltend machen. Er müsste mögliche Anspruchsberechtigungen prüfen, bei der Antragsausfüllung helfen und den Schriftverkehr mit den Ämtern regeln – quasi analog zu einem bezahlten Steuerberater, nur eben im Sozialrecht. Außerdem sollte er Lebenshilfe geben, dass heißt die Finanzen der Klienten ordnen, Tipps zur Haushaltsorganisation geben, bei Bewerbung und Jobsuche helfen. Gebraucht wird, kurzum, ein Peter Zwegat für jedermann. Um ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Sozialmanager und seinen Klienten zu gewährleisten, müsste er unabhängig vom Staat, aber öffentlich gefördert sein. Er kann bei den Freien Trägern angesiedelt werden, er kann aber auch ein freier Rechtsanwalt sein.

Rückt eine solche Politik des Kümmerns nicht stärker in den Mittelpunkt, dann tritt vielleicht jenes Szenario ein, das Katharina Super-Nanny Saalfrank vor kurzem bei Harald Schmidt präsentierte. Saalfrank erklärte, dass sie bei einigen ihrer Fälle am liebsten den Peter Zwegat gleich hinterherschicken würde: Fernsehsozialstaat aus einem Guss. Vielleicht beantworten die Deutschen in Zukunft die Frage, wer im Land für die soziale Sicherung zuständig sei, mit ähnlicher Emphase wie heute – nur mit anderem Adressaten. Die erste Antwort lautet dann: das Fernsehen.

zurück zur Person