Zusammenarbeit - so weit wie möglich. Gefahrenabwehr - so weit wie nötig

Wladimir Putins antiwestlicher Revisionismus löst kein einziges Problem des 21. Jahrhunderts, sondern macht Russland zum sicherheitspolitischen Risiko. Ändern wird sich dies erst, wenn die russische Führung ihr Verhalten ändert. Bis dahin sollten wir vor allem zur Stabilisierung der europäischen Ukraine beitragen

Manchmal sieht man aus der Ferne klarer. Vor einigen Wochen sprach ich mit chinesischen Ukraine- und Russland-Spezialisten. Ihre Analyse: Die Konflikte auf der Krim und in der Ost-Ukraine werden zu einer größeren Zäsur in der europäischen und internationalen Politik führen als die Terrorangriffe auf New York und Washington im Jahr 2001. Ich widersprach, weil es unser Ziel bleiben sollte, eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands zu etablieren. Aber die negativen Erfahrungen der vergangenen Monate lehren, dass dieses Ziel in die Ferne gerückt ist. Der Einschnitt in unseren Beziehungen zu Russland ist tief. Die negativen Entwicklungen der vergangenen Monate und Jahre resultieren weniger aus der westlichen Politik als vielmehr aus einer veränderten Innen- und Außenpolitik der russischen Führung.

Nach den friedlichen Revolutionen in Osteuropa, dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem überwiegend friedlichen Zerfall der Sowjetunion vertiefte und beschleunigte sich die gesamteuropäische Zusammenarbeit: Russland wurde in den Europarat aufgenommen und zum Partner von EU und Nato; Handel und Kulturaustausch nahmen zu; das Netz der gesamteuropäischen Beziehungen wurde dichter. Das Ziel einer Vollmitgliedschaft Russlands in EU und Nato war zwar nie realistisch, aber der Westen bemühte sich, wenn auch nicht konsequent genug, um eine engere Kooperation. Die Große Koalition begann im Herbst 2013 noch mit der Absicht, die Zusammenarbeit mit Russland durch neue Initiativen zu vertiefen. Doch die russische Politik hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Russlands Führung behauptet heute, ihre außenpolitische Neuorientierung sei eine Reaktion auf die westliche Politik. Ja, die Vereinigten Staaten und die EU haben Fehler im Umgang mit Russland gemacht. Aber diese Fehler rechtfertigen weder die Annexion der Krim noch die politische, militärische und finanzielle Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine.

Ähnlich wie häufig auch bei den Vereinigten Staaten liegen die Gründe für die außenpolitische Neuorientierung Russlands in der Innenpolitik: Präsident Wladimir Putin betrachtet den Zerfall der Sowjetunion nicht als historische Chance für den Aufbau eines modernen und demokratischen Russlands, sondern „als größte geostrategische Katastrophe der Neuzeit“. Putins Russland will international nicht als das Land anerkannt werden, das es heute ist, sondern als das, was es einmal war: ein mächtiges Imperium. Die nostalgischen Erinnerungen an die russische Größe zu Zeiten der Zaren, Stalins und Breschnews werden populärer. Das Streben nach Erhalt und Wiedergewinnung von Einflusszonen wird von den meisten Nachbarn als russischer Revisionismus wahrgenommen.

Was jetzt kommt, kann Jahrzehnte dauern

Demgegenüber wird die Verwestlichung des Landes als Bedrohung angesehen. Dies verbindet die gegenwärtige russische Führung geistig und politisch mit den antiwestlichen linken und rechten Rändern des europäischen Parteienspektrums. Solange die russische Führung von dieser Weltsicht geprägt ist, wird ihre Politik für das übrige Europa ein Problem bleiben. Das ist die Realität, von der wir ausgehen müssen. Aber unsere konstruktiven gesamteuropäischen Ziele bleiben bestehen.

Unsere Sympathie und Solidarität sollte deshalb den nach Demokratie strebenden Kräften in Russland gelten, auch wenn sie zurzeit eine Minderheit sind. Das Land kann nicht gegen den Willen seiner politischen Führung und erst recht nicht gegen den Willen der Mehrheit des russischen Volkes von außen verändert werden. Die Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik können den negativen Folgen der heutigen russischen Politik für die internationalen Beziehungen entgegenwirken. Bevor es aber zu einer tiefgreifenden Wende in der russischen Politik kommt, werden voraussichtlich Jahre – hoffentlich nicht Jahrzehnte – vergehen. In der vor uns liegenden Phase wird es nicht mehr um eine Politik der sich ergänzenden Kooperation und Integration gehen, wie sie bisher betrieben wurde. Stattdessen könnte das Motto für die nun notwendige Russlandpolitik lauten: Zusammenarbeit, wo möglich – Gefahrenabwehr, wo nötig.

Russland, die EU und die USA sollten punktuell weiterhin zusammenarbeiten, etwa bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm oder beim gemeinsamen Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus. Wenn die russische Führung die Vereinbarungen von Minsk einhält, sollten auch die Wirtschaftssanktionen wieder aufgehoben werden. Die Ukraine, Russland und die EU können die sicherheitspolitischen Bestimmungen des Minsker Abkommens nur gemeinsam verwirklichen, und sie müssen zusammen über mögliche negative wirtschaftliche Folgen des Assoziationsabkommens sprechen.

Der Krieg in der Ost-Ukraine sollte Anlass genug sein, die OSZE auszubauen und mit zusätzlichen Rechten zu versehen. Es sollte geprüft werden, ob in der Ost-Ukraine OSZE-Blauhelme eingesetzt werden können, die so ausgestattet sein sollten, dass sie ihren Einsatz auch in sicherheitspolitisch schwierigen Lagen fortsetzen können. Die bisherigen Vereinbarungen über die Ankündigung und Beobachtung von Manövern haben sich als unzureichend erwiesen. Ob die russische Führung zu einer Verbesserung der bisherigen Regeln und zu einer größeren Transparenz bei der Rüstungskontrolle bereit ist, sollte spätestens während des deutschen OSZE-Vorsitzes im Jahr 2016 ausgelotet werden. Dadurch würden in einer von Misstrauen geprägten Umgebung Elemente von kooperativer Sicherheit gestärkt.

Russland wird aufgrund seines Verhaltens heute von den meisten seiner Nachbarn als sicherheitspolitisches Risiko angesehen. Diese skeptische Einschätzung ist verständlich und wird erst wieder weichen, wenn die russische Führung nicht nur ihre Rhetorik, sondern auch ihr Verhalten ändert. Vor allem muss sie ihre Versuche beenden, die Ukraine zu destabilisieren. Nur so kann zerstörtes Vertrauen allmählich wieder aufgebaut werden. In einem auf diese Weise positiv veränderten politischen Umfeld, könnten Verhandlungen zwischen der EU und der Eurasischen Union erfolgreich sein.

Kalter Krieg? Der Begriff trifft die Lage nicht

Viele sprechen heute von einem neuen Kalten Krieg. Es ist verständlich, wenn in der öffentlichen Debatte auf Kategorien einer früheren Konfliktkonstellation zurückgegriffen wird, besser wäre es jedoch, wenn wir für die heutige Auseinandersetzung auch neue Begriffe und Konzepte entwickeln würden: Einerseits handelt es sich bei dem Konflikt in der Ost-Ukraine nicht um einen kalten, sondern einen heißen Krieg, der ohne die Unterstützung der Separatisten durch die russische Führung schon lange zu Ende gewesen wäre. Andererseits sind wir – im Unterschied zum Kalten Krieg – zumindest auf dem Papier durch gemeinsame friedenspolitische und demokratische Werte und Normen, wie die Charta von Paris, miteinander verbunden.

Weil Russland gegenüber der Ukraine eklatant gegen das Völkerrecht sowie gegen europäische Werte und Normen verstoßen hat, war es richtig, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates das Stimmrecht der russischen Delegation suspendiert hat. Wir sollten Institutionen, Verträge und Vereinbarungen, die den Westen mit Russland weiterhin verbinden, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Wenn Russland aber seinerseits dieses Netzwerk der Beziehungen beschädigt, werden wir den Schaden nicht einseitig beheben können.

Hinzu kommt, dass sich die militärische, wirtschaftliche und politische Lage in Europa heute fundamental von der während des Kalten Krieges unterscheidet. Das heutige Russland besitzt nach wie vor ein mit den USA vergleichbares Arsenal von Atomwaffen. In den vergangenen Jahren hat es seine militärischen Fähigkeiten zwar modernisiert. Doch vergleicht man alle der Nato zur Verfügung stehenden Potenziale mit den russischen Fähigkeiten, besteht eine eindeutige Überlegenheit der Nato. Diese Überlegenheit käme bei Konflikten mit Nato-Staaten in der unmittelbaren russischen Nachbarschaft zum Tragen. Auf gleichartige Sicherheitsgarantien können sich die kleineren Nachbarn Russlands, die nicht Mitglied der Nato sind, hingegen nicht verlassen. Das war schon im Georgien-Krieg so (den Georgien in falscher Einschätzung der Lage begonnen hatte), und das ist jetzt beim Konflikt in der Ost-Ukraine ähnlich. Hier wirkt die regionale militärische Überlegenheit Russlands, von der die unterstützten Separatisten profitieren.

In dieser Situation kann man mit jeweils guten Gründen sowohl für als auch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten. Dabei sollte aber unbestritten sein, dass die Ukrainer sich zu Recht bedroht fühlen. Deutschland hat gegen die Nato-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine ein Veto eingelegt. Umso mehr sollte sich Deutschland zusammen mit seinen Partnern um eine nicht-militärische Stabilisierung der Ukraine bemühen. Hierzu gehört die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Hilfe für die Ukraine und zu Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland.

Der ukrainische Verteidigungswille ist legitim

Allerdings wage ich vorauszusagen: Wenn sich die russische Führung und die Separatisten nicht an die Vereinbarungen von Minsk halten, werden die USA und einige europäische Nato-Staaten mit einer militärischen Unterstützung der Ukraine beginnen. Die deutsche Politik kann in Abwägung aller Risiken gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine sein. Man sollte aber nicht bestreiten, dass das Streben der Ukraine nach einer Verbesserung seiner Verteidigungsfähigkeit völlig legitim ist. Der Streit um taktische Mittel sollte die gemeinsame Strategie gegenüber Russland nicht gefährden.

Während des Kalten Krieges waren Deutschlands östliche Nachbarn sicherheitspolitisch an die Sowjetunion gebunden. Diplomatisch führten die Wege nach Warschau, Prag und Budapest häufig über Moskau. Beides hat sich grundlegend geändert. Heute verhalten sich manche unserer östlichen Nachbarn so, als lägen sie näher bei Washington als bei Brüssel. Dies ist weniger ein Ergebnis amerikanischer Strategien als vielmehr Folge des russischen Verhaltens. Deutschland sollte auch künftig keine Politik gegenüber Moskau betreiben, bei der die Interessen seiner östlichen und westlichen Nachbarn übergangen würden.

Schon während des Kalten Krieges war Russland fast nur bei Rohstoffen und im Bereich der Rüstungsexporte wettbewerbsfähig. Die weltweite Finanzkrise und die Eurokrise führten in den vergangenen Jahren zu einer Schwächung der EU und der Vereinigten Staaten. Russland dagegen wies hohe Wachstumsraten auf, und seine Währungsreserven nahmen zu. Angesichts dieser Lage hat die russische Führung ihre eigene Stärke überschätzt, die Stärke der USA sowie der EU hingegen unterschätzt.

Die Folgen dieser Fehleinschätzung werden in den nächsten Monaten immer spürbarer werden: Die Wirtschaft und die Währungsreserven Russlands schrumpfen, während die USA erhebliche Wachstumsraten vorzeigen können und sich die EU sowie die Eurozone – trotz der Probleme mit Griechenland – allmählich wieder erholen. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage Russlands ist dabei nur zu geringem Teil auf die westlichen Sanktionen zurückzuführen; die in den vergangenen Jahren versäumte Modernisierung der russischen Wirtschaft sowie der Verfall der Öl- und Gaspreise sind hier bedeutsamer. Diese beiden negativen Faktoren kann die russische Politik, selbst wenn die Sanktionen aufgehoben würden, nicht kurzfristig korrigieren.

Während des Kalten Krieges beanspruchte die von der Sowjetunion vertretene kommunistische Ideologie weltweite Geltung. Ihre Attraktivität ließ im Laufe der Jahrzehnte zwar nach, aber der globale Anspruch blieb bestehen. Heute wehrt sich die politische Führung Russlands erneut gegen den universalistischen Anspruch „westlicher“ Werte. Aber anders als zu Zeiten der Sowjetunion vertritt sie einen eher defensiven Ansatz, selbst wenn dieser medial offensiv propagiert wird. Ihre ideologische Positionierung besitzt eine gewisse Attraktivität für politische Gruppen am linken und am rechten Rand: Sie polemisieren gemeinsam gegen „den Westen“, vor allem gegen die USA und natürlich auch gegen die europäische Integration, den Euro und die Globalisierung. Das findet innerhalb der EU durchaus Beifall, manchmal bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Allerdings ist keines der aus diesem Sammelsurium von Ressentiments entstandenen Konzepte geeignet, die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Deshalb studieren die Kinder der russischen Elite auch lieber in den USA oder in den Mitgliedsstaaten der EU. Die Ideologie der russischen Führung wirkt nur dort, wo Russland Macht ausübt, und nicht etwa, weil sein Gesellschaftsmodell attraktiv wäre. Dies und nicht irgendeine großartige amerikanische oder europäische Strategie ist der wichtigste Grund dafür, dass auch russischsprachige Ukrainer eine europäische Orientierung ihres Landes unterstützen. Ihre EU-Ausrichtung ist nicht ethnisch, sondern politisch und wirtschaftlich begründet. Weil der Kreml dies weiß, hat er gegenüber der Ukraine auf militärische Macht und Destabilisierung gesetzt. Die EU sollte im Gegensatz dazu zur Stabilisierung der Ukraine beitragen und in eine Politik investieren, die Europas Attraktivität in den Augen der ukrainischen Bürger stärkt.

zurück zur Ausgabe