Fremde oder Freunde, wie wird alles sein?

Die NSA-Affäre belastet die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Wenn sie wenigstens im Ergebnis Gutes bewirken soll, müssen wir sie zum Anlass nehmen, jetzt eine breite Debatte über Zwecke und Grenzen geheimdienstlicher Tätigkeit zu führen

Angela Merkel war empört darüber, dass amerikanische Geheimdienste ihr Telefon abgehört haben. Diese Empörung verstehe ich. Die Bundeskanzlerin schien aber auch überrascht zu sein. Dann wäre sie naiv. Sie hätte nur führende Beamte zu fragen brauchen: Die meisten von denen, die an führender Stelle mit der amerikanischen Regierung verhandeln, rechneten damit, Ziel der amerikanischen Spionage zu sein. Und wenn nicht die amerikanischen Dienste spionieren würden, dann auf jeden Fall die Chinesen und Russen – und wahrscheinlich auch der eine oder andere Partner aus der Europäischen Union.

Bevor ich 1976 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, lud mich das State Department gemeinsam mit anderen Nachwuchspolitikern zu einer vierwöchigen Rundreise durch die USA ein. Ein Programmpunkt war ein Abendessen in den Räumen des renommierten außenpolitischen Think Tank CSIS. Der Gastgeber war ein sympathischer älterer Herr namens Cline. Als ich mich vorstellte, erwiderte er: „Sie brauchen sich nicht vorzustellen. Ich kenne Sie. Als Sie Bundesvorsitzender der Jusos waren, war ich der Repräsentant des CIA in Deutschland.“

Die Freiheit der Anderen? Nicht so wichtig

Damals erschrak ich. Später habe ich nüchtern zur Kenntnis genommen, dass die außen- und sicherheitspolitische Elite der USA eine positivere Grundeinstellung zu „ihren“ Nachrichtendiensten hat als viele ihrer deutschen politischen Partner. Wenn Kongressabgeordnete die Geheimdienste kritisierten, dann meistens wegen mangelnder Effektivität und weniger im Hinblick auf Zweifel an deren Legitimität – höchstens wenn Eingriffe in die Freiheitsrechte amerikanischer Staatsbürger befürchtet wurden. Nun haben einige Kongressabgeordnete die NSA für die Bespitzelung der Bundeskanzlerin kritisiert. Sie tun dies, weil sie in einer pragmatischen Abwägung zu dem Schluss gekommen sind, dass der so entstandene politische Schaden schwerer wiegt als die durch die Aktion beschafften zusätzlichen Informationen. Die Kritik bedeutet nicht, dass die Freiheitsrechte der Bevölkerung verbündeter Staaten in ihren Augen den gleichen Stellenwert haben wie die Rechte der Amerikaner.

In mehreren Mitgliedsstaaten der EU sieht man die Dinge ähnlich wie in den Vereinigten Staaten. Wenn Bundesregierung und Bundestag wollen, dass die amerikanischen Geheimdienste ihr Verhalten ändern, dann müssen sie auch die europäischen Partner von ihren Grundsätzen überzeugen. Die Bundesregierung sollte gemeinsame Richtlinien oder zumindest Minimalstandards für das Verhalten der Geheimdienste innerhalb der EU anstreben. Gemeinsame europäische Kriterien würden ihre Verhandlungsposition gegenüber der amerikanischen Regierung erheblich verbessern. In den aktuellen Verhandlungen mit den USA wäre es ein großer Erfolg, wenn die Amerikaner sich verpflichten würden, die Daten deutscher Staatsbürger künftig in gleicher Weise zu schützen wie die ihrer eigenen Bevölkerung.

Wie bitte? 1 000 Mitarbeiter? In einem Konsulat?

Zur Zeit der Studentenbewegung war ich Vorsitzender des Ortsvereins Westend der Frankfurter SPD. Damals saßen im Westend der Bundesvorstand des SDS, das Institut für Sozialforschung als Zentrum der Frankfurter Schule, aber auch das amerikanische Generalkonsulat. Direkt neben dem Walter-Kolb-Wohnheim, in dem die meisten studentischen Aktionen geplant wurden, befand sich das Büro eines amerikanischen Geheimdienstes. Mit der Wiedervereinigung änderte sich der Auftrag der amerikanischen Truppen ebenso wie der Auftrag der amerikanischen Geheimdienste. Diese dienten nun zunehmend der geheimdienstlichen Unterstützung von Militäreinsätzen. Die Mitarbeiter der Geheimdienste und anderer amerikanischer Einrichtungen wurden dem amerikanischen Generalkonsulat in Frankfurt zugeordnet, das auf ungefähr 1 000 Mitarbeiter anwuchs. Viele der dortigen Mitarbeiter haben heute den Status von Diplomaten oder eines diplomatischen Gefolges. Selbst wenn die Einzelheiten ihrer Tätigkeit geheim sind, ahnt man, dass sich ein Generalkonsulat mit etwa 1 000 Mitarbeitern nicht auf die Wahrnehmung der üblichen Pflichten eines Generalkonsulats und territorial nicht auf das Rhein-Main-Gebiet beschränkt.

Mir als Frankfurter SPD-Abgeordnetem war dies klar. Deutsche Politiker sollten sich in Bezug auf die amerikanische Spionage selbstkritisch fragen, ob sie wirklich alles wissen wollten, was sie jetzt empörend finden. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten ihren deutschen Partnern das Recht auf eine umfassende Kontrolle der geheimdienstlichen Planungen und Operationen einräumen. Aber selbst wenn sie dies täten, hätte das den Nachteil, dass wir faktisch zu einem Teil der amerikanischen Planungen und Operationen werden würden. Hier müssen Vorteile und Nachteile sorgfältig abgewogen werden.

Einige Politiker fordern den Abzug aller geheimdienstlichen Installationen der USA aus Deutschland. Nach meiner Einschätzung würde dies unseren Interessen mehr schaden als nutzen. Einem formellen Gewinn an Souveränität stünde ein faktischer Verlust an Einfluss gegenüber. In Bezug auf den Irak-Krieg verlief Gerhard Schröders Abwägung ähnlich: Sein Nein zum Krieg war eindeutig – trotzdem erlaubte er den Vereinigten Staaten, ihre Stützpunkte und den deutschen Luftraum zu nutzen.

Auf der Basis einer selbstkritischen Prüfung brauchen wir eine Debatte darüber, wo wir eine enge Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten für sinnvoll erachten und wo nicht, welche Kriterien für eine solche Zusammenarbeit gelten müssen, wo die Grenzen einer solchen Zusammenarbeit liegen, welche Grenzen wir Geheimdiensten verbündeter Staaten in Deutschland setzen wollen – und wie wir erreichen, dass diese Grenzen eingehalten werden. Auch in der Außen- und Verteidigungspolitik gibt es viele geheime Bereiche. Trotzdem führen wir unter der Beteiligung von Universitäten, Instituten, den Medien und der Politik eine öffentliche Debatte über ihre Grundsätze, Ziele und Instrumente. Eine derartige demokratische Debattenkultur ist auch auf dem Gebiet der Nachrichtendienste vonnöten.

Und trotzdem: Zusammenarbeit bleibt sinnvoll

Die Streitkräfte der USA unterscheiden sich in Bezug auf ihren Auftrag und ihre Leistungsfähigkeit erheblich von den europäischen. Die Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Nachrichtendiensten sind noch größer als die im militärischen Bereich. Im Vergleich zu den USA hat Deutschland begrenztere Interessen, die einen effektiven, jedoch keinen riesigen Nachrichtendienst erfordern. Und auch unsere politische Kultur und die deutsche Rechtsordnung verbieten, dass die deutschen Dienste wie die amerikanischen operieren.

Andererseits bedrohen manche Risiken Deutschland und die USA prinzipiell in gleicher Weise: der internationale Terrorismus, der internationale Drogenhandel, die zunehmende Cyber-Kriminalität oder die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Eine enge Zusammenarbeit der europäischen und der amerikanischen Nachrichtendienste bleibt sinnvoll und geboten.

Diese Zusammenarbeit beruht auf einer asymmetrischen Grundlage: Einerseits ist der deutsche Nachrichtendienst wegen der größeren Leistungsfähigkeit der amerikanischen Dienste stärker auf die Zusammenarbeit angewiesen als die Amerikaner. Andererseits unterscheiden sich die Dienste erheblich in ihren Methoden und Aufgaben. Die Aufgabe des BND besteht vor allem darin, Nachrichten zu beschaffen und zu analysieren. Dies tun die amerikanischen Dienste auch. Aber darüber hinaus haben sie eine lange – und durchaus problematische – Tradition von verdeckten Operationen bis hin zur Destabilisierung und zum Sturz ausländischer Regierungen.

Diese Unterschiede haben seit den Terroranschlägen auf New York und Washington erheblich zugenommen. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Vereinigten Staaten erhebliche Mittel in die Entwicklung neuer nachrichtendienstlicher Techniken investiert. Ihre Geheimdienste haben Fähigkeiten entwickelt, die die USA und ihre Bürger schützen sollen, die aber zugleich die Souveränität und die Freiheitsrechte anderer Staaten und ihrer Bürger, und häufig sogar die Freiheitsrechte amerikanischer Bürger gefährden. Dass sich gegen diese Entwicklung in den Vereinigten Staaten so wenig Protest erhebt, liegt an den politischen und psychologischen Konsequenzen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Seitdem hat sich die politische Kultur in den USA viel mehr verändert als in Europa. Was die schwierige Balance zwischen „Sicherheit“ und „Freiheit“ betrifft, haben sich in den USA die Gewichte auf die Sicherheit verlagert – zulasten der Freiheit.

Das Bewusstsein der eigenen technischen Möglichkeiten, verbunden mit dem Gefühl einer ständigen Bedrohung, hat auch die Sensibilität geschwächt, wenn es um völkerrechtliche Normen geht: Wenn bewaffnete Drohnen eingesetzt werden, um Terroristen zu bekämpfen, so wird die überwiegende Mehrheit des Kongresses dies unterstützen. Trotzdem sollte kritisch gefragt werden, ob der Kampf gegen den Terrorismus nicht eher mit polizeilichen als mit militärischen Mitteln geführt werden sollte, ob die Tötung unbeteiligter Zivilisten ein unvermeidlicher „Kollateralschaden“ ist, und ob die Verletzung der Souveränität anderer Staaten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus legitim ist.

Anders als der BND verfügt der CIA über eigene militärische Fähigkeiten, bei deren Einsatz im Vergleich zu den übrigen Streitkräften eine verringerte parlamentarische, öffentliche und rechtliche Kontrolle besteht. Das gilt auch in den Fällen, in denen die USA auf private Sicherheitsfirmen zurückgreifen. Diese übernehmen Funktionen, die nach deutschem Verständnis einer staatlichen Polizei oder dem Militär vorbehalten bleiben sollten. Ich habe den offensiven Einsatz einer zerstörerischen Software gegen iranische Nuklearanlagen für richtig gehalten. Das ändert aber nichts daran, dass sich bei einem solchen Einsatz zu Friedenszeiten legitime politische und völkerrechtliche Fragen stellen, die nicht einfach wegen eines Gewinns an Sicherheit beiseitegeschoben werden dürfen.

Finden diese kritischen Fragen und Einwände ein Echo in den USA? In einem begrenzten Umfang ist dies der Fall. Vor allem in den vergangenen Wochen sind kritische Fragen lauter geworden. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Die Sicherheitsvorsorge spielt in den USA weiterhin eine wesentlich größere Rolle als in Deutschland. Deshalb werden deutsche Einwände in den USA nur dann mehr Gehör finden, wenn zugleich Antworten auf die in den USA vorherrschenden sicherheitspolitischen Fragen geliefert werden.

Geheimdienste folgen ihrer eigenen Logik

Viele meiner Freunde auf beiden Seiten des Atlantiks hoffen, dass sich das Pendel in den USA, das nach dem 11. September zu sehr in Richtung „Sicherheit“ ausschlug, jetzt allmählich wieder in Richtung „Freiheit“ bewegen wird. Dafür spricht viel. Die USA haben eine lange freiheitliche Tradition. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Amerikaner ist größer als das der Deutschen. Die amerikanischen Medien haben immer wieder bewiesen, dass sie nicht davor zurückschrecken, Fehlentwicklungen und Missstände im eigenen Land anzuprangern.

Doch es gibt kein historisches Gesetz, das eine Veränderung der politischen Kultur garantieren könnte. Der schon von Präsident Dwight D. Eisenhower kritisierte militärisch-industrielle Komplex ist durch einen „geheimdienstlichen Komplex“ ergänzt worden. Die Geheimdienste sind nicht nur ein Instrument der Politik, sondern folgen häufig ihrer eigenen Logik. Und dass die USA diesen Bereich weltweit immer noch dominieren, verringert die Bereitschaft, sich selber Fesseln anzulegen. Das gilt nicht nur für die Geheimdienste, sondern auch im Umgang mit privaten und wirtschaftlichen Daten.

Dennoch sind die Verhandlungen mit den USA über ein „No-spy-Abkommen“ und ein Datenschutzabkommen sinnvoll. Sie könnten dazu führen, dass im Verkehr zwischen den transatlantischen Partnern gewisse Minimalstandards eingehalten werden. Dabei muss die Einhaltung von Absprachen kontrolliert werden. Die deutsche und europäische Politik und Wirtschaft sollten sich vor Spionage und Datenmissbrauch besser schützen. Dasselbe gilt für jeden einzelnen Bürger. Denn selbst wenn sich unsere amerikanischen Partner an alle Vereinbarungen halten sollten, so bleibt die Gefahr durch andere Staaten oder durch kriminelle Aktivitäten bestehen. Auch um ihnen begegnen zu können, benötigen wir weiterhin eine enge transatlantische Zusammenarbeit der Nachrichtendienste.

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