Zupackend, aber deutungsschwach: Der erste Kanzler der Berliner Republik und sein Küchenkabinett



Studenten der Politikwissenschaft werden, wenn sie einigermaßen seriös studieren, irgendwann im Grundstudium in die Struktur des Regierungssystems der Bundesrepublik eingeführt. Sie hören dann vom Parlament, von der Kanzlerdemokratie, von Ministern, vom Bundesrat, vom Föderalismus, von Verbänden, natürlich vom Grundgesetz. Und so weiter. Aber sie erfahren aller Wahrscheinlichkeit nie etwas über „Küchenkabinette“. Denn „Küchenkabinette“ kommen in der Verfassung nicht vor. In der gouvernementalen Realität jedoch bilden sie das Zentrum der politischen Entscheidungen, ja: der politischen Macht. Natürlich finden die wichtigsten Diskussionen, die ein Kanzler führt, nicht im Parlament statt, auch und erst recht nicht im Bundeskabinett, sondern im Kreis der vier oder fünf oder sechs intimsten Berater. Eben in seinem „Küchenkabinett“. Wenn dieses vertraute „Küchenkabinett“ im Laufe der Jahre – durch den enormen Kräfteverschleiß in der Zentrale der Macht – zerfällt, dann geht es in der Regel auch mit den Kanzlerschaften rasch zu Ende. Als sich die Herren Blankenhorn und Hallstein in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre aus Bonn zurückzogen, wurde es einsam um Konrad Adenauer – und seine Fehler häuften sich. Als Willy Brandt Ende 1972 auf Conny Ahlers und Horst Ehmke verzichten musste, begann die Kanzlerdämmerung. Als Helmut Schmidt nach den Bundestagswahlen 1980 ohne sein altes „Küchenkabinett“ dastand, gelang ihm kaum noch etwas. So setzte sich das fort.

Schröder weiß: Andere kennen sich besser aus

Also lohnt es sich vielleicht, einen knappen Blick auf das erste Küchenkabinett der Berliner Republik, auf den Beraterzirkel von Gerhard Schröder zu werfen. Wie agiert dort der Kanzler? Wie beratungsoffen verhält er sich? Was sind die Stärken, was die Schwächen in diesem Arkanum sozialdemokratisch geführter Macht?


Es gab jedenfalls ganz gewiss schlechtere Zeiten für Kanzlerkonsultanten als die Ära Schröder. Denn eine entscheidende Grundvoraussetzung für politische Beratung ist, dass derjenige, der beraten wird, auch akzeptiert, dass er Beratung braucht, also über die nüchterne Einsicht verfügt, dass er von etlichen Dingen dieser Welt nicht hinreichend viel oder auch gar nichts versteht. Nicht jedem Politiker fällt dieses Eingeständnis eigener Grenzen und Defizite leicht. Oskar Lafontaine, nebenbei, gehört zu diesem Typus Politiker, der sich selbst für schlau genug hält. Gerhard Schröder hingegen hat stets freimütig vorausgesetzt, dass es andere gibt, die sich besser auskennen. Das pflegte er stets zu nutzen. Die letzte politische Entscheidung lag dann doch bei ihm, dem Chef der Regierung. Und für diese Entscheidungssituation verließ und verlässt sich Schröder bekanntermaßen ganz auf sich, auf seine berühmt-berüchtigte Intuition, seine Nase, seine – wie viele Bewunderer sagen – untrügliche Witterung. Natürlich, je länger Kanzler im Amt verweilen, desto apodiktischer, ja starrsinniger sind sie von ihren Instinktentscheidungen überzeugt. Sie nehmen dann von Beratern nichts mehr an – und spätestens dann ist ihr Abstieg und Scheitern nicht mehr aufzuhalten. Man konnte es, von Adenauer bis Kohl, konstant und verlässlich beobachten. Und man ahnt, dass Schröder wohl nicht die Ausnahme bilden wird.


Doch ganz so weit ist es noch nicht. Schröder ist – seine journalistischen Biografen haben es häufig genug festgehalten – ein auditiver Typ. Er lernt am besten also beim Zuhören, nicht bei der Lektüre. Der Kanzler holt sich seine Mitarbeiter, Beamten, auch seine Minister gerne in sein Büro und lässt sich dort dann vortragen. Die Berichte müssen, will man den Kanzler nicht verärgern, kurz, knapp, klar und pointiert sein. Aber das war bei den Kanzlern zuvor nicht anders. Weitschweifige Schwadroneure waren bei keinem Regierungschef gut angesehen. Schröder ist ein guter Rezipient. Seine quicke Auffassungsgabe wird oft und viel gerühmt. Dagegen liest er nicht gerne. Mehr als zwei Seiten Text sind ihm als Vorlage schwer zuzumuten. Das wird häufig ironisch erzählt. Aber auch das ist so ungewöhnlich nicht. Die Kanzler vor Schröder hatten ebenfalls keine Zeit für ausführliche, reflexionsüppige, detailgefüllte Exposés. Allerdings waren Adenauer und Schmidt, übrigens auch Brandt, bessere Aktenverwerter als Schröder. Schmidt liebte die Akten; Schröder sind sie – wie Erhard, Kiesinger und Kohl – ein Gräuel.


Bei Schröder sind die Arbeitsvorgänge noch informeller geregelt als bei seinen Vorgängern. Die „Morgenlage“ etwa, die bei Kohl noch an allen Arbeitstagen der Woche stattfand, kommt unter Schröder seltener zusammen. Überhaupt ist Schröder kein Mann für Morgenlagen. Die kommen ihm zu früh; da ist er nicht recht ausgeschlafen, da ist er noch mürrisch und maulfaul. Doch kannte man dergleichen Morgenmuffeligkeit auch von anderen Kanzlern. Unter Schröder sind die Hierarchien eher flach, sind Sitzungen, Treffen und Zusammenkünfte eher nonchalant geregelt. Man arbeitet weitgehend auf Zuruf, soll selbst erspüren, was wichtig ist, was der Kanzler gerade braucht. Die Mitarbeiter haben also Spielraum, arbeiten selbständig und müssen sich doch durch Ergebnisse und Effizienz am Ende vor dem Kanzler rechtfertigen.

Der Kanzler ist „der Gerd“

Der Kanzler braucht sein Küchenkabinett, nicht nur wegen der kognitiven Beratungsvorteile. Sein Umfeld ist auch psychisch wichtig für ihn. Schröder weist in dieser Beziehung weit mehr Ähnlichkeiten mit dem ihm vorangegangenen christdemokratischen Regierungschef auf als mit dem letzten sozialdemokratischen Kanzler. Auch Kohl war kumpelhaft zu seinen Leuten, auch Kohl zog Kraft aus den geselligen Zusammenkünften mit ihnen. Im Grunde setzt Schröder das fort. Er duzt sich mit den meisten seiner engsten Mitarbeiter. Der Kanzler ist „der Gerd“. Und die anderen sind ein bisschen Family für ihn, sind sein Hort, in dem er sich geborgen fühlt. Schröder ist ein Machtmensch, aber er ist – wie viele Machtmenschen – oft genug sentimental, ist anlehnungsbedürftig, sucht schon auch Wärme. Helmut Schmidt konnte stundenlang für sich in seinem Zimmer über Akten brüten, Schröder hält so viel Einsamkeit nicht aus. Er kann das Alleinsein nicht ertragen. So kreuzt er immer wieder in den Büros seiner Mitarbeiter auf, nimmt sie mit in Restaurants, auch zu der sprichwörtlichen Currywurst. Er braucht jemanden zum Reden, benötigt Umgebung. Doch ob er auch nur einen davon, mit denen er tagtäglich zusammenkommt und die sich in langen Arbeitszeiten für ihn aufreiben, als Freund ansieht? Das – Freundschaft in der Politik – ist ein weites, sicher heikles, gewiss hoch interessantes, von einer sterilen akademischen Politologie allerdings merkwürdig ausgespartes Feld; in diesem knappen Essay können wir es leider nicht betreten und näher erkunden.


Gleichviel, die Mitarbeiter im Umfeld des Kanzlers – von Steinmeier bis Steg – passen gut zusammen, und sie passen gut zum Kanzler. Sie sind ähnlich gestrickt, sind politisch weitgehend gleichen Sinnes. Sie würden sich wohl allesamt als Pragmatiker bezeichnen. Liebhaber „großer Erzählungen“ lassen sich in diesem Kreis schwerlich finden. Ihre Grundhaltung gegenüber den Möglichkeiten der Politik ist eher skeptisch. Vergnügen bereitet es ihnen, schmale Pfade der Machbarkeit zu finden, überraschende Gelegenheiten beherzt zu nutzen, den politischen Gegner mit schlitzohrigen und überfallartigen Manövern zu über- rumpeln. Sie bewundern ihren Kanzler und Chef für seinen Instinkt in dieser Hinsicht, für seine Härte, Verwegenheit und Entschlossenheit in schwierigen Situationen. Sie sind dann in diesen Momenten seine Techniker, Vorbereiter, Organisatoren, Administratoren, Sherpas. Keiner von ihnen indes will sich als Vordenker sehen.


Es mag sein, dass gerade ein solcher dort fehlt. Gewiss, angesichts der Vielfalt an Problemen, mit denen Schröder zu tun hat, ist seine Kanzlerschaft trotz aller medialer Katastrophenmeldungen, die periodisch zirkulieren, bemerkenswert robust. Schließlich regiert er nicht zufällig länger als, mindestens, Erhard, Kiesinger und Brandt. Für diesen robusten Stellungskrieg des gewöhnlichen Kanzleralltags hat der Regierungschef eine gut aufeinander eingespielte Truppe zusammen. Und doch hatte man vom ersten Tag der Kanzlerschaft Schröder das Gefühl, dass da etwas fehlt, was man – mag sein: etwas pathetisch – als eine weitreichende Begründung der Regierungsära, eine spezifische Aura, eine Sinn stiftende Leitidee, einen epocheprägenden Zielbegriff bezeichnen könnte. Typisch ist der missglückte Terminus „Agenda“. Er symbolisiert im Grunde nichts, ist rein technisch, vermittelt keine Bilder, birgt keine politische Wertvorstellung. Wohl hat sich der Begriff nach achtzehn Monaten Dauererwähnung in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen eingebürgert, aber kreative gesellschaftliche Energien und lustvolle Experimentierfreude hat er erkennbar nicht freigesetzt.

Pragmatismus ohne ideelle Fassung

Der Kanzler selbst ist, natürlich, für Spiritualitäten nicht geschaffen. Aber es gibt auch sonst niemanden in seinem Küchenkabinett, der die Regierungspolitik und Regierungszeit ethisch und kulturell zu fundamentieren vermag. Dem Pragmatismus fehlt dadurch die konzeptionelle Richtschnur, die ideelle Fassung, der orientierende Fluchtpunkt, ein faszinierendes, mentalitätskonstituierendes Credo. Vielleicht ist das Schrödersche Küchenkabinett zu eng geschnitten, zu konsistent zusammengefügt. In guten Küchenkabinetten sollte immer mindestens einer sein, der dezidiert anders ist als der Kanzler selbst, der komplementär über Fähigkeiten und Tugenden verfügt, die dem Regierungschef ganz und gar abgehen. Ein solcher aber scheint zu fehlen in Schröders engster Umgebung. Man ist einander im prosaischen Pragmatismus zu innig verbunden. Gewiss, Kanzler dürfen sicher nicht – wie Willy Brandt in seinem letzten Kanzlerjahr – zu viele prätentiöse Zukunftsdeuter, zu viele wolkige Sinnstifter, zu viele philosophierende Literaten in ihrer Umgebung haben. Aber fehlt dieser Typus in Gänze, dann wirkt eine Kanzlerschaft wahrscheinlich doch spirituell, sprachlich und geistig zu dürr, programmatisch zu sehr entleert.


Man mag das mittlerweile für übertrieben halten, angesichts des leichten Stimmungsaufschwungs für die regierenden Sozialdemokraten. Aber der SPD und der Regierung nutzt derzeit vor allem, dass die Union der Frau Merkel und des Herrn Stoiber ebenfalls nicht geschlossen vorgeben kann, was sie will, wohin sie möchte, wie – ökonomisch, sozial, kulturell – das christdemokratische Leitbild in einer nachchristlichen, individualisierten, entstrukturierten Gesellschaft denn eigentlich präzise aussieht. Das, unter anderem zumindest, hat die Krise in der CDU zum Ausbruch gebracht. Dadurch wurde die Norm-, Begründungs- und Zielkrise der sozialdemokratisch geführten Regierung vorübergehend überdeckt, gelöst ist sie deshalb aber noch längst nicht. In wenigen Monaten schon wird davon gewiss wieder aufgeregt, auch hämisch die Rede sein. Allein mit instinktsicherer Kanzlerwitterung und der stilisierten Pose unerschütterlicher Standfestigkeit wird dann abermals nicht zu kompensieren sein, was an Deutungssubstanz und Leitperspektive nach wie vor elementar fehlt. Und dann wird man im Kanzlerumfeld zweifellos mehr und andere brauchen als nur und einzig die routinierten Maschinisten der Macht.

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