Zu Hause im Westen

Das Türkeibild der Deutschen ist geprägt von ihrer Wahrnehmung der "Gastarbeiter", die seit Jahrzehnten hier im Land leben. Wer aus der Türkei des 21. Jahrhunderts nach Berlin übersiedelt, muss daher auf manche Kulturschocks gefasst sein

Mein Kindheitsbild, alle Deutschen seien wie Heidi und Peter, änderte sich schnell nach meiner ersten Note – einer Null – an der Deutschen Schule Istanbul, wo ich im Alter von 11 bis 19 acht lange Jahre mit weiteren ausgewählten Kindern lernen durfte. Wir mussten einen schwierigen Test bestehen, um auf diese internationale, traditionelle, private und harte Schule zu gehen. Um später Absolventen mit Abitur und türkischem Abschlusszeugnis zu sein. Um im frühen Alter mehrere Sprachen zu beherrschen. Und um uns als globale Bürger in die globalisierte Welt zu integrieren.

Nach mehreren Schüleraustauschen mit Deutschland war ich mir sicher: Ich würde in Deutschland keinen Kulturschock erleiden. Doch ich irrte mich erneut. Meinen doppelten Kulturschock überwinde ich erst jetzt. Nicht nur, um die Investition meiner Eltern in meine globale Bürgerschaft zu retten. Sondern auch, weil ich mich nach etwa zwei Jahren in Berlin daran gewöhnt habe, mich nicht sofort aufzuregen, wenn es wieder einmal um die Bilder vom „typischen Türken“, vom „typischen Deutschen“ und vom „typischen Deutschtürken“ geht.

Ein Temperaturschock ist vielleicht kein Kulturschock, aber für mich war er ein Grund für mein Heimweh – und auch ausschlaggebend dafür, an meinem ersten Tag in Berlin im Januar 2006 die Idee meines Freundes zu akzeptieren: „Lass uns nach Klein-Istanbul fahren!“

Kreuzberg ist heute für mich eine der coolsten Ecken in Berlin. Beim ersten Mal jedoch konnte ich nur daran denken, wie wenig dieses Viertel mit meiner Stadt zu tun hat. Nicht nur, weil der wunderschöne Bosporus oder der Blick auf die Prinzeninseln fehlten. Es waren die andere Kleidung, die vermischte Sprache (der ich oft schwer folgen konnte) und die Namen der Läden, die manche der Besitzer sogar nach dem türkischen Wort für Heimweh benannt hatten. Kein einziger Ort, keine einzige Gegend in Istanbul fiel mir ein, die eine Ähnlichkeit mit diesem „Klein-Istanbul“ aufwiese.

Mein erster Eindruck von Berlins Istanbul ähnelte höchstwahrscheinlich dem, den viele Deutsche zunächst haben. Die meisten von ihnen haben aber keine Ahnung von Istanbul und wissen nicht einmal, dass das, was man hier Döner nennt, ganz anders ist als bei uns. Wir essen Döner ohne Käse und all diese Soßen, und vor allem liegt es nicht unbedingt in einem Riesenbrot! Die auf meinen Dönerschock folgenden Dönerseminare waren aber das Unwichtigste von allem.

„Du siehst aber nicht türkisch aus“

In den wichtigeren „Die-Türkei-im-Überblick“-Gesprächen ging es um mein Aussehen, meine Herkunft, meine Familie, meine Sprachkenntnisse und meine Religion. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in den vergangenen zwei Jahren gehört habe: „Du siehst aber nicht türkisch aus.“ Viel eher sei ich Italienerin, Französin, Spanierin oder Brasilianerin. Offenkundig entspreche ich nicht dem Türkinnenbild, das man in Kreuzberg, Wedding oder Schöneberg-Nord gewöhnt ist.

Eine Türkin ohne Kopftuch, ohne harten Akzent und ohne Migrationshintergrund – ob es das gibt? Wie eine deutsche Freundin mir einmal ohne groß zu überlegen sagte: „Du gehörst zur Elite der Türkei.“ Und das, obwohl sie noch kein einziges Mal in der Türkei gewesen war. Ihre Hypothese gründete auf meiner Herkunft aus Istanbul. „Istanbul? Ach, Istanbul ist eine westliche Stadt.“

Was man in Deutschland unter einer westlichen Stadt versteht, weiß ich bis heute nicht genau. Falls Istanbul westlich ist und Kreuzberg die kleinere Version von Istanbul, wo liegt dann das Problem? Warum sollte man versuchen, die Menschen aus einer westlichen Kultur in eine andere westliche Gesellschaft zu integrieren? Liegt es an der klischeehaften Wahrnehmung Istanbuls? Oder Kreuzbergs? Oder an der Definition des Begriffs „Westen“?

Kann der „Durchschnittstürke“ urban sein?

Die aufgeklärte Kultur des urbanen Lebens ist das, was die Leute hier meiner Meinung nach als „westlich“ bezeichnen. Sie steht im Zentrum der Theorien, die ich zu hören bekomme. Eine weltgewandte (groß)städtische Lebensart entspricht einfach nicht dem Bild des „Ghettotürken“, das in der geistigen Schublade steckt. Kann denn der „durchschnittliche Türke“ urban sein? Vielleicht war das die Frage, die sich ein Redakteur der Bregenzer Lokalzeitung unbewusst stellte, als er über den Schüleraustausch meiner Schwester und ihrer Schule mit einem örtlichen Gymnasium berichtete. Der Titel lautete: „Sie sind wie wir.“ Diese Theorien, die so gar nicht dem Selbstbild eines progressiven, sich hinterfragenden, individualistischen Europa entsprechen, erscheinen mir schlechter als Vorurteile. Sind Vorurteile nicht letztlich nur Hypothesen?

In einer Hinsicht jedoch hatte man Recht: Istanbul ist eine „westliche“ Stadt – eine Stadt, in der ich die „europäischeren“ Gespräche hatte.

Jetzt habe ich Angst davor, meine eigenen Vorurteile über „den Deutschen“ zu entwickeln. Heute bin ich so weit, jemanden schon für weltoffen halten zu können, wenn er nicht sofort annimmt, mein Vater verprügele mich und vor meinen Brüdern müsse man Angst haben – dabei habe ich gar keine. Und nein, mein Vater hat auch keine Komplexe, weil er keinen Sohn, sondern zwei Töchter hat. Aber das ist nicht einmal die Erklärung dafür, warum er uns nicht verprügelt ...

Der friedliche Name meines friedlichen Vaters steht auch auf meinem Pass, den man bei der Passkontrolle lange unter der winzigen Lupe untersucht. Diese genaue Untersuchung wie auch das Visum, das ich als nicht EU-Studentin besaß, sind aber nicht immer ausreichend. Um zu beweisen, dass ich nicht gekommen war, um dem „Deutschlandtraum“ nachzujagen (gegen den der „American Dream“ naturgemäß verblasst), sondern tatsächlich, um zu studieren, musste ich auch meinen Studentenausweis vorzeigen. Und dies, während sich die Polizisten bei der Kontrolle unbändig über mein biometrisches Foto und die eingeschränkte Arbeitserlaubnis in meinem Pass amüsierten: „Guck mal, 180 halbe Tage darf sie arbeiten. Ha ha!“

Wer prägt das Türkenbild der Deutschen?

Ein anderer Zollbeamter hat mich später gelehrt, dass es bereits viel verlangt ist, die Beachtung von Höflichkeitsregeln zu erwarten – etwa dass man nicht mit dem Finger auf jemanden zeigt oder sich über eine deutsche Arbeitserlaubnis lustig macht. Er wollte sich die Augenbrauen einer türkischen Frau genauer anschauen, da ihre Augenbrauen jetzt anders aussahen als auf ihrem Passfoto. Sie, die ihren Deutschlandtraum schon längst verwirklicht hat, versuchte ihm mit Körpersprache – und vergeblich – zu erklären, dass ihre Augenbrauen dünner geworden seien. Heute finde ich es nicht mehr überraschend, wenn ich höre, dass meine Freunde bei ihrem Besuch zeigen müssen, ob sie genug Geld und ein Rückflugticket haben.

Andererseits liegt es auf der Hand, dass jene, die ihren Deutschlandtraum fast nur mit Körpersprache verwirklicht haben, zu den Gründen dafür gehören, dass ich über zwei Monate auf mein „witziges“ Visum warten musste. Genau wie mir das Hinweisschild am Flughafen unvergesslich bleibt, das auf Türkisch erklärte, warum man keine Geflügelprodukte aus der Türkei mitbringen solle. Es war die Zeit der erhitzten Vogelgrippenangst, und ein paar Tage zuvor hatte ich in einer türkischen Zeitung gelesen, dass ein Gastarbeiter tatsächlich fünf tote Gänse in seinem Koffer bei sich trug. Trotzdem finde ich es falsch, die Gastarbeiter verantwortlich zu machen für das Türkenbild der Deutschen.

Direkt aus dem Dorf nach Deutschland

Erstens gibt es heute zahlreiche soziologische Studien zur Integration (worunter man vor allem die Integration der Türken versteht), die verdeutlichen, dass viele der Standardhypothesen zu Sprachkenntnissen, Familienverhältnissen, Kriminalitätsraten und so weiter von Türken in Deutschland falsch sind. Zweitens sollte man die Verhältnisse der Türkei in den sechziger Jahren bedenken. Damals schickten die Arbeitsämter viele Menschen aus kleinen Dörfern nach Deutschland, die noch nie die Gelegenheit gehabt hatten, eine Großstadt der jungen und modernen türkischen Republik kennenzulernen und mehr von der urbanen Kultur mitzubekommen. Man muss sich fragen, ob ihnen die deutsche urbane Kultur ihre Türen öffnete – und auch heute noch öffnet.

Außerdem werden die Barrieren – praktische und theoretische – für die Türken immer höher, während sich gleichzeitig die Idee des visumfreien Europas auf den Balkan ausdehnt. Während der Balkan immerhin das „andere Europa“ war, war die Türkei für Europa immer nur „das Andere“ – lange bevor die Gastarbeiter ins Land kamen. Es ist aber mehr als schade, dass die wahrgenommene kulturelle Ferne der Türken jetzt dazu geführt hat, dass sich Europa mit einem neuen eisernen Vorhang abschottet. Ein Vorhang, der nicht ideologische sondern – angebliche – kulturelle und religiöse Unterschiede voneinander trennen soll.

Vor allem aber sollte man sich als Europäer (entsprechend dem europäischen Ideal des nachdenkenden Individuums) mehrere Fragen stellen. Es stimmt: Das Bild des „Anderen“ bekommt man von den Beispielen der „Anderen“, die in der Nähe sind. Ich tue aber mein Bestes, um mir mein Bild von Deutschland nicht allein anhand von deutschen Touristen zu bilden, die von Reisebüros aus ihrer kleinen dörflichen Umgebung in die Türkei geschickt werden und dort tagtäglich Speisen vom Buffet mit an den Strand nehmen.

Die Integration mag in der Tat scheitern. Schuld daran sind, aus der stereotypen deutschen Perspektive: zunehmende (öffentlich zur Schau gestellte) Religiosität; Ehrenmorde; junge Männer, die Mädchen anmachen und sich mit ihrem harten Akzent laut in der U-Bahn unterhalten; das Verhalten der Väter gegenüber der Familie, ihren Töchtern und so fort. All die Dinge, die ich angeblich aus meinem Leben in Groß-Istanbul kennen sollte. Es wird mich aber nie überzeugen, dass bestimmte Vorbehalte gegenüber dem „Anderen“ mit dem integrationsverweigernden Verhalten der Türken in Deutschland zu begründen sind. Ob es die kollektive Erinnerung an Wien ist? Oder die gesteigerte Bedeutung der Religion nach dem 11. September? Ich weiß es nicht.

Gibt es „Zara“ in Istanbul?

Doch selbst wenn die Integration scheitert, rechtfertigt nichts die Reaktion eines gut ausgebildeten, wohlsituierten Mannes um die 60, der mir bei unserem ersten Treffen nach fünf Minuten die Frage stellte: „Was hältst du von dem Moscheebau in Köln?“ Nachdem er mir die prozentualen Ausländeranteile deutscher Städte aufgezählt hatte, teilte er mir mit, dass Moscheen außerhalb der Stadt gebaut werden sollten. Ich wollte ihm antworten, dass die Religion und der Glaube eine ganz persönliche Geschichte sind und jeder das Recht haben sollte, seinen Glauben zu praktizieren. Und dass andererseits aber der Säkularismus des Staates für mich als Türkin sehr wichtig ist. Ich tat es aber nicht, nachdem seine Frau mich fragte, ob es auch in Istanbul den Laden „Zara“ gebe. Ich hatte keine Lust mehr.

Am gleichen Abend hatte ich auch keine Lust darauf, irgendwelche soziopsychologischen Erklärungen darüber abzugeben, dass sich Leute, die in einer neuen sozialen Atmosphäre isoliert leben – in Kreuzberg direkt hinter der Mauer angesiedelt zu werden zählt vielleicht als Isolation –, eher auf ihre religiösen Wurzeln besinnen und eine Parallelgesellschaft entwickeln können. Nach diesem gescheiterten Dialog habe ich selbst eine überflüssige Kategorisierung entwickelt, die mir aber hilft, den Kulturschock in Deutschland zu überwinden: Es gibt Deutsche, die wissen, dass es in Istanbul „Zara“ gibt – und solche, die es nicht wissen.

Wenn klar ist, dass ich nicht zu der Kategorie der Deutschtürkinnen gehöre, endet das „So ist es in der Türkei“-Gespräch dennoch nicht sofort. In mehreren Gesprächen mit Deutschen, die wussten, dass es „Zara“ in Istanbul gibt, musste ich mich mit weiteren Kategorisierungen beschäftigen. Diese Deutschen sehen in der Türkei vor allem einen Konflikt zwischen der „kemalistischen Elite“ und dem Rest der Gesellschaft am Werk. Ich halte das für einen ganz vagen und falschen Ausgangspunkt. Diese Analyse unterschätzt die Akzeptanz des ursprünglichen Top-down Modernisierungsprojekts in weiten Teilen der Gesellschaft.

Top-down-Projekte können tatsächlich erfolgreich sein. Schließlich war es ursprünglich ein Elitenprojekt, die deutsche Identität nach dem zweiten Weltkrieg als Bestandteil einer demokratischen und gemeinschaftlich-europäischen Identität wieder aufzurichten. Im Übrigen wird auch die EU selbst zu Recht als ein Elitenprojekt bezeichnet.

Die Benennung eines vereinfachenden Gegensatzes zwischen oben und unten wird der differenzierten gesellschaftlichen Realität der heutigen Türkei nicht gerecht. Sie versäumt es auch, die Parallelgesellschaften in der Türkei zu betrachten. So wird übersehen, dass Istanbul, diese berühmte „westliche Stadt zwischen Orient und Okzident“, seit Jahrzehnten unter massenhafter Migration leidet, dass der Aufstieg des politischen Islam von vielen Soziologen mit der inneren Migration begründet wird, und dass die Regierungspartei AKP, deren Wurzeln in der auch in Deutschland sehr umstrittenen Bewegung Milli Görüs liegen, einen Großteil ihrer Wähler aus den Einwanderervierteln an den Rändern der Großstädte rekrutiert.

Im gängigen westlichen Diskurs wird die AKP, die zwischen 2002 und 2005 sehr wichtige Reformen für den EU-Beitritt der Türkei verwirklicht hat, als europafreudig beschrieben. Dabei wird aber oft das Europa- und Demokratieverständnis der AKP nicht hinterfragt – etwa dann nicht, wenn die AKP die Meinung vertritt, die Türkei habe „die Immoralität aus dem Westen bekommen“.

Die Kehrseite der AKP-Medaille

Einerseits müssten solche innertürkischen Diskussionen jetzt im Zuge der EU-Beitrittskandidatur auch für das deutsche Publikum viel interessanter geworden sein. Andererseits lese ich hier nur sehr wenig über die großen Debatten, die in der Türkei stattfinden und die Kehrseite der AKP-Medaille zeigen.

Aufgrund dieser Türkei- und Türkenbilder musste ich mich während meines Masterstudiums in Europawissenschaften nie richtig auf ein Seminar vorbereiten. Fast automatisch kam die Diskussion auf die Erweiterung der EU und die Europakompatibilität der Türkei. Generalisierungen sind generell einfach zu treffen, und wenn sie einmal getroffen sind, sind sie schwer aus der Welt zu schaffen. Warum ich zwei Jahre brauchte, um das zu erkennen, weiß ich selbst nicht. Ich weiß aber, ich werde mir diese Frage in der Zukunft häufiger stellen.

Zu Hause ist, wo du willkommen bist

Ich habe meinen Freund geheiratet, der mir vor zwei Jahren das kleine Istanbul in Berlin zeigte. Ob eine deutsch-türkische Ehe für immer andauern kann, ist eine weitere Frage, die anscheinend für eine Ausländerbehörde wichtig ist. Nachdem mein Freund und ich unterschrieben hatten, dass unsere Ehe keine Scheinehe ist, wurde uns jedenfalls eine dreijährige Probezeit eingeräumt. Mir wurde auch mitgeteilt, dass ich mich nach acht Jahren um die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben kann, was ich nicht vorhabe. Ich will an das Ideal einer globalen Weltbürgerschaft glauben und ich will nicht meinen Pass aufgeben, meinen Pass aus der Türkei und aus Istanbul, die ich mit meinem ganzen Herzen liebe und die meine Identität bilden.

Ich weiß nicht, wie lange ich in Deutschland leben möchte, aber ich weiß genau, wo ich meine letzten Jahren verbringen möchte: zu Hause.

Es heißt oft, man könne nicht beiden Staaten angehören, sich nicht verantwortlich für beide Staaten fühlen. Deshalb müssten sich die Türken, die seit vielen Jahren in Deutschland leben (oder deren Kinder), für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden. Ich glaube, man kann sich für jeden Ort verantwortlich fühlen, an dem man sich zu Hause fühlt. Für die „Gäste“ in Deutschland kann ich natürlich nicht sagen, zu welchem Ort sie sich zugehörig, für welchen sie sich verantwortlich fühlen – oder fühlen werden. Aber alle, die aus irgendeinem Grund hier leben, kennen mit hoher Wahrscheinlichkeit die plötzliche Sentimentalität vor dem Fernseher, wenn sie die Werbung der leckeren Leibnizkekse sehen: „Zu Hause ist, wo du willkommen bist.“

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