Zeigen, dass Sozis rechnen können

Die Sozialdemokratie braucht ein kluges Konzept für den Umgang mit den wachsenden Staatsschulden. Eine Antwort der linken Mitte muss mehr bieten als nur Sparen und neue Steuern

In Charles Dickens’ Roman David Copperfield fasst Mister Micawber seine Haltung zum Thema Geld lakonisch wie folgt zusammen: „Einkommen pro Jahr 20 Pfund, Ausgaben pro Jahr 19 Pfund, 19 Schilling und sechs Pence, Ergebnis: Glück. Einkommen pro Jahr 20 Pfund, Ausgaben pro Jahr 20 Pfund sechs Pence, Ergebnis: Elend.“ Aber Mister Micawber lebt in der ständigen Hoffnung, von irgendwo her werde das Geld noch kommen – das Micawber-Prinzip. So ähnlich sehen viele Menschen den Staatshaushalt: Geld sei schon irgendwie immer da.

Viele Deutsche mögen derzeit unwillig und selbstzufrieden auf die europäischen Nachbarn Griechenland, Irland und Portugal blicken. Dabei haben wir eine eigene Haushaltsmalaise. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts steigen die deutschen Staatsschulden kontinuierlich und scheinbar unaufhaltsam an. Die Rolle Deutschlands als Europas sicherer Geld-Hafen ist keine Naturkonstante – wir könnten sie schneller verlieren, als uns lieb sein kann.

Wie kommen wir von unserem Schuldenberg wieder herunter? Fest steht: Auf das Micawber-Prinzip können wir uns nicht verlassen. Die Mitte-Links-Parteien in Europa müssen sich dieser Debatte stellen, soll sich nicht die Radikalkur nach britischem Vorbild durchsetzen. Dort senst die konservativ-liberale Regierung unter David Cameron gerade Staatsausgaben und Sozialbudgets weg, im Schnitt um 25 Prozent. Bei ihren Kollegen in Spanien, Holland und Tschechien findet dieses Brachial-Konzept schon fleißige Nachahmer. In allen diesen Ländern regt sich wenig Widerstand. Euro-Staaten unter dem Rettungsschirm haben ohnehin keine andere Wahl als flächendeckend Ausgaben zu streichen – ohne daran zu denken, wie es langfristig wieder aufwärts gehen soll. In Deutschland wird die Schuldenbremse Union und FDP erlauben, Krokodilstränen über die klammen Kassen zu weinen. Die Hartz IV-Verhandlungen waren ein Vorbote.

Ergebnis: Elend auch hier, wenn Sparen zum Selbstzweck wird. Die Botschaft der Regierung Cameron ist so eingängig wie ökonomisch gefährlich: Großbritannien habe sich übernommen und seine Kreditkarte überzogen. Analog zum Privathaushalt könne sich der Staat deshalb weniger leisten. Die Finanzmärkte wollten es nun einmal so, sonst werde das Land den Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen. Gegen eine solch simple Botschaft müssen sich sozialdemokratische Parteien in Europa wappnen.

Es ist an den Sozialdemokraten zu erklären, dass ein Staatshaushalt über Wohl und Wehe der gesamten Volkswirtschaft mitbestimmt. Er ist keine Kreditkarte, aber auch kein Füllhorn. Die SPD braucht mehr als nur ein neues Steuerkonzept: Sie muss definieren, wie gestaltende Haushaltspolitik heute aussehen soll, wie sie mit knapperen Mitteln umzugehen gedenkt. Kurz, sie muss sagen, was uns wichtig ist und wofür Geld da sein muss. Und ja, das heißt auch, an mancher Stelle zu sparen.

Die Schulden fangen an zu schmerzen

Die Verfechter des Micawber-Prinzips sollten nur mal einen Blick auf die öffentlichen Finanzen werfen: Bund, Länder und Gemeinden sind bei einem unvorstellbaren Schuldenstand von fast zwei Billionen Euro angekommen, das sind etwa 24.000 Euro pro Bundesbürger. Im Jahr 2009 entsprach dies 74 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – 14 Prozentpunkte mehr als der Maastricht-Vertrag erlaubt. Die letzten beiden großen Kreditschübe waren Folgen der deutschen Wiedervereinigung sowie der Banken- und Wirtschaftskrise. Es war richtig, hier Geld zu mobilisieren, um die Wirtschaft zu stützen. Das müssen wir den Menschen sagen: Oft gibt es gute Gründe, Schulden zu machen. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn es keine Notsituationen gibt, müssen Politiker den Mut aufbringen, die Schuldenlast wieder abzutragen. In der Vergangenheit ist das so gut wie nie geschehen. Das Kalkül vieler Politiker war so zynisch wie zutreffend: Die Bürger kümmern die Schulden nicht, denn im täglichen Leben bemerkt sie keiner. Noch nicht!

Bald wird Deutschland zweistellige Milliardensummen an den Europäischen Stabilitätsmechanismus zahlen müssen. Dies wird den Bundeshaushalt zusätzlich belasten, von möglichen Ausfallrisiken Griechenlands gar nicht zu reden. Und wer den Blick dann noch weiter in die Zukunft lenkt, den kann es nur gruseln: Die so genannte implizite Staatsverschuldung bezieht sich auf Lasten, die heute noch nicht angefallen sind, die der Staat aber schon eingegangen ist: Mehr und mehr öffentlich Bedienstete (Beamte und Angestellte) gehen in den Ruhestand und beziehen Pensionen und Renten. Auch in der Renten- und Pflegeversicherung zeichnen sich aufgrund der alternden Bevölkerung Defizite ab. Jeder ehrliche Politiker muss diese Kosten in die Gleichung mit einbeziehen. Nach Schätzungen des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen beläuft sich diese implizite Last auf bis zu 200 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Wohlgemerkt: Diese kommt zum bestehenden Schuldenberg in Höhe von 74 Prozent noch dazu.

Die Bürger wissen, dass wir zulasten unserer Kinder und Enkel wirtschaften. Rund ein Viertel des Bundesetats geht für Schuldzinsen drauf, die vor allem Finanzhäuser und wohlhabende Sparer einstreichen. Sozial gerecht ist das nicht. Mitte März erforschte die britische Zeitung The Guardian die Seelenlage in fünf großen EU-Ländern. Demnach stimmen 68 Prozent der Deutschen folgender Aussage völlig zu: „Ich mache mir Sorgen darüber, wie viele Kredite meine Regierung aufnimmt.“ Und 53 Prozent, so viele wie in keinem der Vergleichsländer, unterschreiben den Satz: „Die Regierung muss Ausgaben kürzen, um die Staatsschulden zu senken.“ Die Deutschen spüren also, dass der Staat nicht zukunftssicher haushaltet, so dass sich ihre Kinder und Enkel möglicherweise werden einschränken müssen. Auch deshalb dürfen Sozialdemokraten das Thema Generationengerechtigkeit nicht anderen Parteien überlassen.

Die SPD diskutiert derzeit über ein neues Steuerkonzept, demzufolge Hochverdiener stärker belastet werden. Teile der Partei wollen mit den Mehreinnahmen die Steuern für Niedrig- und Mittelverdiener senken, andere wollen die Mittel lieber für Bildung und Soziales ausgeben. Beides sind gute Ziele, aber wo ist die Haushaltssanierung geblieben? Die Genossen geben im Geiste schon wieder Geld aus, das sie eigentlich nicht mehr haben. Der Schuldenabbau sollte Vorrang haben, erst danach kann es darum gehen, Steuerkurven abzusenken.  

Zwischendurch ging Steinbrücks Plan fast auf

Da ist es kein Trost, dass die europäischen Schwesterparteien kaum besser positioniert sind. Die britische Labour Party findet seit Ausbruch der Finanzkrise keine einheitliche Linie, was Ausgabenkürzungen anbelangt. Die französischen Sozialisten stehen nach dem Verlust von Dominique Strauss-Kahn ohne Finanzexpertise da. In Spanien dämmert die Regierung Zapatero ihrem Ende entgegen, während die konservative Opposition das britische Rezept des Radikal-Sparens kopiert.

Dabei hat die SPD gar keine schlechte Ausgangslage: Im vergangenen Jahrzehnt wurde kluges Haushalten zum neuen Merkmal der Partei. Die Finanzminister Hans Eichel und Peer Steinbrück arbeiteten hart am Abbau der Neuverschuldung. Dem einen kam dann das Platzen der New-Economy-Blase in die Quere, dem anderen die weltweite Finanzkrise – jeweils Schockwellen von außen. Immerhin ging Steinbrücks Plan eines ausgeglichenen Haushalts zwischendurch fast auf, und in seiner Amtszeit wurde 2009 die Schuldenbremse durchgesetzt. Finanzfachleute wie Carsten Schneider, Nils Schmid oder Jens Bullerjahn (um nur drei zu nennen) hat die Sozialdemokratie ohnehin.

Wie also kann die SPD wieder zur Partei einer seriösen, gestaltenden Haushaltspolitik werden? Wie kann sie die simple Botschaft vom kompromisslosen Sparen abwehren? Einmal mehr ist es an der Sozialdemokratie, differenzierte Konzepte zu entwickeln. Drei Denkschritte sind dafür nötig: Wir müssen erstens unsere haushaltspolitischen Begriffsdefinitionen überdenken: Investitionen oder Staatskonsum – das sind keine Naturkonstanten, sondern mit Leben zu füllende Begrifflichkeiten. Zweitens muss es um eine sinnvolle Begrenzung der Ausgaben gehen. Wenn diese Fragen abgearbeitet sind, kann in einem dritten Schritt auch die Einnahmeseite eine Rolle spielen.

Erstens: Eine goldene Regel der Haushaltspolitik war und ist, dass die neuen Schulden nicht höher liegen sollten als die Summe der staatlichen Investitionen. Bis zur Einführung der Schuldenbremse war dieses Prinzip im Artikel 115 des Grundgesetzes und vielen Länderverfassungen festgeschrieben. Selbst wenn diese Rechtsregel verschwindet, bleibt sie ein gutes ökonomisches Prinzip. Allerdings: Wir brauchen eine neue Definition von staatlichen Investitionen, die auch Belange des Sozialen, der Bildung und Infrastruktur umfassen muss. Es ist niemandem zu erklären, warum der Neubau von Straßen als Staatsinvestition zählt, das Ausbessern von Schlaglöchern jedoch als Konsum. Warum der Bau eines neuen Büropalastes für die Verwaltung als Investition durchgehen darf, Ausgaben für Bildung und Forschung zu weiten Teilen aber nicht. Auch Mittel für präventive Sozialpolitik wie die Qualifikation von Arbeitnehmern zählen nicht als Investitionen. Die Debatte um Nettoinvestitionen, Bruttoinvestitionen und staatlichen Konsum führt die Wirtschaftswissenschaft schon seit Jahrzehnten. Es gilt, diesen Streit endlich aus dem Elfenbeinturm in die Parlamente und Talkshows zu holen: All das, was in Zukunft Menschen Türen öffnet und Kosten verhindert, sollte als Investition gelten. Schließlich kann kein Staat auf gute Bildung und Qualifikation verzichten – sonst wird der Schuldenabbau von heute zur Wachstumsbremse von morgen.

Zweitens: An welchen Stellen wird der Staat weniger Geld ausgeben können? Nur so wird Schuldenabbau funktionieren. Langfristiges Denken ist gefragt, um dauerhafte Lasten zu beseitigen, ebenso vernünftige Erklärungen für die Bürger. Warum sind in manchen Bundesländern Lehrer noch immer Beamte? Warum wird für deren Gesundheit und Pensionen nicht von ihnen selbst in Form von Bürgerversicherungen bezahlt? Auf Dauer lassen sich die hohen Lasten für die Versorgung von Staatsbediensteten in den Haushalten weder begründen noch tragen. Auch für viele Subventionen und Steuervergünstigungen gibt es keine vernünftige Rechtfertigung. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts traut sich niemand mehr an die Pendlerpauschale heran – dabei wäre eine vollkommene Abschaffung ausdrücklich möglich. Ebenso könnte die Steuerfreiheit für Nacht- und Feiertagszuschläge wegfallen. Ein niedrigeres Kindergeld könnte Freiräume für einen konzentrierten Kita-Ausbau schaffen. Wenn auf breiter Front Privilegien ohne Ausnahmen fallen, dann werden sich viele Bürger davon überzeugen lassen.

Drittens: Nur wenn alle Ausgaben auf Spar- und Effizienzpotenziale hin durchkämmt worden sind, können zusätzliche Staatseinnahmen ins Spiel kommen. Sonst handelt sich die Sozialdemokratie den altbekannten Vorwurf ein, es gehe ihr nur um Sozialneid. Dass breite Steuersenkungen in den kommenden Jahren nicht möglich sein werden, hat mittlerweile jeder eingesehen. Jedoch gibt es in unserer Gesellschaft viel Reichtum, der kaum noch angetastet wird. Eine zeitlich begrenzte Sonderabgabe auf große Vermögen könnte helfen, das Defizit abzutragen. Sie könnte neben eine Erbschaftssteuer treten, die privaten Reichtum oberhalb eines Mittelklasse-Vermögens kräftiger besteuert. Parallel könnte die pauschale Kapitalertragssteuer von 25 auf 30 Prozent erhöht und der Sparerfreibetrag weiter abgesenkt werden.

Etatdisziplin nach sozialdemokratischer Art

Wenn all diese Schritte unternommen worden sind, kann sich der Finanzminister auch ans Allerheiligste des deutschen Geldwesens wagen: die Goldreserven der Bundesbank. Bisher hütet die Bundesbank eifersüchtig ihren Schatz und widersteht allen Versuchen, ihm auch nur nahezukommen. Das (richtige) Argument der Bundesbanker war immer wieder, das Verscherbeln von Goldbarren ersetze keine nachhaltige Konsolidierung des Haushalts. Aber wenn ein klares Konzept für verantwortliche Haushaltspolitik vorliegt, muss es möglich sein, zumindest einen Teil der 3,4 Tonnen Gold zu verkaufen und die Gewinne einem speziellen Schuldentilgungsfonds zuzuführen. Die Gelegenheit ist günstig: Gold ist so wertvoll wie lange nicht mehr. Wenn die Staatsschulden wirklich sinken, dann entfällt auch ein Teil der Begründung für Goldreserven als letzter Stabilitätsanker vor staatlich getriebener Geldentwertung.

Die deutschen Schulden auf Null herunterzufahren, ist weder nötig noch angemessen. Es würde reichen, wenn sie sich wieder deutlich in Richtung 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bewegen. Das allein wird schwierig genug. Aber Sozialdemokraten dürfen das sperrige Thema Etatdisziplin nicht freiwillig den Mitte-Rechts-Parteien überlassen. Sonst droht eine Haushaltspolitik, wie wir sie aus Dickens-Romanen kennen: Ausgabenkürzungen ohne Blick aufs gesellschaftliche Ganze, garniert mit Steuersenkungen für die eigene Klientel kurz vor der Wahl. Sozialdemokraten können mehr als das. Und sie können sogar rechnen. «

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