Wo der Staat handeln muss

Ökonomischer Fortschritt und Sozialstaat werden in Deutschland gern gegeneinander ausgespielt. Das ist falsch. Nur wenn sie diesen Gegensatz auflöst, kann die SPD wieder zukunftsfähige Konzepte entwickeln - und Wahlen gewinnen

Günter Grass hat vor nicht allzu langer Zeit über das Phänomen der Kinderarmut gesagt: „Wer auf diesen Missstand und auf weitere ins soziale Abseits gedrängte Menschen hinweist, wird von alternden Journalisten günstigstenfalls als Sozialromantiker verspottet, in der Regel jedoch als Gutmensch diffamiert. Fragen nach den Gründen für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich werden als Neiddebatte abgetan. Das Verlangen nach Gerechtigkeit wird als Utopie verlacht. Jenseits wohlfeiler Sonntagsreden droht dem Begriff Solidarität die Verbannung in die Rubrik Fremdwörter.“ Dieser Vorwurf richtet sich nicht an die Mehrheit der Bevölkerung, nicht an die Millionen von hart arbeitenden Menschen mit eher durchschnittlichem oder geringem Nettoeinkommen – obwohl viel dafür getan wurde, die Grundwerte der Bundesrepublik und nicht zuletzt der Sozialdemokratie in Misskredit zu bringen.

Ende der Neunziger Jahre waren der Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme finanziell und ideell nahezu am Ende. Die Schwarz-Gelben bauten staatliche Leistungen ab, soziale Werte wie Solidarität, Chancengleichheit und Gerechtigkeit blieben Parteiprogramm-Rhetorik. Das neoliberale Credo lautete: Der Staat ist nur für die innere und äußere Sicherheit verantwortlich, im Übrigen stört er die wirtschaftliche Entwicklung und ist von der Geschichte überholter Sozialklimbim.

Diese Auffassung hat sich in der Merz-Merkel-CDU noch stärker durchgesetzt. Sozialstaat und Wachstum werden nicht mehr als zwei sich gegenseitig bedingende Elemente der deutschen Nachkriegs-Erfolgsgeschichte dargestellt, sondern als Gegensätze. Die unsoziale Kopfpauschale, eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes sowie massive Beschränkungen von gewerkschaftlichem Einfluss, von Kündigungsschutz und Mitbestimmungsrechten sollen die Marktkräfte weiter entfesseln. Besonders die so genannten Leistungsträger – praktischerweise mit den Besserverdienenden gleichgesetzt – sollen von Anforderungen des Staates befreit oder zumindest entlastet werden. Bezahlen sollen dies die wirklichen Leistungsträger, die Feuerwehrleute und Krankenschwestern, deren Schicht- und Nachtarbeitszuschläge künftig nicht mehr steuerfrei sein sollen.

Dies ist kein bundespolitisches Phänomen, wie die Bestrebungen der Länder mit schwarzen oder schwarz-gelben Regierungen zeigen, die den Flächentarifvertrag erst im öffentlichen Dienst und dann für alle anderen Branchen zerstören wollen. Im Gegenteil: In diesen Ländern ist die Berücksichtigung sozialer Aspekte längst als zu teures Luxusgut ad acta gelegt worden. Die Sozialdemokraten hingegen sorgen – wie in Schleswig-Holstein – immerhin für eine größtmögliche sozial gestaffelte Ausgestaltung von Reformen, etwa bei der Reform des Beihilferechtes oder bei der unvermeidlichen Kürzung bestimmter Leistungen und Zuschläge. Kurzfristiges und einseitig profitorientiertes Denken dominiert also nicht nur den Unternehmenssektor, sondern auch die konservative Politik. Es geht nicht um eine erneuerte, der Globalisierung angepasste soziale Marktwirtschaft, sondern um Marktwirtschaft ohne Adjektiv, wie sie nicht einmal von den amerikanischen oder den französischen Konservativen gefordert wird.

Mit diesem vielleicht etwas unerwarteten Einstieg möchte ich die aktuelle Lage, die Rolle der Sozialdemokratie und die zukünftigen Handlungsnotwendigkeiten ein wenig aus einer weit verbreiteten kurzsichtigen Betrachtungsweise herauslösen, die leicht zu fatalistischen Untergangsszenarien verleiten kann.

Was alles schon besser geworden ist

Natürlich ist die finanzielle Lage der öffentlichen Haushalte sowie der sozialen Sicherungssysteme desolat. Elf Länder werden mehr Kredite aufnehmen müssen als ihre Verfassung für den Normalfall zulässt. Deutschland wird erneut die in Maastricht vereinbarte Defizitgrenze reißen und der wirtschaftliche Aufschwung verläuft viel zögerlicher als erwartet, genau wie der Abbau der Arbeitslosigkeit. Natürlich haben die notwendigen Reformen der rot-grünen Bundesregierung die Menschen verunsichert und damit auch das Vertrauen in die Sozialdemokratie gestört. Wir haben dies an Infoständen, bei Umfragen und erst recht bei den Wahlen der letzten zwei Jahre schmerzlich erfahren.

Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass eine Menge erreicht wurde. Der Staat und die sozialen Sicherungssysteme sind nachhaltiger, sprich zukunftsfester, geworden – auch wenn noch gravierende gesellschaftliche Probleme zu lösen sind. Mit der Rentenreform wurde die Altersversorgung auf solidere Füße gestellt, die Ökosteuer stabilisiert deren Beiträge. Die Gesundheitsreform hat den Kostenanstieg erfolgreich gedämpft und kann nun dazu führen, dass die Kassen ihre Beiträge senken. Auch die als schmerzlich empfundenen Reformen des Arbeitsmarktes und der Bundesagentur für Arbeit waren grundsätzlich richtig, selbst wenn Detailkorrekturen nötig sind. Das Prinzip Fördern und Fordern und die Konzentration der Arbeitsagentur auf Vermittlungstätigkeiten ist keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für die Senkung der Arbeitslosigkeit. Durch die Zusammenführung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe wurden viele Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger wieder in den Kreis derer aufgenommen, denen ein Job zugetraut wird.

In Deutschland gibt es seit Rot-Grün mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative, mehr Nachhaltigkeit und ein größeres Bewusstsein für die eigentlichen Probleme. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Energiepolitik und der Landwirtschaft, sondern eben auch für die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Haushalte. Der Staat wird nicht mehr als Wachstumsbremse wahrgenommen. Im Gegenteil, zunehmend wird festgestellt, dass es umfangreiche Defizite in der staatlichen Versorgung gibt, sei es in der Bildung oder bei der Familieninfrastruktur. Die Ursachenforschung ist gründlicher geworden, das zeigt auch die Zustimmung großer Teile der Bevölkerung für die Kapitalismuskritik von Franz Müntefering. Nur konnte im NRW-Wahlkampf noch nicht vermittelt werden, welche praktischen Konsequenzen die SPD daraus ziehen wird.

Auf welchen Baustellen die Zukunft entsteht

Ich möchte vor diesem Hintergrund auf fünf Baustellen hinweisen, auf denen staatliches Handeln erforderlich ist.

Erstens: Das Bildungssystem muss so umgebaut werden, dass die soziale Selektion in der Schule beseitigt, statt – wie die Konservativen es wollen – weiter verstärkt wird. Wir müssen in der betrieblichen und der universitären Ausbildung mehr junge Menschen besser qualifizieren. Auch das lebenslange Lernen bleibt noch weit hinter den Anforderungen der Wissensgesellschaft zurück. Wir müssen die Ganztagsangebote ausbauen, die Universitäten stärken und von den Unternehmen fordern, ihre Zusagen für Ausbildungsplätze einzuhalten.

Zweitens: Bei der Staatsfinanzierung muss das Sozialstaatsprinzip gestärkt werden. Starke Schultern können und müssen mehr tragen als schwache. Im Moment sind es gerade die Gering- und Normalverdiener, die den Hauptteil der Steuern zahlen, da sie Steuersparmodelle oder Schlupflöcher seltener nutzen können. Es ist nicht die Zeit, den Spitzensteuersatz weiter zu senken, wie es die FDP und die Union vorhaben.

Abgaben senken, die Umsatzsteuer erhöhen

Stattdessen sollte ab einem Einkommen von 500.000 Euro im Jahr ein fünfprozentiger Zuschlag erhoben und der Eingangssteuersatz auf 10 Prozent gesenkt werden. Damit werden gerade die Gering- und Normalverdiener, also die Mehrheit im Lande, entlastet. Denen, die sich viel leisten können, wird ein wenig mehr aufgebürdet. Diese Umschichtung ist auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Im Gegensatz zu Spitzenverdienern liegt die Sparquote von Normal- und Geringverdienern deutlich niedriger. Um den Konsum anzukurbeln, der fraglos der entscheidende Schwachpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland ist, sollten wir diejenigen Einkommen stärken, die fast vollständig wieder ausgegeben werden.

Drittens: Wir müssen auch im Finanzierungssystem mehr Anreize dafür geben, dass Arbeit entsteht. So ist unsere Steuerquote im internationalen und europäischen Vergleich inzwischen sehr niedrig, die reine Abgabenquote aber relativ hoch. (In der gebräuchlichen gesamten Abgabenquote ist die Steuerquote enthalten.) Die steuerliche Belastung des Faktors Arbeit ist in Deutschland also höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Dies führt zu einem enormen Rationalisierungsdruck und ist eine der Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit hier im Land – eine Arbeitslosigkeit, die gerade diejenigen betrifft, die für Jobs in Frage kommen, bei denen die Lohnkosten eine große Rolle spielen. Deswegen will ich die Abgaben senken, während ich bei dem im europäischen Vergleich sehr niedrigen normalen Umsatzsteuersatz noch Spielraum nach oben sehe. Um konjunktur- und sozialschädliche Auswirkungen zu verhindern, ist zeitgleich nicht nur eine Senkung der Abgaben vorzusehen. Auch der ermäßigte Umsatzsteuersatz, wie er beispielsweise für Lebensmittel gilt, sollte von 7 Prozent auf 5 Prozent gesenkt werden. Da für die meisten Ausgaben von Niedrig- und Normalverdienern entweder dieser ermäßigte Satz gilt oder (wie beispielsweise bei der Miete) gar keine Umsatzsteuer fällig wird, stimmt das alte Märchen nicht mehr, die Umsatzsteuer sei unsozial. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung billigt dieser Maßnahme inzwischen deutliche positive Beschäftigungseffekte zu. Diese Alternative für mehr Arbeit ist weitaus besser, als die Arbeitnehmer durch weniger Kündigungsschutz und Mitbestimmung zu schikanieren, besser auch als eine Mehrwertsteuererhöhung zur Finanzierung der Kopfpauschale, zur Senkung des Spitzensteuersatzes oder zum Stopfen von Haushaltslöchern, wie es Schwarz-Gelb plant.

Warum die Bürgerversicherung gerechter ist

Viertens: Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung wie die Ökosteuer und die Gesundheitsreform konnten die Beiträge „nur“ stabilisieren. Dies liegt an einer anderen Schieflage bei der Konstruktion der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme: an deren starker Kopplung an das „sozialversicherungspflichtige Einkommen“. Diese Konstruktion führt nicht nur dazu, dass bei ständig hoher Arbeitslosigkeit die Beiträge sinken, die Ausgaben steigen und die Kassen an den Rand des finanziellen Ruins gebracht werden. Sie sorgt auch dafür, dass die Bezieher anderer Einkommensarten beziehungsweise von Einkommen über der Bemessungsgrenze nicht oder nur unterproportional an der Finanzierung der Sozialversicherungen beteiligt werden. Nun verändert sich die Arbeitswelt ständig: Der Anteil sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung sinkt, während der Anteil von Einkommen selbständiger Tätigkeit und aus Vermögen steigt. Auch diese Entwicklung erschwert die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und würde – ohne Eingriffe – zum weiteren Anstieg der Beiträge führen. Deswegen halte ich das Konzept der Bürgerversicherung für die Krankenversicherung für wegweisend, mit dem auch andere Einkommen zur Finanzierung herangezogen werden. Damit können nicht nur die Beiträge für die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Arbeitgeber stabilisiert werden – die Finanzierung wird außerdem gerechter. Die Mehrheit der Bevölkerung würde in Wahlen die Bürgerversicherung einer Kopfpauschale vorziehen.

Der Sprung in die familienpolitische Moderne

Fünftens: Die demografische Entwicklung deutet auf mangelnde Kinderfreundlichkeit und auf die Ungerechtigkeit des jetzigen Systems gegenüber Familien hin. Das ist veränderbar – siehe Schweden. Dazu bedarf es aber einer umfassenden Umstellung unser Politik- und Förderansätze. Das Umsteuern ist notwendig, damit Kinder nicht länger das Hauptarmutsrisiko bleiben. Wir müssen eine sozial verträgliche Möglichkeit finden, das Ehegattensplitting zu begrenzen, damit die Alleinverdiener-Ehe steuerlich nicht mehr bevorzugt wird. Das Recht sollte so geändert werden, dass Gutverdienende nicht mittels Kinderfreibeträgen mehr Geld bekommen als Normalverdienende. Stattdessen sollten wir diese Mittel in die Familien- und Bildungsinfrastruktur investieren. Bund, Länder und Gemeinden müssen hier gemeinsam für eine solide Finanzierung und für ein qualitativ und quantitativ ausreichendes Angebot sorgen. Dies ermöglicht nicht nur bessere Bildung und Ausbildung, sondern auch, dass Frauen mit Kindern berufstätig sein können. Für Deutschland bedeutet dies den überfälligen Sprung in die familienpolitische Moderne. Zudem bieten solche Investitionen ein enormes Wachstumspotenzial und Beschäftigungschancen im Bereich der haushalts- oder familiennahen Dienstleistungen. Bei Frauen und jungen Männern gibt es für diesen Kurs längst klare gesellschaftliche Mehrheiten, bei älteren Männern muss noch Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Der Staat ist nicht mehr der Feind

Die rot-grüne Bundesregierung hat einen Reformstau aufgelöst, den Union und FDP in 16 Jahren aufgebaut hatten. Sie geht mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme im Rahmen der Agenda 2010 einen schmerzhaften, aber unausweichlichen Weg für mehr Beschäftigung, Wachstum und die dauerhafte Sicherung des Sozialstaates. Der Staat ist nicht mehr der Feind, sondern für die Mehrheit der Bevölkerung ein – wenn auch finanziell eher unterversorgter – wichtiger Faktor.

Ist die Einsicht in die Notwendigkeit des Staates gewachsen, so haben zugleich aber die Blockade der Union und die schwierige Wirtschaftslage dazu geführt, dass Einsicht und Wirklichkeit weiter auseinander klaffen und gravierende Fehlanreize weiter bestehen. Als Konsequenz ist das Vertrauen gesunken, dass der Staat, die Politik und besonders die Sozialdemokratie die drängenden Probleme lösen können.

Es ist dringend notwendig, die Ziele der Reformen zu vermitteln und weiter an den Veränderungen zu arbeiten. Dieser Weg ist nicht umkehrbar, denn Arbeitslosigkeit und demografische Entwicklung sind Probleme, die gelöst werden müssen, um den Sozialstaat zu erhalten. Wichtig ist vor allem, die Dimension der sozialen Ausgewogenheit stärker zu betonen. Weitere Reformen müssen strikt an das Kriterium der sozialen Gerechtigkeit geknüpft werden. Wir können dabei auf ein Grundprinzip der Sozialdemokratie zurückgreifen: So viel Markt wie möglich und so wenig Staat wie nötig. Der Staat muss nicht als Unternehmer, als Investor oder Manager tätig werden. Wohl aber nimmt er eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum geht, eine soziale Ordnung und geeignete Leistungsanreize, Sparanreize und Risikobereitschaft zu ermöglichen sowie die Qualifikation eines größtmöglichen Teils der Bevölkerung sicherzustellen.

Nur eine solidarische und demografiefeste Umstrukturierung der Investitionen, des Steuerrechts und der sozialen Sicherungssysteme kann Deutschland wieder auf einen Pfad zurückbringen, auf dem es nicht nur im Export Weltspitze ist, sondern auch bei Lebensqualität und Lebensstandard. Erst dann kann auch der Weg aus der Schuldenfalle gelingen. Wenn wir im Denken wie im Handeln den künstlich aufgebauten Gegensatz von ökonomischem Fortschritt und Sozialstaat auflösen, wird die Volkspartei SPD wieder tragfähige Zukunftskonzepte entwickeln können. Und wenn wir dabei die Normal- und Geringverdiener mit ihren berechtigten Wünschen und Ansprüchen in den Blick nehmen, werden wir auch wieder Wahlen gewinnen.

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