Wirtschafts- und Finanzpolitik jetzt neu denken

Wir brauchen eine neue Balance zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft, um die Werte zu schützen, die sonst der Raubtierkapitalismus zerstört

Wer hätte das vor einem Jahr gedacht? Nach nicht einmal zwölf Monaten schwarz-gelber Regierung fragt die  Berliner Republik, was wäre, wenn die rot-grüne Opposition die Regierungsgeschäfte übernehmen würde. Noch vor einem knappen Jahr haben CDU, CSU und FDP die Bundestagswahl mit den Versprechen deutlich gewonnen, für mehr Netto vom Brutto zu sorgen und eine stabile Wunschregierung jenseits der Großen Koalition zu bilden. Beide Versprechen klingeln den Wählerinnen und Wählern inzwischen wie Hohn in den Ohren. Und das, obwohl der Regierung zurzeit die guten Wirtschaftsdaten wie Sterntaler in den Schoß fallen. Die deutsche Wirtschaft wächst im zweiten Quartal dieses Jahres fast so schnell wie die chinesische (!), das Geschäftsklima der gewerblichen Wirtschaft ist so gut wie seit drei Jahren nicht und die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist so positiv, dass der Economist von einem deutschen Wunder spricht.

Aber anders als bei den Gebrüdern Grimm wird das Märchen nicht gut ausgehen. Trotz hochtouriger Wirtschaft schafft es die Bundesregierung nicht, ihre Wahlversprechen auch nur im Ansatz einzulösen. Im Gegenteil werden Bürger und Wirtschaft mehr Steuern und Abgaben bezahlen müssen. Die Wahrheit lautet: Es wird weniger Netto vom Brutto geben.

Den Bürgern drohen vor allem ein höherer Krankenkassenbeitrag und ein höherer Beitrag zur Arbeitslosenversicherung; zugleich wird der Beitrag zur Rentenversicherung nicht wie geplant sinken. Das erinnert fatal an die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu Kohls Zeiten. Auch damals wurden die wirtschafts- und finanzpolitischen Probleme nicht gelöst, sondern durch massive Erhöhungen der Sozialabgaben in die Zukunft verschoben. Das war nicht nur ungerecht gegenüber der unteren Einkommenshälfte der privaten Haushalte, die keine Steuern, aber hohe Sozialabgaben zahlen, sondern es war auch wirtschaftspolitisch kurzsichtig, weil unser Land an Wettbewerbsfähigkeit verlor und die Arbeitslosigkeit auf immer neue Rekordhöhen stieg.

Die angebotsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Zeit bedeutete für Deutschland reformpolitisch ein verlorenes Jahrzehnt. Heute reibt man sich die Augen darüber, dass die angeblich wirtschaftsnahen Parteien programmatisch noch immer auf dem Stand von einst sind. Ihre „alte“ Wirtschafts- und Finanzpolitik basiert auf überholten Glaubenssätzen: Deregulierung sei immer gut; Steuersenkungen führten stets zu Wirtschaftswachstum; der Markt sei effizienter als der Staat; mehr Markt bedeute mehr Freiheit; der Sozialstaat sei vor allem ein Kostenfaktor. Die Bundesregierung scheint sich von diesen alten, falschen Glaubenssätzen nicht zu distanzieren, im Gegenteil.

Schwarz-gelber Eklektizismus ohne Plan

Ihr jüngstes Sparpaket steht pars pro toto für die alte Politik. Händeringend hat Schwarz-Gelb Maßnahmen zusammengetragen, die ein gewisses Volumen an Konsolidierung bringen sollen. Herausgekommen sind Belastungen für diejenigen, die sich kaum wehren können, verbunden mit punktuellen Belastungen für die Wirtschaft ohne erkennbare wirtschaftspolitische Strategie. Verschont worden sind die oberen Einkommensetagen der Gesellschaft, als deren Sachwalter sich die FDP begreift. Die Folgen: eine soziale Schieflage; Auseinandersetzungen mit der Industrie, die ihre Privilegien bei der Ökosteuer verteidigt; Konflikte mit den Stromkonzernen, die die Brennelementesteuer verhindern wollen; Streit mit den Fluglinien, die sich gegen die Luftverkehrsabgabe wenden. Das ist wirtschafts- und finanzpolitischer Eklektizismus ohne Plan.

Die globale Finanzkrise ist eine Zäsur. Zum ersten Mal seit 80 Jahren haben die Märkte den Kapitalismus weltweit an den Rand des Abgrunds gebracht. Genauer: Sie hätten ihn mit einer riesigen Spekulationswelle über den Rand gespült, wären sich die Regierungen nicht weltweit einig gewesen, mit der Rettung von Banken und antizyklischer Finanzpolitik die Kernschmelze der Märkte beherzt und koordiniert zu verhindern. Zuvor hatten der Aufstieg des Profitstrebens, die Erhebung des Eigeninteresses zum moralischen Prinzip und die Schwächung des Staates als Regelsetzer den Märkten immer größeren Spielraum gelassen. Der Erfolg wurde höher bewertet als die Moral. Manager wegen ihres Reichtums und ihres Einflusses hofiert, aber nicht wegen ihres Beitrags zum Gemeinwohl. Maß und Mitte gingen verloren und müssen dringend zurückgewonnen werden – nur wie?

Notwendig wäre zuallererst ein neues Denken in Balancen, in komplexen Lösungen, die zwar schwieriger zu vermitteln sind als die vermeintlich einfachen, dafür aber die dynamische, heterogene Wirklichkeit besser erfassen. Wir müssen uns mit der unangenehmen Gewissheit auseinandersetzen, dass es sowohl Staats- als auch Marktversagen geben kann. Die Marktgläubigen sind blind für die Mängel des Marktes; sie sehen nur die Mängel des Staates. Aber weder Markt noch Staat sind perfekt. Genau deshalb muss wieder ein Ausgleich her, der die jeweiligen Schwächen minimiert, Stärken nutzt und dabei möglichst viel Raum für bürgerschaftliches und stifterisches Engagement lässt. Karl Schillers Satz „So viel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig“ ist heute aktueller denn je. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft, um die Werte zu schützen, die der „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) sonst zerstört: die demokratischen, gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Werte des Bürgers, der nicht nur Konsument oder Steuerzahler ist. Was aber sind die Bausteine einer solchen Ordnungskonzeption, die die Wirtschaft für den Zusammenhalt der Gesellschaft in die Pflicht nimmt?

Erstens: Moderne Ordnungspolitik. Die Finanzmarktkrise hat gezeigt, wie gefährlich es sein kann, wenn das ordnungspolitische Grundprinzip von Risiko und Haftung außer Kraft gesetzt wird. Deswegen ist es einer der wichtigsten Eckpfeiler einer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik, den Zusammenhang von unternehmerischem Risiko und Haftung wiederherzustellen – und zwar möglichst weltweit. Bereits die Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft wussten: Wenn Manager Risiken eingehen können, ohne dass sie oder das eigene Unternehmen dafür haften, können sie am Ende das ganze Wirtschaftssystem gefährden. Genau das ist vor der Finanzmarktkrise nicht nur auf den Finanzmärkten passiert. Moderne Finanzmarktpolitik muss die Anreiz-Kontrollsysteme in Unternehmen und für Manager mittels Regulierung umfassend wieder herstellen – sowohl durch Gesetze, als auch durch die wichtigen untergesetzlichen Kodizes wie dem Deutschen Corporate Governance Kodex oder dem Public Corporate Governance Kodex. Deren Einhaltung führt zu mehr Transparenz, Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit in den Unternehmen – und damit zu einer Marktwirtschaft, wie wir und die meisten Bürger sie haben wollen.

Anständige Lohnerhöhungen für gute Arbeit

Zweitens: Gerechte Steuer- und Abgabenpolitik. Gerade in Konsolidierungszeiten ist es notwendig, durch eine intelligente Umgestaltung des Steuer- und Abgabensystems und eine konsequente Verfolgung von Steuerhinterziehung mehr Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum zu erreichen. Neue Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutet, auf unfinanzierbare Steuersenkungsversprechen zu verzichten. Richtig sind stattdessen Steuererhöhungen, die mit einer gegenfinanzierten Entlastung für die Mittelschichten und einer partiellen Absenkung von Sozialabgaben für Geringverdiener verbunden werden und den Staat in die Lage versetzen, mit höheren Zukunftsinvestitionen Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken.

Die gegenwärtige Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs trägt zwei Gerechtigkeitsprobleme in sich: Der zu niedrige Spitzensteuersatz in Höhe von 42 Prozent greift bereits ab einem Jahreseinkommen von 52.882 Euro. Das ist zu früh. So werden mittlere Einkommen überproportional stark belastet, und der Spitzensteuersatz trifft auch Menschen, die in Wirklichkeit keine Spitzenverdiener sind. Beides wollen wir ändern. Wir wollen den Spitzensteuersatz auf bis zu 50 Prozent erhöhen, ihn dafür aber deutlich später greifen lassen, nämlich erst ab einem individuellen Jahreseinkommen von bis zu 85.000 Euro. Die hierdurch erreichte steuerpolitische Umverteilung muss ergänzt werden durch eine Progression bei den Sozialabgaben, um auch diejenigen Geringverdiener fair zu entlasten, die keine oder kaum Steuern zahlen. Ergänzt um einen flächendeckenden Mindestlohn ist genau das eine ausbalancierte Strategie, die einseitige Schwerpunktsetzungen vermeidet.

Drittens: Neue Tarifpolitik. Die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre hat wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft beigetragen. Im letzten Jahrzehnt sind die Lohnstückkosten hierzulande nur um 2,7 Prozent angestiegen, in der EU dagegen fast um 19 Prozent, im Euroraum um 16,5 Prozent. Diese Entwicklung muss ein Ende finden, sonst droht Europa auseinanderzubrechen. Richtig wären anständige Lohnerhöhungen für gute Arbeit. Das umso mehr, weil umfassende Steuersenkungen ohne Gegenfinanzierung auf lange Zeit illusorisch sind. So könnte eine neue Balance erreicht werden zwischen einer wettbewerbsgetriebenen Exportorientierung und einer lohngetriebenen Stärkung der Binnennachfrage.

Viertens: Neue Wachstumspolitik. Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass vieles von dem, was wir für Wachstum und Wertschöpfung gehalten haben, in Wahrheit nichts davon war. Wir brauchen kein virtuelles Wachstum, das sich auf reine Luftbuchungen gründet und nur auf Monitoren in Bankzentralen erscheint. Doch wir dürfen auch nicht in das andere Extrem verfallen und Schreckensszenarien vom Ende der Arbeitsgesellschaft und dem Verzicht auf Industrie und technologischer Entwicklung das Wort reden. Die Grundlage unserer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen ein veränderter Begriff von Wachstum und eine neue Qualität von Fortschritt sein. Wir wollen den verengten Wachstumsbegriff der vergangenen Jahrzehnte durch ein neues und breiteres Verständnis ablösen, das individuelles Wohlergehen, Lebensqualität, gesellschaftlichen Fortschritt und nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Uns geht es um ein Wachstum, an dem alle Menschen teilhaben, das Arbeitsplätze schafft, Ressourcen schont, nachhaltige Investitionen fördert und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

Kriterien für das Solide, Machbare und Normale

Eine neue Wachstumspolitik muss die Grundlagen von Wirtschaft und Gesellschaft erhalten. Dazu brauchen wir mehr Investitionen in erneuerbare Energien, in neue Ressourcen schonende Produkte und Technologien. Unser Ziel ist es, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln, unter anderem mittels einer modernen Industriepolitik und mehr Energie- und Materialeffizienz. Zudem müssen wir auf die wichtigsten Wachstumstreiber setzen: die Menschen, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen. Der Fachkräftemangel wird eine der größten Wachstumsbremsen der Zukunft sein. Deswegen brauchen wir eine gut aufeinander abgestimmte, ineinander greifende Bildungs-, Integrations- und Betreuungspolitik sowie eine Anerkennungskultur für Stifter und ehrenamtlich engagierte Bürger.

Nicht nur die Kreativwirtschaft, sondern unsere ganze Gesellschaft ist auf gut ausgebildete, neugierige, selbstbewusste Menschen angewiesen. Die technologische Basis dafür muss der flächendeckende Ausbau von Breitbandinfrastruktur sein; es geht um die Autobahnen des 21. Jahrhunderts. Nur mit leistungsfähigen Netzen können wir die digitale Spaltung unserer Gesellschaft vermeiden und die Wachstumsbasis in Deutschland nachhaltig steigern. Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat 25 OECD-Ländern von 1996 bis 2007 untersucht und herausgefunden, dass „nach der Einführung der Breitbandtechnologie das BIP pro Kopf in den darauffolgenden Jahren im Durchschnitt um 2,7 bis 3,9 Prozent höher als vor der Einführung liegt“.

Statt Planlosigkeit oder Marktfetischismus streben wir eine ausbalancierte Finanz- und Wirtschaftspolitik an. Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wieder Maßstäbe für das Solide, Machbare und Normale, statt für immer neue Renditeziele, Quartalsrekorde und Bonusexzesse. Anstelle von Deregulierung ist eine reformierte Regulierung notwendig, die mit Augenmaß und dem Wissen, dass das Wissen des Staates begrenzt ist, Märkten den Rahmen vorgibt und sich dabei auch von mächtigen Wirtschaftsinteressen nicht ins Bockshorn jagen lässt.

Die FDP glaubt, Wirtschaft müsse in der Wirtschaft gemacht werden. Was dabei herauskommt, wenn das Rad der Deregulierung zu weit gedreht wird, hat die Finanzmarktkrise gezeigt. Wir wollen verhindern, dass die Wirtschaft erneut die Belastungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft testet. Wir wollen, frei nach Max Weber, eine Politik mit Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß betreiben, die die Wirtschaft für den Zusammenhalt der Gesellschaft in die Pflicht nimmt, die Zivilgesellschaft stärkt. Diese Politik folgt einer Einsicht: Zu wenig Markt schwächt die Leistungskraft einer Gesellschaft, zu viel Markt schwächt ihren Zusammenhalt. «

Heiko Geue vertritt in diesem Beitrag ausschließlich seine persönliche Auffassung.

zurück zur Person