Wir regulieren uns zu Tode

Selbstverständlich muss Nichtrauchern ein rauchfreier Arbeitsplatz garantiert werden. Aber das Raucherbekämpfungsgesetz schießt übers Ziel hinaus. Und es ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie wenig uns Freiheit und Eigenverantwortung wert sind

Ich bin gegen die Diskriminierung und für den Schutz von Nichtrauchern, besonders von Kindern. Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Und ich glaube daran, dass wir als Gesetzgeber Regeln aufstellen müssen, die das Gute im Menschen fördern und Schaden vom Gemeinwesen abwenden. Manches im Leben passt aber nicht in die dualistischen Schubladen „gut“ und „böse“. Wenn der Staat die Menschen erziehen will, sind Argwohn und Umsicht geboten.

So macht es mir Sorgen, dass einige Kolleginnen und Kollegen im Bundestag das Nichtrauchen zur Staatsräson erheben wollen. Selbstverständlich muss Nichtrauchern ein rauchfreier Arbeitsplatz garantiert werden. Auch sollten geschlossene öffentliche Räume rauchfrei sein, ebenso wie Flugzeuge und alle Verkehrsmittel, die nicht getrennt belüftet werden können.

Beim Nichtraucherschutz in privatwirtschaftlichen Restaurants und Kneipen verhält es sich anders. Bislang konnten die Betreiber selbst entscheiden, wie sie Nichtraucher schützen und Rauchern den Tabakgenuss gewähren. Jeder Gast geht dort freiwillig hin. Jedem Arbeitnehmer und jedem Wirt in der Gastronomie steht es frei, sich schädlichem Rauch auszusetzen. Getrennte Räume mit Entlüftungsanlagen oder die Trennung in Raucher- und Nichtraucher-Gaststätten sind bessere Lösungen als die Verbannung der Raucher auf die Straße. Die Kneipenkultur hat es in Zeiten von Ganztagsberieselung mit Privatfernsehen und einer Getränkemarktkultur ohnehin schwer genug.

Das Raucherbekämpfungsgesetz ist leider nicht das einzige Beispiel für den Regulierungswahn von Gutmenschen. Auf der einen Seite werden gern die Leitbilder der „Eigenverantwortung“ und des Staates als „Partner“ der Bürger hochgehalten. Auf der anderen Seite soll im gesamten öffentlichen Raum das Rauchen verboten werden und jeder Witz mit einer möglicherweise sexuellen oder ethnischen Anspielung am Arbeitsplatz juristische Konsequenzen haben können. Wer die Doppelmoral und das Denunziantentum in einer solchen Gesellschaft erfahren will, muss sich nur in den Vereinigten Staaten umschauen.

Siebenjährige als Sextäter?

Da holen Polizisten nachts einen siebenjährigen Jungen aus dem Bett und inhaftieren ihn mehrere Tage lang wegen sexuellen Missbrauchs, weil er tagsüber im Beisein eines fünfjährigen Nachbarmädchens mit heruntergelassener Hose in Mutters Garten gepinkelt hat. Die New Yorker Polizei verhaftet eine junge Mutter wegen angeblicher Verletzung der Aufsichtspflicht, weil sie ihr Baby im Kinderwagen bei geöffneter Tür in Sichtweite vor einem Café schlafen ließ. Ein Vierjähriger wird des Kindergartens verwiesen, weil er eine erwachsene Frau umarmt und ihr dabei an die Brust gefasst hat. Das nenne ich nicht „Zivilisation“, sondern „Barbarei“.

Die Anweisungen für Arbeitsuchende der „Workfare“-Agentur des amerikanischen Bundesstaates New York untersagen am Arbeitsplatz nicht nur das Erzählen von Witzen (die diskriminierende Anspielungen enthalten könnten), sondern auch jede politische Aussage oder Diskussion. Schöne neue, heile und politisch korrekte Welt? Wer den hinter braunen Papiertüten versteckten Alkoholkonsum, die Rauchergruppen auf den Straßen vor den Bürotürmen, den Drogenmarkt und die Sexclubs Amerikas kennenlernt, bekommt eine Ahnung davon, was sich in den privaten vier Wänden einer bigotten Gesellschaft abspielen mag. Nein, diese Art von Political Correctness ist nicht nur verlogen, sie züchtet auch neue Formen der Inquisition.

Unsicherheit gegenüber dem Anderssein

Der moralisch rigorose Umgang der Politik mit menschlichem Verhalten, Schwächen und Leidenschaften verrät die Unsicherheit gegenüber dem Anderssein und dem Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe und Kulturen. In Großbritannien entbrannte zur Weihnachtszeit eine Debatte über christliche Symbole in öffentlichen Räumen: Adventskränze und geschmückte Tannenbäume – nachweislich heidnische Traditionen – würden angeblich andere Religionen diskriminieren und die muslimischen und hinduistischen Teile der Bevölkerung verärgern.

Eine ähnliche Debatte führen wir in Deutschland über das Kopftuchverbot und die Kruzifixe in deutschen Schulen. Anstatt für ein unverkrampftes Miteinander unterschiedlicher Glaubens- und Lebensauffassungen einzustehen, schüren wir den Kulturkampf. Die einen streiten für den von allen missionarischen Ideen bereinigten öffentlichen Raum. Die anderen glauben immer noch an die gottgegebene christliche Vorherrschaft im europäischen Abendland. Wie aber, wenn nicht aus dem Streit zwischen gleichberechtigten Menschen, die unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Auffassung sind, sollen sich in einer demokratischen Gesellschaft gemeinsame Werte entwickeln? „Wenn es eine Lehre aus Auschwitz gäbe“, so Theodor W. Adorno, „wäre es Autonomie“. Die Lehre aus Auschwitz, schreibt Thomas Meyer in seinem Essay Die Identität Europas, sei weder das christliche Moralmonopol noch die Verdrängung religiöser Praxis aus dem öffentlichen Raum. Im Sinne unseres Grundgesetzes ist der Staat religiös neutral, wenn er gleichstellende Regeln für das friedliche Miteinander in kultureller Vielfalt entwickelt und die Religions- und Weltanschauungsfreiheit schützt.

Leider machen wir uns jetzt auch in Deutschland auf den Weg in den inneren Kulturkampf und in eine moderne Form der Verhaltensdiktatur. Ein anderes Beispiel ist die – zweifellos notwendige – Gesundheitsreform. Zur Finanzierung sollen Strafaktionen wie höhere Beiträge und Zuzahlungen gegen Krebskranke und chronisch Kranke durchgesetzt werden, gegen Menschen also, deren Vorsorgeverhalten und Lebensweise nicht den asketisch-moralischen Vorstellungen der Gesundheitspolitiker entsprechen. Die CDU will Sport- und Freizeitunfälle gleich ganz aus dem Leistungskatalog streichen und fordert für das Risiko der Lebensfreude mindestens die private Zusatzversicherung. Die Abgrenzungsprobleme solcher Regeln werden die Gesellschaft zusätzlich spalten.

Die Freiheit, ein risikoreiches Leben zu führen

Manche Kolleginnen und Kollegen im Bundestag hegen Zweifel, ob diese Trends in die richtige Richtung gehen. Aber sie trauen sich nicht mehr, als Verteidiger menschlicher Laster aufzutreten und für die Freiheit zu werben, ein risikoreiches Leben zu führen. Denn sie müssten befürchten, von der gesellschaftlichen Welle der angeblichen politischen Korrektheit niedergewalzt zu werden. Kaum ein rauchender Politiker bekennt sich noch öffentlich zum Tabakkonsum. Helmut Schmidt wird das Rauchen vielleicht noch milde lächelnd zugestanden, doch für das heutige Politiker-„Vorbild“ ist es längst tabu.

Nein, Lebensqualität muss nicht zwingend die Summe aller Laster sein. Aber durch den Ausschluss aller Genüsse, Geselligkeitskulturen und risikoreichen Sportarten erhöht sie sich sicher nicht. Manche Blüten, die die Debatten über den Nichtraucherschutz, den Jugendschutz, das Antidiskriminierungsgesetz und die geplante Gesundheitsreform treiben, halte ich für peinlich, sogar für religiös-fundamentalistisch, dumm und gefährlich. Ich möchte selbst entscheiden, ob Lebensgenüsse, Drogen und riskante Sportarten meiner Gesundheit und meinem Glück dienen. Auch will ich selbst bestimmen, wie ich meine Witze zensiere oder gegen Krankheiten vorbeuge. Mein Arzt kann mich beraten, mein Staat soll für Aufklärung und Regeln sorgen, die mich und meine Mitmenschen vor verwerflichen Lebensweisen und unsolidarischem Verhalten schützen. Ich erwarte vom Staat aber auch, dass er meine Freiheiten und meinen persönlichen Lebensentwurf schützt.

„Jeder solle nach seiner eigenen Fasson glücklich werden“, war das Motto des „Alten Fritz“. Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass die Freiheit des Einzelnen die Freiheit der Mitmenschen einschränkt. Es ist nicht immer einfach, dieses Spannungsverhältnis in der Gesellschaft menschlich und gerecht, solidarisch und klug zu organisieren. In seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender sagte Willy Brandt, unter den drei Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität sei ihm die Freiheit am wichtigsten. Manchen in der SPD mag Brandts Bekenntnis überrascht haben. Vor dem Hintergrund seiner Biografie und seiner Grundhaltung war es nur konsequent.

Welche Politiker mir Angst machen

Ich glaube nicht an das Paradies auf Erden und nicht an einen „neuen Menschen“, den der Staat mit Gesetzen schaffen kann. Ich glaube – trotz medizinischen Fortschritts und immer besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen – nicht an den Jugendwahn oder gar an Unsterblichkeit. Ich glaube nicht an eine drogen- und diskriminierungsfreie Gesellschaft – und würde in einer solchen Hygienediktatur auch nicht leben mögen. Eine zivilisierte und humane Gesellschaft verfolgt den kriminellen Missbrauch von Freiheiten und Menschenrechtsverstöße und macht ihre Kinder gegen Süchte stark. Der Barbarei ist sie überlegen, weil sie verständnisvoll, tolerant und hilfsbereit mit der menschlichen Unvollkommenheit umgeht – und sich auch selbst fragt, was sie strukturell zu Fehlverhalten wie Drogenmissbrauch beiträgt. Dagegen hat die Prohibition in der Geschichte noch nie ihre gut gemeinten Ziele erreicht, sondern stets kreative Ausweichmanöver, Kriminalität und Schwarzmärkte gefördert. Denn sie beseitigt nicht die eigentlichen ökonomischen und sozialen Gründe für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, sondern tabuisiert einfach menschliches Verhalten.

Ich habe deshalb Angst vor einem Staat, der seinen Bürgern per Gesetz das Verhalten vorschreiben will und individuelle Freiheiten im Namen eines allgemeingültigen Menschen- und Weltbildes erstickt. Und ich fürchte mich vor Politikern, die ihren Kompetenz- und Machtverlust, den sie angesichts von Globalisierung, Individualisierung und neuen Partizipationsansprüchen erleben, durch eine moralisch-rigorose Symbolpolitik ersetzen wollen.

Verfehlte Symbolpolitik dieser Art ist etwa die nach den Amokläufen von Erfurt und Emsdetten reflexartig wiederholte Forderung, Gewalt verherrlichende Videos und Computerspiele zu verbieten. Sie ist kein Ausdruck von Stärke, sondern belegt die Schwäche der Politik. Denn die Politik kann die individuellen und sozialen Kausalzusammenhänge, die zu solchen Profilierungstaten führen, nicht hinterfragen, ohne sich selbst in Frage zu stellen. So werden Politiker zu Kreuzrittern, die Ersatzpolitik betreiben. Wer nach Verboten ruft, muss unangenehme Fragen nach mangelnder Zeit und fehlender Zuwendung, nach Perspektivlosigkeit, Kontroll- und Selbstwertverlusten, nach verfehlter Bildungs- und Integrationspraxis sowie nach Fehlallokationen öffentlicher Mittel nicht mehr beantworten. Andererseits können Gesetze die Verantwortung der Eltern, Freunde, Lehrer, Nachbarn und Behörden nie erzwingen oder ersetzen. Die Ohnmacht des Publikums und die einfachen Antworten mancher Politiker sind also zwei Seiten derselben Medaille. Hier schiebt man sich gegenseitig die Verantwortung zu.

Stimmen hier die Relationen noch?

Wie steht es um die sozialen und ökologischen Folgen unserer kapitalistischen Produktionsweise für die Gesundheit der Menschen? Weltweit leben Menschen aufgrund einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung in elenden Verhältnissen mit geringer Lebenserwartung. In Deutschland hingegen werden wir immer älter und „gesünder“. Unsere größten Probleme scheinen die Nullrunde bei der Rente und das Rauchen in der Öffentlichkeit zu sein. Stimmen hier die Relationen?

Und wie steht es um die psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit, um die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, um nicht integrierte Einwanderer, um ältere Menschen, die den Anschluss verpasst haben? Was ist mit den Modernisierungsverlierern und mit der Zunahme von psychischen Erkrankungen und Suiziden in Deutschland? In welchem Verhältnis stehen zu alldem unsere Kleinstreparaturen am Gesundheitswesen oder ein „Nichtraucherschutzgesetz“?

Persönliche Freiheit ist immer mit sozialer Verantwortung verbunden. Das bleibt in allen Gesellschaften ein Spannungsfeld und ist der Urgrund demokratischer Politik. Moralische Tabus, die sich in den Vorschlägen zum Jugendschutz, Anti-Raucher- und Antidiskriminierungsgesetz ausdrücken, sind in einer pluralistischen Gesellschaft stets aufs Neue auszuhandeln. Aber das Kind darf nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Es gibt auch Minderheitenrechte. Wir können uns selbst, die Demokratie, den Pluralismus und die Freiheit auch zu Tode regulieren. Die ersten Vorschläge von Politikern, übergewichtige Zeitgenossen, die zu viel oder „falsch“ essen, mit höheren Steuern und Beiträgen zu belegen, liegen auf dem Tisch. Angesichts einer Gehirnwäsche dieses Ausmaßes frage ich mich, warum eigentlich die Elitefanatiker von „Scientology“ in Deutschland diskriminiert werden. Nur weil sie sich mit ganz ähnlichem Gedankengut Menschen gefügig machen und daraus Kapital schlagen?

Sie werden es geahnt haben: Ich bin Raucher und fahre gern Alpinski. Ich esse gerne gut und liebe Rotwein. Ja, ich lebe nach meinem eigenen Geschmack und versuche trotzdem Maß zu halten. Meine Cholesterinwerte sind leicht erhöht. Aber keine Angst, es geht mir gut und mein Arzt sagt, sonst sei alles in Ordnung. Das Leben, denke ich, bleibt so oder so gefährlich.

Im nächsten Heft antwortet Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, auf den Beitrag von Rolf Stöckel.

zurück zur Ausgabe