"Wir Mauerkinder" sollten aufhören zu mauern

In Heft 1/2002 der Berliner Republik schrieb Ines Langelüddecke, Deutschland zeige kein Interesse an der Generation der 20- bis 30-Jährigen aus dem Osten. Mag sein. Doch auf genau diese Generation kommt es an, wenn die innere Einheit doch noch gelingen soll

Ich war 11 in jenem Herbst 1989, als keiner wusste, wohin die Reise ging. Aufgewachsen bin ich auf der östlichen Seite der DDR, an der Grenze zu Polen. Die Oder trennte beide Länder, und daran hat auch der Fall der Mauer nichts geändert. Als ich Kind war, durfte ich kein Westfernsehen schauen. Den Westen kannte ich nur von den Ferien bei den Großeltern. Bei ihnen durfte ich schauen, was ich wollte. Eine Szene aus der Tagesschau prägte mein Bild vom Westen. Da war eine Demonstration in Berlin, Polizisten schlugen auf Demonstranten ein. Ich dachte, dass die drüben sich zwar tolle Sachen kaufen konnten, sonst aber ziemlich unterdrückt waren. Ich dagegen konnte friedlich mit meinem Fähnchen auf die Straße laufen, und die russischen Freunde passten auf, dass mir nichts passierte.

Die Einheit habe ich nicht gewollt, und meine Eltern wollten sie auch nicht. Geändert hat sich mein Bild vom Westen erst, als ich zu reisen begann. Nach einem Jahr in Amerika passte das Bild vom Besserwessi überhaupt nicht mehr. Und je mehr ich über die USA erfuhr, desto mehr lernte ich die Vorzüge Deutschlands kennen, das Rechtssystem etwa und den Sozialstaat auch. Und dann die Geschichte. Die Deutschen sind so sehr mit ihrer grausamen Vergangenheit beschäftigt, dass Identität Stiftendes kaum eine Rolle spielt. Aber wer heute jung ist, hat einen zwangloseren Umgang mit der Vergangenheit. Wenn es um den Nationalsozialismus geht, blicken wir nicht mehr reumütig zu Boden. Für mich ist diese Zeit weit weg. Und verantwortlich bin ich für das, worauf ich heute selbst Einfluss nehmen kann.
Der Ausflug in die Ferne hatte Folgen für mich. Die Erfahrungen mit Amerika veränderten mein Geschichtsbild, ermöglichten mir die Identifikation mit dem neuen, vereinigten Deutschland. Inzwischen fällt es mir fast schwer, mich über mein Ostdeutschsein zu definieren, von der Generation meiner Eltern habe ich mich entfernt. Für sie ist die Welt heute so einfach wie früher. Gut und böse. Krieg ist schlecht. Die Krise des Kapitalismus spitzt sich zu. Auf den Imperialismus der Amerikaner ist Verlass. Ähnlich in schwarz und weiß denken umgekehrt noch viele Westdeutsche. Gerade für sie hat sich nach der Vereinigung nichts geändert. Das Denken des Kalten Krieges bleibt verbreitet.

Heute bin ich neugierig auf die Welt, das schwarz-weiße Denken klappt nicht mehr. Jedes Argument scheint erst einmal bedeutsam - umso schwerer fallen die Antworten. Die Koalition der SPD mit der PDS ist so ein Fall, überhaupt der Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Was haben die früher gemacht? Wo sind die mit den Lampen, mit denen sie den Leuten beim Verhör ins Gesicht geblendet haben? Kann ich früheren IMs glauben, wenn sie heute sozialdemokratische Werte vertreten wollen? Warum haben die damals gemacht, was sie gemacht haben? Haben die alles vergessen? Würden sie die alten Methoden anwenden, wenn der Wind sich wieder drehte?

So ähnlich lauteten wohl die Fragen, die die Achtundsechziger ihren Eltern stellten. Die Wende liegt gerade erst 12 Jahre zurück. Bis zu unserem "68", also 23 Jahre nach dem Mauerfall, ist es noch eine Weile. Die späten sechziger Jahre waren eine Zeit der Bildungsrevolution. Die PISA-Studie zeigt, dass längst die Konterrevolution im Gange ist. Wird die Generation von 2012 in der Lage sein, die richtigen Fragen zu stellen? Und warum solidarisieren sich die Achtundsechziger nicht schon heute mit den Zwölfern?

Mag sein, dass sich dieses Land nicht für unsere Erfahrungen interessiert. Doch dann macht es einen großen Fehler. Gerade meine Generation mit ihren Erfahrungen ist wichtig für unsere Gesellschaft. Wir sind die Brücke zwischen der alten und der neuen Zeit. Wir wissen, wie der Westen funktioniert, aber wir wissen auch noch gut, wie die Ossis ticken und warum. Für die innere Einheit, wenn sie doch noch gelingen soll, hält die "Generation der Mauerkinder" den Schlüssel in der Hand.

Schwerer als wir, die wir die DDR noch mit eigenen Augen gesehen haben, hat es die Generation nach uns, die nur noch das verklärte Bild ihrer Eltern kennt. Von dieser Generation heißt es, sie wachse gesamtdeutsch auf. Aber für sie gibt es noch weniger Interesse. Sie wurde in eine Zeit der Unsicherheit geboren, in der sich die Eltern neu orientieren mussten und mit nie gekannter Unsicherheit zu leben hatten. Da war für die Kinder mit ihren Problemen wenig Zeit. Wie können Eltern und Lehrer Orientierung geben, wenn sie selbst nicht wissen, wo es lang geht? Was antwortet ein Sozialkundelehrer, der in der DDR schon Lehrer war, seinen Schülern? Jedes Kind glaubt irgendwann, es müsse sich nichts mehr sagen lassen. Fragen hat es trotzdem, und nach Orientierung sucht es auch. Der Rechtsextremismus des Ostens zeigt, wo Jugendliche heute ihre Antworten finden.

Vielleicht bin ich in der DDR besser auf das Leben im Kapitalismus vorbereitet worden als die ganz jungen von heute. Es heißt, in der DDR sei eigenes Denken nicht erwünscht gewesen. Mag sein. Umso stärker haben wir den Willen, uns nicht mit einfachen Antworten abspeisen zu lassen, durch die Erfahrung der Wende verinnerlicht.

In den Medien spielt die friedliche Revolution keine Rolle. Das macht die Identifikation mit dem damals Erkämpften schwer. Für die ehemaligen DDR-Bürger sowieso, aber erst recht für ihre Kinder. Wer hat schon gern einen Vater, der nur über Ungerechtigkeiten jammert, statt selbst anzupacken? Dabei hätten die Kinder doch allen Grund, stolz darauf zu sein, was ihre Eltern geschafft haben. Im Herbst 1989 sagte Stephan Heym, dass alle deutschen Revolutionen gescheitert seien. Immer hätten die Deutschen gekuscht. Jetzt war es anders. Zum ersten Mal.

Genau das sollte die Debatten über Vergangenheit und DDR beherrschen, nicht die Verdammung des Kommunismus. Verurteilen oder entschuldigen können vor allem die Betroffenen. Und die folgende Generation muss ihre Eltern in Frage stellen, muss sich, so gut es geht, ihr eigenes Bild vom Leben in der DDR machen. Unser "68" sollte vorgezogen werden, damit das Denken des Kalten Krieges ein Ende haben kann.

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