Wie solidarisch ist Europa?

Wenn die Haushalte und Unternehmen unseres Kontinents gegen Lieferunterbrechungen geschützt werden sollen, braucht Europa einen solidarischen Energiebinnenmarkt. Das setzt eine Wende im energiepolitischen Denken der Europäer voraus

Wenn in der Europäischen Union über die Sicherheit der Energieversorgung debattiert wird, richtet sich der Blick in aller Regel nach außen. Das Problem wird seit Jahren vor allem bei den Lieferländern von fossilen Brennstoffen verortet, zuvörderst bei Russland. Seit Beginn des Jahres ist immerhin auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Transitländern wie der Ukraine gewachsen. Aber das ändert nichts an der falschen Gleichsetzung von Versorgungssicherheit und Energieaußenpolitik. Denn so wünschenswert eine weitere Diversifizierung der Herkunftsländer und Transitrouten auch wäre " um eine wirklich vordringliche Aufgabe handelt es sich dabei nicht.

Statt Pipelineprojekten mit ungewisser Zukunft und vielen schwer beeinflussbaren externen Partnern Priorität einzuräumen, sollte die europäische Energiepolitik zunächst einmal ihre Hausaufgaben erledigen und sich auf EU-interne Projekte konzentrieren, besonders um die prekäre Gasversorgung zu sichern. Im Mittelpunkt sollten also nicht symbolisch hochgradig aufgeladene Importpipelines wie Nabucco stehen. Weit besser wären die deutliche Steigerung der Energieeffizienz und der weitere Ausbau erneuerbarer Energieträger, vor allem aber der Aufbau eines solidarischen Energiebinnenmarkts.

Dass sich mit einem deutlichen Zuwachs an Effizienz und erneuerbaren Energieträgern der Importbedarf beim Erdgas auch bei sinkender europäischer Eigenförderung bis 2020 stabilisieren ließe, ist ein relativ wenig beachteter Nebeneffekt der EU-Klimabeschlüsse vom Dezember 2008. Dass sich aber auch die Vollendung des EU-Binnenmarktprojekts im Energiesektor auf die Versorgungssicherheit Europas signifikant auswirken würde, ist in der breiteren energiepolitischen Debatte überhaupt noch nicht angekommen. Fakt jedoch ist: Ein funktionierender und um eine solidarische Komponente ergänzter EU-Gasbinnenmarkt würde für alle Mitgliedsstaaten einen größeren Diversifizierungseffekt mit sich bringen als jede zusätzliche Importpipeline. Zugleich würde er eine größere Flexibilität bei regionalen Lieferstörungen nach sich ziehen als jeder nationale Krisenreaktionsplan. Der Prozess einer EU-weiten Gasmarktintegration würde letztlich auch zu einer Europäisierung der energiepolitischen Interessenlagen der 27 Mitgliedsstaaten führen " und damit die Voraussetzungen für eine gemeinsame Energieaußenpolitik erst schaffen.

Warum wir einen Netzverbund brauchen

Dass über den Zusammenhang von Energiebinnenmarkt und Versorgungssicherheit kaum diskutiert wird, liegt nicht nur an einer unseligen Lokalisierung von Risiken und Bedrohungen im Verhalten der "Anderen", sondern auch an einer sehr einseitigen Interpretation des Binnenmarktprojekts als Instrument der Wettbewerbspolitik. Im Mittelpunkt der Debatte über das kürzlich von Parlament und Ministerrat beschlossene 3. EU-Binnenmarktpaket standen fast ausschließlich die Eigentumsstrukturen der so genannten vertikal integrierten Energieversorger.

Diese Unternehmen sind nicht allein in der Stromproduktion beziehungsweise im Gasimport tätig, sondern auch im Besitz der überregionalen Transportnetze. Diese Konstruktion gibt einstigen Gebietsmonopolisten wie E.ON, RWE oder Gaz de France in der Tat die Möglichkeit, konkurrierende Anbieter beim Netzzugang zu diskriminieren. Dabei wird jedoch meist übersehen, dass die Neuregelung der Eigentumsstrukturen von Netzbetreibern kein Selbstzweck ist, sondern lediglich ein energiepolitisches Mittel unter vielen. Das eigentliche Ziel einer vollständigen europäischen Energiemarktintegration muss es sein, ein weitgehend einheitliches Marktgebiet zu schaffen, auf dem jeder Anbieter seine Ware an jedem Ort ungehindert verkaufen und umgekehrt jeder Konsument seinen Lieferanten frei auswählen kann. Striktere Entflechtungsvorschriften zur Trennung von Netzen und Produktion sind dafür zwar notwendig, weil sie die Wettbewerbsbedingungen für neue Anbieter aus dem In- und Ausland verbessern. Binnenmarktpolitisch weit wichtiger aber ist die stärkere infrastrukturelle Verknüpfung der mitgliedsstaatlichen Energiemärkte sowie die europaweite Harmonisierung der Handelsregeln und technischen Netzkodizes, kurz: der koordinierte Aufbau eines europäischen Netzverbunds, der einer einheitlichen Energiemarktregulierung unterworfen ist. Von diesem Endziel aber ist die EU auch nach den Beschlüssen zum 3. Binnenmarktpaket noch weit entfernt.

27 Energiemärkte, 27 Interessenlagen

Heute existieren de facto 27 mitgliedsstaatliche Energiemärkte, die sich in ihrem Energieträgermix und ihrer Importabhängigkeitsstruktur stark voneinander unterscheiden. Bezogen auf den gesamten Gasverbrauch der EU liegt der Anteil russischer Lieferungen bei 25 Prozent. Viele mittel- und osteuropäische Staaten beziehen zwischen 70 und 100 Prozent ihres Gasbedarfs aus Russland, Deutschland immerhin noch überdurchschnittliche 37 Prozent. Spanien und Portugal hingegen erhalten keinerlei russisches Gas, dort dominieren afrikanische Lieferanten.

Zugleich unterscheidet sich auch die Bedeutung von Erdgas im jeweiligen nationalen Energiemix. Während Deutschland beim Anteil von Erdgas am gesamten Energieverbrauch knapp unterhalb des EU-Durchschnitts von 24 Prozent liegt, spielt Gas in Polen (13 Prozent) eine eher nachgeordnete, in Ungarn (41 Prozent) jedoch eine außerordentlich wichtige Rolle. Laut geltendem EU-Recht ist jeder Mitgliedsstaat für seine Versorgungssicherheit selbst verantwortlich. Daher ist es wenig verwunderlich, dass 27 differierende Marktstrukturen in 27 energieaußenpolitische Interessenlagen münden. Das berühmte "mit einer Stimme sprechen" muss unter diesen Bedingungen eine Illusion bleiben.

Was Energiesolidarität wirklich bedeutet

In einem funktionierenden europäischen Energiebinnenmarkt wären Haushalte und Unternehmen wesentlich besser gegen das Risiko von Lieferunterbrechungen gewappnet als heute. Teilausfälle der Gaszufuhr, wie sie im Gefolge des russisch-ukrainischen Gasstreits in einigen der nur mangelhaft vernetzten Staaten Mittel- und Südosteuropas zu beobachten waren, wären kaum noch zu befürchten. Solange irgendwo im Gesamtmarkt Reservekapazitäten verfügbar wären, würden diese in Krisenfällen auch geliefert werden " wenn der Preis stimmt. Dieser Marktmechanismus ist " anders als von den deutschen Gasversorgern während der Krise im Januar nahegelegt " jedoch nicht mit dem Prinzip der Energiesolidarität zu verwechseln.

Wirkliche Solidarität kann nicht allein auf kommerziellen Interessen beruhen. Sollen sich gerade auch die ärmeren Mitgliedsländer der EU tatsächlich auf eine Unterstützung im Falle einer kurz- bis mittelfristigen Lieferkrise verlassen können, werden verbindliche Regeln benötigt. Die praktische Verwirklichung des Prinzips der Energiesolidarität würde, obwohl die entsprechenden Mechanismen wohl nie oder nur selten in Anspruch genommen werden müssten, nicht nur eine Erhöhung der Versorgungssicherheit mit sich bringen. Sie würde vor allem auch den Raum für eine Europäisierung der energiepolitischen Interessenlagen öffnen, für eine schrittweise De-Nationalisierung der mitgliedsstaatlichen Energiepolitiken.

In einem solidarischen Binnenmarkt wäre kein Land mehr auf sich allein gestellt, könnte kein Land gezielt von einem Gasproduzenten unter Druck gesetzt werden. Die Herkunft von Gaslieferungen und der Verlauf von Pipelines wären anders als heute keine legitime Ursache tief greifender Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten mehr. Bilaterale Vertragsbeziehungen zwischen Gasversorgern würden zwar weiterhin fortbestehen. Jedoch würde Gas aus der Ostseepipeline nicht mehr in den deutschen, sondern in einen europäischen Markt eingespeist werden " und damit grundsätzlich allen Konsumenten zur Verfügung stehen. Zwar würde russisches Gas auf der iberischen Halbinsel auch zukünftig nur eine untergeordnete Rolle spielen, die Transportkosten wären schlicht zu hoch. Da Spanien und Portugal aber im Krisenfall verpflichtet wären, die Mittel- und Osteuropäer aus eigenen Beständen zu unterstützen, würden sie sich sehr viel stärker in die europäische Energieaußenpolitik gegenüber Russland einbringen als bisher. Zugleich würden die Gaslieferanten Nordafrikas endlich auch in den außen- und wirtschaftspolitischen Fokus der neuen Mitgliedsstaaten geraten.

Auf dem Weg zur Schaffung eines funktionierenden Energiebinnenmarkts macht die EU seit Mitte der neunziger Jahre kleine, aber immerhin kontinuierliche Fortschritte. Perspektivisch wird die EU vor allem eine eigenständige Energieregulierungsbehörde benötigen, deren Befugnisse weit über die jüngst beschlossene Einrichtung einer Agentur zur Koordination der nationalen Regulierer hinausgeht. Neben dem 3. Binnenmarktpaket, dem schon in der nächsten Amtsperiode der Kommission das 4. Gesetzespaket folgen dürfte, haben Parlament und Ministerrat inzwischen auch die Bereitstellung von vier Milliarden nicht genutzter Budgetmittel vereinbart, die in den Ausbau der europäischen Energieinfrastrukturen fließen sollen, unter anderem in grenzüberschreitende Gaspipelines und Terminals für die Anlieferung von verflüssigtem Erdgas.

Der Lackmustest kommt erst noch

Diese Entscheidung kommt durchaus einem Paradigmenwechsel gleich, hat die europäische Politik bisher doch stets die Ansicht vertreten, entsprechende Investitionen lägen vor allem in der Verantwortung der Unternehmen. Wenn es der EU mit der Einstufung der Energieversorgung als öffentliches Gut ernst ist, wird sie Zukunftsinvestitionen in die Versorgungssicherheit nicht auf Maßnahmen im Rahmen von Konjunkturprogrammen beschränken dürfen. Vor allem das bislang chronisch unterfinanzierte Programm "Transeuropäische Energienetze" muss zu einem finanziell schlagkräftigen Instrument ausgebaut werden.

Der wirkliche Lackmustest aber steht noch aus: die praktische Verwirklichung des Prinzips der Energiesolidarität. Noch in diesem Jahr wird die EU-Kommission einen Vorschlag für die Novellierung der Richtlinie zur Gasversorgungssicherheit vorlegen, ein Vorhaben, bei dem die Positionen der Mitgliedsstaaten weit auseinander gehen werden, vor allem zwischen den EU-15 und den mittel- und osteuropäischen Neumitgliedern. Energiesolidarität setzt neben einer zwischenstaatlichen Transportinfrastruktur vor allem die Verpflichtung voraus, Reserven bereitzuhalten, die im Krisenfall freigegeben werden können. Da die Speicherung von Gas aufgrund seiner stofflichen Eigenschaften um ein Vielfaches teurer ist als die von Öl, sind umfangreiche Bevorratungsverpflichtungen sehr kostspielig. Zudem sind die Speicherkapazitäten " aufgrund der dafür notwendigen geologischen Gegebenheiten " innerhalb der EU sehr ungleichmäßig verteilt und werden derzeit überwiegend von den Gasversorgungsunternehmen selbst betrieben. Damit sich alle Mitgliedsstaaten auch tatsächlich auf das Funktionieren europäischer Energiesolidarität verlassen können, muss eine verbesserte Gassicherheitsrichtlinie aber nicht nur anspruchsvolle Vorgaben für die Eigenvorsorge enthalten, sondern auch klare Definitionen für Krisenfälle und Kompensationsregeln für erhaltene Solidaritätslieferungen festschreiben.

Ist es den Europäern wirklich ernst?

Energieversorgungssicherheit darf zukünftig nicht mehr mit Energieaußenpolitik gleichgesetzt werden, deren Bedeutung vorläufig zugunsten EU-interner Maßnahmen deutlich relativiert werden sollte. Erfolge in der EU-Energieaußenpolitik setzen ein gemeinsames europäisches Interesse und damit die Schaffung eines solidarischen Energiebinnenmarkts voraus. EU-interne Maßnahmen haben den Vorteil, dass sie im Wesentlichen ohne Beteiligung externer Akteure implementiert werden können. Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass sich in relativ unspektakulären Politikfeldern wie Infrastrukturausbau, Energiemarktregulierung und Risikovorsorge erweisen wird, wie ernst es den Europäern mit einer gemeinsamen Versorgungssicherheitspolitik tatsächlich ist.

zurück zur Ausgabe