Wie solidarisch ist das Polen der Kaczynskis?

zu Wawrzyniec Smoczynski, In der permanenten Krise, Berliner Republik 6/2006

Präzise und pointiert beschreibt Wawrzyniec Smoczynski die Kalküle, Machtmechanismen und gesellschaftlichen Hintergründe der gegenwärtigen polnischen Regierungsequipe. In kondensierter Form lautet seine Interpretation des Phänomens Kaczynski: Im vergangenen Jahrzehnt hat sich in Polen infolge einer marktradikalen sozialökonomischen Umgestaltung eine Art nachkommunistisches „Prekariat“ herausgebildet, durch dessen Mobilisierung die Brüder Kaczynski die Gipfel der polnischen Politik erstürmten. Da die Zwillinge (zumindest auf absehbare Zeit) nicht in der Lage sind, ihr Versprechen vom „sozialen Polen“ einzulösen, festigen sie ihre Positionen durch eine zunehmende Polarisierung des politischen Raums und die Herbeiführung einer „permanenten Krise“, in der lediglich die Intervention des politischen Machtzentrums für Ordnung sorgt.

Smoczynskis Analyse ist im Kern zuzustimmen, wennschon seine Argumentationslinie hie und da brüchig wird. Etwa wenn es um das Fehlen von „Volksparteien“ geht, was zweifellos zu den Funktionsproblemen der polnischen Demokratie beigetragen hat. Ein Blick auf die Tschechische Republik oder Ungarn zeigt, dass auch nach „40 Jahren Kommunismus und 17 Jahren Turbokapitalismus“ durchaus gefestigte Catch-All-Parteien entstehen können – wenn Elitenfraktionen kooperationswillig sind und die institutionellen Voraussetzungen stimmen. Gerade die Lage in diesen beiden Ländern zeigt allerdings auch, dass die Existenz konsolidierter Parteienstrukturen allein noch keineswegs für Stabilität und Berechenbarkeit sorgen.

Auch sollte man wohl das Verhältnis der Kaczynskis zum „Kompromiss“ differenzierter sehen. Für Smoczynski bedeutet das kategorische Nein der Zwillinge zum Konsenswerk Runder Tisch eine Ablehnung jeglicher Form von einvernehmlicher politischer Entscheidungsfindung. Nun ist aber gerade die Zusammenarbeit der ethisch-normativen Erneuerer Lech und Jaroslaw Kaczynski mit skandalträchtigen Figuren wie Andrzej Lepper und Konsorten ein immenser Kompromiss – und zugleich ein Makel beim Versuch, einen politisch-moralischen Neuanfang in Form einer „Vierten Republik“ zu machen. Das aus Machtstreben in Kauf genommene Bündnis mit Diskredierten und Radikalen, die man noch unlängst scharf bekämpfte, scheint ein größeres Problem für die politische Kultur Polens zu sein, als der – zugegeben: wenig appetitliche – Hang zu Mehrheitsdemokratie und polarisierter Auseinandersetzung.

Die Zeit der Nichtideologie war schon

Vor allem bei Smoczynskis Schlussfolgerungen möchte ich aber Widerspruch anmelden. Ja, die Kaczynskis sind ganz entscheidend das Produkt eines Versagens der Reformeliten in den anderthalb Dekaden nach 1989. Egal ob die Regierungen von der christlich-syndikalistischen Solidarnosc oder den sozialdemokratisierten Exkommunisten gestellt wurden, niemand formulierte die soziale Frage des neuen Polen. Mit der Parole vom „solidarischen Polen“ haben die Kaczynskis dieses Thema auf die politische Agenda gesetzt – auch wenn praktische Neuanstöße bislang weitgehend ausblieben. Der Ruf nach einem gemeinschaftlichen Polen und das Projekt Vierte Republik sind jedenfalls sehr wohl Ausdruck einer Repolitisierung des seelenlosen Reformnarrativs des nachkommunistischen Umbaus von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat.

Anders ausgedrückt: Die von Wawrzyniec Smoczynski angemahnte „nichtideologische und transformative“ Politik gab es bereits. Sie wurde von den Technokraten und Modernisierern der neunziger Jahre ins Werk gesetzt. Sie ist also gerade keine Antwort auf die Kaczynskis, sondern deren Ursache. Worum es geht, ist eine durchaus in ein ideologisches Fundament eingebettete Entgegnung auf den sozialen Appell populistischer Mobilisierung und keine „unpolitische“ Neotechnokratie. Im Zentrum einer solchen Debatte muss die Suche nach einem posttransformativen Wohlfahrtsstaat und seinen Möglichkeiten in einer sich globalisierenden Europäischen Union stehen.

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