Wie sich Aufbruch anhört

Barack Obama hält mitreißende Reden. Aber kann erneuerte politische Sprache auch die Wirklichkeit erneuern? Vielleicht. Auf jeden Fall belegt das Phänomen Obama die verbreitete Sehnsucht nach einer Politik, die sich echt und lebendig anfühlt

Der Dichter W. H. Auden hat einmal gesagt, dass Gedichte nichts bewirken. Eine der Fragen im Kontext der Vorwahlen der Demokratischen Partei lautet, ob die Sprache der Politik ebenso impotent ist. Barack Obamas Kampagne gründet auf der Annahme, dass dies nicht der Fall ist. Ihre Idee ist, dass öffentliches Sprechen eine Art des Handelns sein kann.

Zynismus, Zweifel und Angst sind die Haltungen, mit denen sich Obama in seinen wichtigsten Reden auseinandersetzt. Hoffnung, Wandel und Gemeinsinn (common purpose) dagegen sind Obamas positive Bezugspunkte, die er zusammenführt zu dem Refrain „Yes we can“. Es ist verständlich, dass Kritiker – Zyniker? – diese Art der Sprache als diffuse Wohlfühlrhetorik abtun.

Ende Januar erzielte Barack Obama einen massiven, in dieser Höhe völlig unerwarteten Vorwahlsieg in South Carolina. Seine Siegesrede sah ich dort, vor dem Fernseher, in einer randvoll mit Obama-Wahlhelfern gefüllten kleinen Hotellobby. Dabei wurde mir klarer, was die grundsätzliche Sprache des Senators aus Sicht der Menschen bedeutet – und warum sie ihnen handfest vorkommt. (Der Ehrlichkeit halber: Ich hatte gerade selbst zwei Tage als Wahlhelfer für Obama in South Carolina zugebracht, an Türen geklopft und Bürger über ihr gesetzliches Wahlrecht aufgeklärt.)

Die ungefähr 60 Leute in dem Aufenthaltsraum waren völlig aus dem Häuschen über die Nachricht, dass ihr Kandidat mit großer Mehrheit gewonnen hatte. Auf Obama entfielen mehr als doppelt so viele Stimmen wie auf die Zweitplatzierte Hillary Clinton, und die Wahlbeteiligung hatte sich im Vergleich zur Vorwahl von 2004 verdoppelt. Allein für Obama waren in South Carolina mehr Stimmen abgegeben worden, als 2004 für alle Kandidaten zusammen. Grund genug für ausgelassenes Feiern.

Aber als Obamas Rede begann, war der gesamte Raum augenblicklich still und aufmerksam. Niemand murmelte in sein Handy, niemand bejubelte seinen Kandidaten. Keiner rief lauthals „Race doesn’t matter“ oder „Yes we can“, die Schlachtrufe, die uns per Fernseher aus der nur wenige hundert Meter entfernten Veranstaltungshalle erreichten. Während die auf Applaus angelegten Redepassagen die unmittelbar Anwesenden in der Halle zu begeistertem Beifall veranlassten, blieb unsere zufällige Schar in der Lobby des Columbia Hampton Inn ganz und gar ruhig.

Das ist nicht das Amerika, an das wir glauben

Der Lärm setzte erst ein, als Obama eine Politik anprangerte, „die uns erklärt, wir müssten innerhalb von Kategorien denken, handeln und sogar wählen, die uns angeblich vorgegeben sind: Die Annahme, dass junge Leute apathisch sind. Die Annahme, dass Republikaner nicht zu uns Demokraten überlaufen werden. Die Annahme, dass den Wohlhabenden die Armen völlig egal sind und dass die Armen nicht wählen gehen. Die Annahme, dass schwarze Amerikaner nicht weiße Kandidaten wählen können; dass Weiße keine schwarzen Kandidaten wählen werden; dass sich Schwarze und Latinos nicht vertragen können“.

Bei Obamas nächstem Satz – „Das ist nicht das Amerika, an das wir glauben“ – hielten alle Anwesenden zuerst kollektiv den Atem an. Dann plötzlich brachen Jubel, Klatschen, Trampeln aus. Während der restlichen Rede hatte ungefähr jeder Zweite von uns Tränen in den Augen.

Wer Obamas Rede auf taktisch gewählte Inhalte abklopft, wird schnell fündig: hier ein ausgefahrener Ellenbogen, da eine Attacke gegen die Deutung, Obama habe seinen Sieg nur schwarzen Wählern zu verdanken. Hier die Andeutung, er könne Wähler der Republikaner ins Lager der Demokraten hinüberziehen; dort der Hinweis auf Clintons Vorsprung unter ethnischen Latinos. Aber jene, die die Rede verfolgten und nicht als Taktik verstanden, sondern als Ansprache an sie ganz persönlich, hörten eine andere Botschaft. Sie hörten, dass Grenzen, die ihnen immer als „selbstverständlich“ und „unüberwindlich“ dargestellt worden waren, in Wirklichkeit veränderbar seien: die Zwangsidentitäten von Rasse und Partei; die überhebliche Annahme, man wisse bereits alles über eine Person, wenn sie vor einem stehe; die Idee, politische Überzeugungen seien nur Stammesfetische – hier Fox News, dort National Public Radio; das verkrampft höfliche Verhalten von Weißen gegenüber Schwarzen und umgekehrt. Die Menschen in der Hotellobby waren etwa zur Hälfte schwarz und zur Hälfte weiß, vertreten waren alle Altersgruppen, von Teenagern bis zu 80-Jährigen – und alle gemeinsam hatten offensichtlich die Nase voll von der untergründigen, aber allmächtigen Idee, sie müssten einander im Rahmen vorgegebener Kategorien begegnen und sich auch selbst an diese Kategorien und Rollenzuschreibungen halten.

Muss politische Sprache platt sein?

Handelt es sich hier um einen genuin politischen Impuls? Oder geht es bloß um ein – im zynischen Sinne des Wortes – persönliches und individuelles Gefühl? In gewisser Hinsicht ist die Sache auf elementare Weise politisch, denn sie betrifft die Frage, ob politische Sprache platt sein muss: ein kodiertes und ritualisiertes Vokabular ohne Verbindung zu Alltagserfahrung und Lebenswelt. In anderer Hinsicht dagegen geht es ganz und gar um Persönliches. Die Sehnsucht nach offenen, ehrlichen und direkten Beziehungen mit anderen Menschen gerät zur Kompassnadel politischer Erwartungen. Als unauthentisch beiseite geschoben wird dann jede Art der politischen Sprache, die diese Sehnsucht nicht ernst nimmt.

Dies entspricht den Erfahrungen der Amerikaner, die in meinem Alter – 33 – oder jünger sind. Identitäten, die noch vor kurzem zwangsläufig und festgeschrieben waren, sind heute frei wählbar – was freilich nicht heißt, sie seien „einfach“. In Genderfragen bewegen wir uns heute auf postfeministischem Terrain. Das bedeutet nicht bloß, dass die alten Geschlechterrollen aus der Zeit vor den siebziger Jahren verschwunden sind. Auch die hoch politisierten Rollenmuster der vergangenen 20 bis 30 Jahre haben sich erschöpft. Heute versuchen alle so gut sie können, ihre je eigene persönliche Rolle zu finden, was oft mit einer Menge Unbehaglichkeit und Konfusion verbunden ist.

Zwischen Freiheit und Zugehörigkeit

Der dramatischste Wandel der vergangenen Jahrzehnte betrifft die Frage der sexuellen Orientierung: Die Angehörigen einer früher als verächtlich geltenden sexuellen Kaste sind heute, im Großen und Ganzen, einfach nur Mitmenschen. Und umgekehrt weigern sich inzwischen viele junge Schwule und Lesben, irgendwelche vorgegebenen Muster für Stil und Habitus zu befolgen. So wenig sie gezwungen seien, straight zu sein, sähen sie sich verpflichtet, ihre Homosexualität auf irgendeine „typische“ oder erwartbare Weise auszuleben, sagen sie.

Das Problem der Rassenzugehörigkeit bleibt vermutlich der handfesteste und destruktivste Mythos in Amerika, aber selbst diese Frage stellt sich heute in Wirklichkeit viel differenzierter und individueller als noch vor einer Generation. Eine Umfrage hat jüngst ergeben, dass 44 Prozent aller schwarzen Amerikaner meinen, es existiere in den Vereinigten Staaten keine einheitliche „schwarze“ Rasse. Obamas eigene Biografie bringt denn auch keineswegs die diffuse Idee zum Ausdruck, hier sei jemand „jenseits von Rasse“ angekommen. Vielmehr geht es um die persönliche Entscheidung – halb Selbsterschaffung, halb Selbstentdeckung –, sich überwiegend mit einer bestimmten Gemeinschaft und Tradition zu identifizieren. Wo Menschen auf diese Weise in eine Gemeinschaft eintreten, da muss dies zugleich aber auch die betreffende Gemeinschaft selbst verändern. Freie Entscheidung und Authentizität, Freiheit und Zugehörigkeit sind die einander zuweilen zuwiderlaufenden Ideale, die diese Art der Lebensgeschichte zu vereinbaren versucht. Seine anscheinend erfolgreiche Anstrengung, dieses Ziel zu erreichen, lässt Obama so emblematisch erscheinen.

Wir schöpfen unsere Möglichkeiten nicht aus

In politischer wie in persönlicher Hinsicht – die Grenzen sind hier fließend – widersetzt sich Obamas Sprache herkömmlichen Vorstellungen davon, wer oder was jemand zu sein und wie die Welt zu funktionieren habe. Wenn er die Politik der reinen Taktik und der vorgegebenen Regeln anprangert, führt er in den politischen Diskurs ein Grundgefühl ein, dass viele im Publikum bezogen auf ihr eigenes Leben teilen: dass sie ihre persönlichen Möglichkeiten nicht genügend ausschöpfen und die Welt ihre jeweiligen Fähigkeiten nicht ausreichend wahrnimmt. Aus dieser Perspektive betrachtet, steckt die heutige Politik in der Falle eines lähmenden, den Geist unterdrückenden Schablonendenkens. In solch einer Szenerie gilt Zynismus schon unter 24-jährigen Wahlkampfhelfern als Ausweis erwachsener Reife.

Lässt Sprache etwas geschehen? Was die Obama-Kampagne zu bewirken versucht, ist ein Realignment, eine grundlegende Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. In solch einer Konstellation baut veränderte politische Sprache Neues auf, wo ältere politische Rhetorik unglaubwürdig und bedeutungslos geworden ist. Sie bietet neue Bilder von Staatsbürgerschaft und Gemeinsinn, sie bezieht eine Wirklichkeit ein, die die alte Rhetorik ignoriert.

Um richtig einzuschätzen, was Obama zu bewerkstelligen versucht, ist es hilfreich, seine Situation mit zwei erfolgreichen Realignments der Vergangenheit zu vergleichen. Im Jahr 1915 verwarf Woodrow Wilson die libertäre präsidentielle Sprache des gesamten vorausgegangenen Jahrhunderts. Diese Rhetorik des Laissez-faire band den Bürgerstatus an unveräußerliche persönliche Rechte, ganz besonders die Vertragsfreiheit. Diese Sprache lässt sich zurückverfolgen bis zu Thomas Jeffersons Amtseinführungsrede; nach dem Bürgerkrieg wurde sie zum (offiziell) rassenblinden Ideal amerikanischer Freiheit. Ihre Schlüsseltugenden waren individuelle Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung, die Attribute des Selfmade-Mannes.

Wilson hingegen erklärte, die Wirtschaft sei zu schnell gewachsen und habe sich zu komplex entwickelt, um noch mit derart einfachen Regeln geordnet werden zu können. An ihre Stelle setzte er eine progressive Vorstellung von Bürgerschaft. Er sprach von den bedrohten Arbeitern in den Fabriken, von Frauen und Kindern ebenso wie von Männern. Diese Bürger könnten ihr Leben überhaupt nur dann in die eigenen Hände nehmen, wenn sie von der starken Hand des Staates geschützt würden, erklärte er.

Das Recht, große Träume zu träumen

Von Franklin Roosevelt bis Richard Nixon blieb im 20. Jahrhundert diese Wilsonsche Vorstellung von Bürgerschaft und Staat gültig. In den siebziger Jahren jedoch war sie erschöpft. Staatliche Regulierung galt nun nicht mehr als heroisches Instrument zur Herstellung staatsbürgerlicher Würde, sondern als bürokratischer Hemmschuh. Kulturelle Konflikte um den Vietnamkrieg sowie Rassenunruhen durchlöcherten den Wilsonschen Konsens zusätzlich.

Ronald Reagans Präsidentschaft griff auf eine ältere Vision von Bürgerschaft zurück. In seinen Amtseinführungsreden bestritt der neue Präsident, was für Generationen von Präsidenten selbstverständlich gewesen war: dass die Welt zu komplex sei, um mittels individueller Entscheidungen regiert zu werden. Reagan befand, dass allein die Übermacht des Staates den Amerikanern die Hoheit über das eigene Leben genommen habe. Er erklärte das Träumen großer Träume zum unveräußerlichen Recht. Seine Version von Bürgerschaft war das Autonomie-Ideal des 19. Jahrhunderts, aufgepeppt durch den Esprit von Hollywood. Die Aufgabe des Staates bei der Verwirklichung dieses Ideals bestand darin, sich selbst möglichst umfassend zu demontieren und dünnezumachen.

Wilsons Ausgangspunkt war die Wahrnehmung, dass sich die Welt verändert hatte. Er sah, dass sich der einfache Wunsch nach einem sicheren Leben und das amerikanische Ideal des selbstbestimmten Einzelnen nicht mehr verwirklichen ließen. Reagans Grundannahme lag näher an Obamas Ausgangspunkt: dem Gefühl, dass es den Amerikanern an einer gemeinschaftlichen, nationalen Vision fehlt, die ihrem individuellen Selbstverständnis entspricht, Träger enormer Chancen und Möglichkeiten zu sein – Träumer großer Träume, wie sie der Präsident aus Hollywood so gepriesen hatte. So gesehen schickt sich der junge schwarze Aufsteiger an, eine erwachsene Antwort auf den alten weißen Präsidenten zu formulieren.

„Tut selbst etwas“, sagt Obama

In den vergangenen zwei Jahrzehnten fand die amerikanische Politik auf dem Spielfeld statt, das Ronald Reagan geschaffen hatte. Sowohl Bill Clinton als auch George Bush spülten Reagans manchmal harten Individualismus mit Hilfe kommunitaristischer Sprache weich: Begriffe wie „Charakter“, „Verantwortung“, „Dienst“ und „Gemeinschaft“ durchzogen ihre großen Reden wie ein Pianissimo der Tugend. Aber keiner von beiden fand eine Sprache der Staatsbürgerschaft und des nationalen Gemeinsinns.

Ob Obama dies kann, ist eine offene Frage. „Veränderung ist schwierig“ und „Wandel braucht Zeit“ sind Sätze, deren regelmäßige Wiederholung ihm wichtig ist. Beides sind zwar Binsenwahrheiten, gleichwohl verleihen sie Obamas Reden überraschendes zusätzliches Gewicht. Wie John F. Kennedys Aufrufe zum Dienst an der Nation bedeuten diese Sätze, dass der Sprecher nicht nur das passive Wohlwollen seiner Zuhörer anstrebt. Er will sie aufrütteln, selbst etwas zu tun, wenn sie nach Hause gehen. Er will ihnen ein vergrößertes und verbessertes Bild von sich selbst vermitteln, gerade damit sie auf dieser Grundlage selber zu handeln beginnen.

„Zynismus“ und „Zweifel“ seien nicht bloß die Gebrechen bestimmter Kandidaten und ihrer Wahlkampfteams, sondern gesamtamerikanische Übel, betont Obama. Bloße Erbauungsreden sind die gesprochene Entsprechung von Pillen; sie schaffen vorübergehende Linderung oder ein momentanes Hochgefühl. Mit seinen besten Reden versetzt Obama seine Anhänger in Begeisterung; aber er tut zugleich alles ihm Mögliche, um dieses Gefühl zum Ausgangspunkt für Selbstverpflichtung und Identität zu machen.

Noch hat Barack Obama grundlegende Fragen nicht beantwortet. Was bedeutet seine Art, über Politik zu sprechen und Politik fühlbar zu machen, im Hinblick darauf, was Bürger tun sollten? Was bedeutet Obamas politische Rhetorik im Hinblick auf die Aufgaben des Staates? Die mit Wilsons Realignment verbundene Sprache erschuf eine neue Begründung für Staat und Regierung, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang vorherrschte und noch immer ihre Gültigkeit besitzt. Reagans Vision trieb die Rückkehr zur Laissez-faire-Ökonomie an, deren Wirkungen ebenfalls bis heute fortdauern. Obama hat die amerikanische Vorstellungswelt und Erfahrung um eine staatsbürgerschaftliche Vision ergänzt; das ist etwas, das viele bereits für unmöglich hielten.

Er ist noch weit davon entfernt, daraus ein Gesamtbild von Staat, Regierung und Governance oder eine konkrete Idee von Bürgerschaft zu entwickeln. Aber er hat gezeigt, dass er inmitten des Wahlkampfes fähig ist, Neues hinzuzulernen. Das gilt nicht bloß für die Spielregeln des politischen Wettbewerbs, sondern auch für seine ständig verfeinerte politische Botschaft: Was genau will er zum Ausdruck bringen? Und wie erreicht es seine Zuhörer? Die Reaktion der Amerikaner belegt die intensive Sehnsucht nach einer Politik, die sich echt und lebendig anfühlt.

Übrigens: W. H. Auden übertrieb, als er Gedichte für impotent erklärte. Mindestens können Wörter bewirken, was Robert Frost – auch er ein Dichter, auch er kein Optimist – „einen zeitweiligen Aufschub der Verwirrung“ nannte. Und in solchen Augenblicken handeln wir.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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