Wie der Osten verloren wurde

Noch vor zehn Jahren dominant, heute fast marginalisiert: In Ostdeutschland blickt die SPD auf einen beispiellosen Absturz zurück. Kein Wunder: Im Wahlkampf 2013 ließen Kampagne und Kandidat ohne jede Not selbst beste Gelegenheiten liegen

Ganz Ostdeutschland ist schwarz. Ganz Ostdeutschland? Nein, einen roten Fleck in der Mitte gibt es noch. Von Ra­thenow über Brandenburg an der Havel bis in den Fläming zieht sich der einzige Wahlkreis, der bei der Bundestagswahl 2013 in Ostdeutschland von der SPD gewonnen wurde. Dort hat Frank-Walter Steinmeier die Ehre der ostdeutschen SPD gerettet. Auch wenn sein Vorsprung nur gut 300 Stimmen betrug.

Als die SPD noch 40 von 58 Wahlkreisen gewann

Vor elf Jahren sah die Karte der gewonnenen Wahlkreise noch ganz anders aus. Bis auf ein paar schwarze Flecken im Osten von Sachsen und im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern war die Wahlkreiskarte rot. Von 58 ostdeutschen Wahlkreisen gewann die SPD 40, 16 gingen an die CDU, 2 an die PDS. Innerhalb eines knappen Vierteljahrhunderts hat sich das Parteiensystem in Ostdeutschland nun bereits zum dritten Mal gehäutet. Damit hat es sich als deutlich fluider erwiesen als das westdeutsche, das nach dem schrittweisen Aufstieg der SPD bis in die siebziger Jahre lediglich die Grünen dauerhaft als neue Partei hervorbrachte und seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts die (prekäre) Etablierung der Linkspartei erlebt.

Die erste Phase des ostdeutschen Parteiensystems führte 1990 zur Übertragung der westdeutschen Parteienlogik zunächst auf die DDR, später auf die neu gegründeten Bundesländer. Dies allerdings mit einer ostdeutschen Spezialität: der PDS. Im Übrigen dominierte die CDU, sie stellte fünf Ministerpräsidenten, die SPD nur einen in Brandenburg. Auch die FDP und die aus dem Bündnis 90 hervorgegangenen Grünen etablierten sich in den Landtagen.

Die zweite Phase begann Mitte der neunziger Jahre. Kennzeichnend für sie war zunächst eine erstarkende SPD. Ihr bestes Wahlergebnis erreichten die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 2002 mit über 40 Prozent, 2001 stellten sie vier Ministerpräsidenten, die CDU nur noch zwei. Ab 1994 verschwanden sowohl die FDP als auch die Grünen aus den ostdeutschen

Landtagen, während die PDS mit Wahlergebnissen von bis zu 25 Prozent zu einer ostdeutschen Volkspartei heranwuchs.

Die dritte Phase ab Mitte der 2000er Jahre brachte zunächst die Rückkehr der kleinen Parteien in die ostdeutschen Landtage, allerdings nicht nur der Liberalen und Grünen, sondern in einigen Ländern auch der Rechtsextremisten. Nach ihrem zwischenzeitlichen Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 erlebte die PDS eine Renaissance durch Blutzufuhr aus dem Westen. Es entstand die Linkspartei, die ihren Wählerhöhepunkt im Osten bei der Bundestagswahl 2009 mit knapp 30 Prozent erlebte. Die SPD landete, abgeschlagen mit 17 Prozent, nur noch auf dem dritten Platz.

Nur noch in zwei Ländern über 20 Prozent

Nachdem sich der Pulverdampf der Bundestagswahl von 2013 verzogen hat, sind möglicherweise die Konturen einer erneut veränderten Wählerlandschaft zu erkennen. Die CDU hat sich – wie bereits Anfang der neunziger Jahre – zur stärksten Kraft entwickelt. Sie erreichte im Osten gut 37 Prozent. Seit 2011 ist die FDP bereits wieder aus drei ostdeutschen Landtagen verschwunden, bei der Bundestagswahl kamen die Liberalen nur noch auf 2,9 Prozent. Ihre eklatante Schwäche im Osten war letztlich die Ursache dafür, dass die FDP aus dem Bundestag ausscheiden musste. Die Grünen sind zwar mittlerweile in allen ostdeutschen Landtagen angekommen, bei der Bundestagswahl konnten sie jedoch nur in Berlin die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Die SPD hingegen kam nur in Brandenburg und Berlin auf über 20 Prozent, in den anderen Ländern blieb sie zum Teil deutlich unter dieser Marke – dort gelang ihr jeweils auch nur der dritte Platz hinter der Linkspartei. Diese wiederum hat mit minus fünf Prozentpunkten deutlich Federn lassen müssen. Auch wenn die Kompetenz der Linkspartei in sozialen Fragen nach wie vor als hoch gilt – es könnte sein, dass der Schwund im Osten ein Zeichen für die langsam nachlassende Bindungswirkung dieser ostdeutschen Volkspartei ist.

Erstaunlich ist hingegen der Aufstieg der Alternative für Deutschland. Selbst die „Erfinder“ der AfD gingen noch wenige Wochen vor der Wahl davon aus, dass die entscheidenden Stimmen für ihre Neugründung aus dem Süden Deutschlands kommen würden. Jetzt ist sie genau dort an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, während die AfD in den ostdeutschen Ländern durchweg fünf bis sechs Prozent erreichte. Das Ergebnis zeigt auch, dass es dort nach wie vor ein Potenzial für populistisch-radikale Bewegungen gibt. Addiert man die Ergebnisse der AfD und der verschiedenen rechtsradikalen Parteien, kommt man immerhin auf gut 10 Prozent.

Am Ende des Wahljahres dominieren in den neuen Ländern mit der CDU, der Linkspartei und der SPD nach wie vor drei mittelgroße Parteien. Dabei erweisen sich die Wähler als ausgesprochen wählerisch, denn sie treffen bei Bundestags- und Landtagswahlen zum Teil deutlich unterschiedliche Entscheidungen. So erreichte die CDU in Mecklenburg-Vorpommern bei der Bundestagswahl ein um 20 Prozentpunkte besseres Ergebnis als bei der jüngsten Landtagswahl – und umgekehrt die SPD bei der Bundestagswahl ein um 20 Punkte schlechteres. Abgesehen von Sachsen, dem letzten Hort von Schwarz-Gelb in Deutschland, regieren die drei mittelgroßen Parteien mangels Alternativen durchweg miteinander – wobei die SPD in der strategisch günstigeren Position ist, da sie sowohl mit der CDU als auch mit der Linkspartei koalieren kann. Es ist nicht erkennbar, wie es auf absehbare Zeit für „kleine Koalitionen“ – in den alten Ländern immer noch der Normalfall – reichen könnte.

Die Mittellage ist das zentrale Merkmal der SPD im Osten. Sie kann zu einer Position der Stärke führen – wie beispielsweise 1998, 2002 und 2005. Man kann in der Mitte aber auch unter die Räder geraten, wie 2009 und 2013. Die Position der Mitte ist daher Chance und Risiko zugleich. Mangelt es der SPD an Selbstbewusstsein, hat sie Schwierigkeiten, den eigenen Kurs zu definieren, was schlicht zu einem verblassenden Profil führt und damit zur Stärkung von CDU und Linkspartei. Was ist also schiefgelaufen 2013? Fünf Punkte sind zu nennen:

Ohne Kommunikation und Themen für den Osten

Erstens: Programmatik und Kommunikation. Bei der Aufstellung des Wahlprogramms hat die SPD diskutiert, ob es noch eines eigenen „Ostdeutschland-Kapitels“ bedürfe. Die Entscheidung, ostspezifische Aspekte bei den jeweiligen Fachpolitiken unterzubringen, mag nach über zwei Jahrzehnten deutscher Einheit richtig gewesen sein. Ebenso unverständlich wie unverzeihlich war es jedoch, dass die SPD auf eine eigenständige Kommunikationslinie für den Osten verzichtete – und das zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung. Ostdeutschland mag nicht mehr grundsätzlich anders sein, eine eigenständige politische Kultur und anders als im Westen gewichtete Problemlagen liegen hier aber sehr wohl vor. Ungeachtet dessen wurde schlicht nicht kommuniziert, dass die SPD als einzige Partei einen gangbaren Weg zur Angleichung des Ost-Rentensystems gefunden hat (während Angela Merkel die Angleichung zwar 2009 in den Koalitionsvertrag schreiben ließ, dann aber vier Jahre lang nichts zu ihrer Verwirklichung unternommen hat). Stattdessen hängte die SPD in Ostdeutschland Plakate auf, auf denen mehr Kita-Plätze versprochen wurden. Die mögen in Frankfurt am Main Mangelware sein – in Frankfurt an der Oder sind sie es definitiv nicht.

Zweitens: Köpfe. Der SPD fehlt mittlerweile ein wahrnehmbares ostdeutsches Gesicht. Nach dem Abgang von Manfred Stolpe, Matthias Platzeck und Wolfgang Thierse mangelt es an Identifikationsfiguren, hinter denen sich Menschen versammeln könnten. Die CDU hingegen hat Angela Merkel und die Linkspartei Gregor Gysi. Das muss gar nicht bedeuten, dass der Spitzenkandidat aus dem Osten zu kommen hätte. Gerhard Schröder war gerade im Osten stark, obwohl er nun wirklich eine pure „West-Biografie“ aufwies – aber er konnte nun einmal die Sprache der Leute sprechen und Empathie zeigen, wo sie nötig war.

Die vergessene Mitte (nicht nur im Osten)

Drittens: Steinbrücks großer Fauxpas. Gerade vor dem zuletzt beschriebenen Hintergrund war es deshalb eine ganz und gar dumme Idee, dass der Spitzenkandidat der SPD die Kanzlerin unter Bezugnahme auf ihre ostdeutsche Herkunft angriff. Die Mehrzahl der Bürger mag sich nicht sonderlich für Politik interessieren, dies jedoch haben ausnahmslos alle im Osten mitbekommen. Und es hat gerade die SPD-Wahlkämpfer hoch verunsichert, wenn nicht sogar zutiefst frustriert. Da konnten auch die nachgeschobenen (und ohnehin nicht verständlichen) Erläuterungsversuche des Kandidaten nichts mehr ändern. Spätestens von diesem Zeitpunkt an hätte die SPD im Osten nur noch ein massiver Themenwahlkampf retten können – doch genau der unterblieb. Am Ende wussten die Ostdeutschen nicht, wofür die SPD stand – außer dass sie weniger radikal ist als die Linkspartei.

Viertens: an den Kerngruppen vorbei. So ist die SPD gerade bei ihren Kerngruppen – den Arbeitern, Rentnern und Frauen – im Osten weit unter ihren Möglichkeiten geblieben. Unter den Arbeitern erreichten die Sozialdemokraten im Westen immerhin 30 Prozent, im Osten gerade mal 16. Bei den über 60-Jährigen erreichten sie in den alten Ländern ebenfalls 30, in den neuen Ländern gerade mal 21 Prozent. Am stärksten sind der SPD die Frauen davon gelaufen, und besonders die jüngeren unter ihnen. Noch 2005 entschieden sich 32 Prozent der Frauen für die SPD und nur 25 für die (auch damals schon von Frau Merkel angeführte) CDU. Acht Jahre später waren es gerade noch 18 Prozent (und 41 für die CDU) – innerhalb von nur zwei Wahlperioden hat sich also ein Vorsprung von 7 Punkten in einen Rückstand von 23 Punkten verwandelt. Dabei sind die ostdeutschen Frauen eine Wählerklientel, bei der es auf jeden Euro in der Tasche ankommt, die das Betreuungsgeld am heftigsten ablehnt – und die man beispielsweise mit der gebührenfreien Kita und der Westangleichung des Rentensystems durchaus hätte ansprechen können. Für die im Osten besonders vielen alleinerziehenden Frauen mag die SPD zwar etwas im Angebot gehabt haben – in die Auslage gestellt hat die Partei es aber nicht.

Fünftens: die vergessene Mitte. Schließlich hat die SPD in ihrer Kampagne schlicht vergessen, Angebote an die (ostdeutsche) Mitte zu machen. Das ist für eine „Partei der Mitte“ nahezu unverzeihlich. Denn es gibt sie, die breite Mitte der ostdeutschen Gesellschaft. Die vergangenen zehn Jahre haben in Ostdeutschland zu so etwas wie ökonomischer Stabilität geführt – wenn auch auf niedrigem Niveau. Aber immerhin wurde die Arbeitslosigkeit halbiert (!) – eine in Europa wirklich einzigartige Erfolgsgeschichte. Inzwischen kehren sogar die ersten der in den neunziger Jahren abgewanderten Ostdeutschen zurück in ihre alte Heimat. Die Löhne sind noch niedrig, die Zuversicht ist noch nicht überbordend. Aber in den vergangenen Jahren ging es in den neuen Ländern aufwärts – und die SPD hat es versäumt, auf das Potenzial der ostdeutschen Aufsteiger zuzugehen und ihnen weiterreichende Perspektiven aufzuzeigen. Das alte Erfolgsmodell von „Innovation und Gerechtigkeit“ ist gerade in Ostdeutschland für die SPD besonders wichtig. Ostdeutschland besitzt angesichts der stabilen wirtschaftlichen Lage die Chance, zum „Aufsteigerland“ zu werden. Wie man sozialen Aufstieg organisieren kann – das ist die zentrale Frage, über die die SPD (nicht nur) in Ostdeutschland reden muss. Dieses Thema kann ein Schlüssel sein, um einst SPD-affine Wählergruppen wieder anzusprechen.

Hinzu kommt: Wenn die SPD wieder Wahlen in Deutschland gewinnen will, braucht sie auch eine Antwort auf die geringen Parteistrukturen im Osten. In allen ostdeutschen Ländern zusammen gibt es so viele eingetragene Sozialdemokraten wie im winzigen Saarland. An dieser Struktur wird sich grundsätzlich nicht viel ändern. Gerade deshalb sind Wahlkämpfe im Osten ein besonderer Kraftakt, zumal Tageszeitungen nur noch ein Viertel der Haushalte erreichen. „Mundfunk statt Rundfunk“ mag grundsätzlich eine gute Idee sein – chancenlos ist sie dann, wenn in der Fläche schlicht die Mitgliedschaft fehlt. Die Rekrutierungsfähigkeit der SPD liegt in den ostdeutschen Ländern zwischen 0,1 und 0,3 Prozent der Wahlberechtigten, in den westdeutschen zwischen 0,4 und 2,3 Prozent. Hier kommen also auf einen Wahlberechtigten bis zu zehnmal mehr SPD-Mitglieder. Schon deshalb war der Verzicht auf eine eigene ostdeutsche Kampagne zur Bundestagswahl so verhängnisvoll. Auch wenn es mittlerweile ein wenig abgestanden klingt: Die SPD muss gerade in Ostdeutschland neue Wege der Parteikommunikation beschreiten. Funktionieren sie hier, wird auch die sozialdemokratische Diaspora im Süden Westdeutschlands von den im Osten gewonnenen Erfahrungen profitieren können. Ex oriente lux.

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