Wie das republikanische Wir aussehen kann

Tobias Dürr und Michael Miebach treffen Ralf Fücks, den ehemaligen Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, im Oxymoron, Rosenthaler Straße 40 - 41, 10178 Berlin (täglich ab 8:00 Uhr geöffnet)

Wie immer ist Ralf Fücks die Ruhe selbst. Als wir an diesem Dienstagmittag das Oxymoron betreten, sitzt er schon am Tisch. Mit coolem Strohhut auf dem Kopf tippt er in seinem Smartphone herum. Er will nur noch schnell diese Mail abschicken. „Ich habe ja keine Sekretärin mehr.“ Geschafft. Fücks begrüßt uns herzlich. Auf unser Treffen in seinem Lieblingslokal habe er sich gefreut. Wir uns auch. Ralf Fücks ist nicht nur seit vielen Jahren einer der profiliertesten Vordenker der Grünen, sondern auch ein immer angenehmer Gesprächspartner, der beides kann: gut zuhören und spannend erzählen.

Gerade erst drei Tage ist es her, dass Fücks nach vollen 21 Jahren als Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) seinen Abschied genommen hat. „Ende einer Dienstfahrt“, nennt er die Zäsur passenderweise. Fücks hatte „Böll“ geschickt als avancierte Denkfabrik positioniert und ihr zugleich ein Gesicht gegeben. Der Sozialwissenschaftler verwaltete nicht nur. Er schrieb Aufsätze, repräsentierte, gab Interviews, saß auf vielen Podien. Vor vier Jahren erschien sein viel gelobtes Buch Intelligent wachsen: Die grüne Revolution, unlängst erst seine Streitschrift Freiheit verteidigen: Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen.

Das Oxymoron liegt in den legendären Hackeschen Höfen. Im Vorderhaus besaß die junge HBS ihre erste Berliner Zentrale. „Wir haben uns hier häufig mit Gästen getroffen und die Räume ab und zu für Veranstaltungen genutzt.“ Fücks schätzt die Betreiber des Restaurants, er mag den Stil des Oxymoron, „diese Mischung aus Wiener Kaffeehaus und Moderne“. Außerdem habe das Lokal eine sehr gute Akustik für Gespräche. Wir blicken in die Speisekarte. Das Oxymoron verspricht „gehobene internationale Küche“. Der Mittagstisch besteht aus einem Zwei- oder Drei-Gänge-Menü für 12 bis 14 Euro. Wir bestellen das Hühnerbrustfilet, die Rigatoni und eine Tomaten-Oliven-Suppe. Alles schmeckt frisch und hervorragend.

Die Hackeschen Höfe lernte Fücks schon kurz nach dem Mauerfall kennen. Damals standen sie kurz vor dem Zerbröseln. Wo heute Boutiquen sind, befanden sich heruntergekommene Künstlerateliers. „Alles viel aufregender als heute“, sagt Fücks. Aber vom Jammern über Gentrifizierung und Touristen hält er trotzdem nichts. Berlin-Mitte, das heiße nun mal Metropole.

Die Vorstellung, säkulare Veränderungen aufzuhalten, findet Fücks sowieso eher wunderlich. Das gelte erst recht für die großen gesellschaftlichen Trends wie Globalisierung, Migration, digitale Revolution oder neue Familienmodelle. Der „historische Orkan“ der vergangenen 25 Jahre lasse sich nicht einfach stillstellen. Allerdings: Klug gestalten müsse die Politik den Wandel umso dringender.

So wie beim Klimaschutz. Fücks macht sich keine Illusionen: Die unabweisbare ökologische Transformation bedeute zugleich tiefe Strukturbrüche und löse Abwehrreflexe aus. Um Menschen mitzunehmen, sei also ein so optimistisches wie plausibles Zukunftsnarrativ nötig. Es gehe um den Aufbruch in die ökologische Moderne, eine grüne industrielle Revolution. „Dabei würde ich mir die Grünen viel offensiver wünschen.“ Dazu gehöre auch, für vom Strukturwandel betroffene Branchen und Regionen neue Perspektiven zu ermöglichen. Zugleich müssten die strukturellen Umbrüche sozial abgefedert werden. „Je länger wir mit Reformen warten, desto härter werden die Verwerfungen – die Autoindustrie ist das beste Beispiel.“ Fücks plädiert gegen ein restriktives Verständnis ökologischer Politik, die Einschränkung, Verzicht und Verbote predigt. Ein „autoritärer Öko-Staat“ dürfe nicht auf Akzeptanz hoffen. Freiheitliche Umweltpolitik müsse auf Kreativität und Innovation setzen.

Früher – ganz früher – pflegte Ralf Fücks ein anderes Weltverständnis. Als junger Student in Heidelberg schloss er sich Anfang der siebziger Jahre dem Kommunistischen Bund Westdeutschland an, einer der K-Sekten jener Jahre (welcher auch die spätere sozialdemokratische Gesundheitsministerin Ulla Schmidt angehörte). „Zunächst empfand ich das als großes Abenteuer“, erinnert sich Fücks. Doch schnell fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut: „Da herrschten Gedankenkontrolle und Kaderdisziplin. Zugleich standen wir als Sektierer immer am Rande des politischen Geschehens.“

Er begann, die „Renegaten-Literatur“ ehemaliger Kommunisten der zwanziger und dreißiger Jahre zu „verschlingen“: Koestler, Sperber, Regler, später auch Solschenizyns „Archipel Gulag“. „Diese Lektüre hat alle meine Illusionen über den Kommunismus zerstört“, sagt er. Wenige Jahre später landeten viele der ehemaligen Kommunisten bei den Grünen. Auch Ralf Fücks.

Anfang der neunziger Jahre wurde er Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen. Damals entwickelte sich sein praktischer Gestaltungsoptimismus: „Ich merkte, dass man selbst in einem Ministadtstaat eine Menge bewegen kann“, sagt Fücks. Er stritt für die Umwidmung alter Hafenreviere an der Weser in Stadtentwicklungsgebiet. „Das Vorhaben war extrem umkämpft – aber heute sind alle Bremer stolz darauf.“

Wir bestellen uns Kaffee. Fücks berichtet von seinen nächsten Plänen. Gemeinsam mit seiner Frau, der Bundestagsabgeordneten Marie-Luise Beck, gründet er derzeit das „Zentrum für die liberale Moderne“. Zu den künftigen Themen soll die östliche Nachbarschaft der EU gehören. Russland und die Ukraine treiben die beiden schon lange um. Ein Kooperationsprojekt mit der Ukraine ist bereits fest verabredet. Im November geht es los. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.

Ein zweites großes Thema wird der innere Zustand unserer Gesellschaft sein: „Wie lässt sich individuelle Freiheit mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit verbinden?“ Die Moderne sei eine Geschichte individueller Emanzipation. Daran müsse man festhalten. Aber die Individualisierung habe eine Leerstelle hinterlassen: das ungestillte Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität. Diese Leerstelle versuchten heute Populisten und religiöse Fundamentalisten auszufüllen. „Die identitäre Gegenreaktion auf den technischen und gesellschaftlichen Wandel haben wir, die linksliberalen Eliten, massiv unterschätzt.“

Wo die Zukunftsängste zunehmen, da müsse sich die Politik wieder stärker um gesellschaftlichen Zusammenhalt kümmern – allerdings ohne den liberalen Individualismus preiszugeben. Eben darin liege die Crux. Fücks will ergründen, wie ein „republikanisches Wir“ aussehen kann – „eine politische Gemeinschaft, die durch demokratische Werte definiert ist“. Auf die Ambivalenz der Moderne sei die liberale Demokratie mit ihren Institutionen die beste Antwort. „Rechtsstaat, Gewaltenteilung, politischer Wettbewerb und Ideenwettbewerb – bessere Mittel haben wir bisher nicht gefunden.“

Eine zentrale Rolle in diesen Diskussionen werden die Begriffe „Fortschritt“ und „Gestalten“ spielen. Überdies will Fücks verstärkt gesellschaftliche Zielkonflikte thematisieren. Als Beispiel nennt er das Thema Migration. Hier stünden sich zwei Lager weitgehend sprachlos gegenüber: die gesinnungsethisch motivierten Verfechter offener Grenzen und diejenigen, die nach Abschottung rufen. Beide Positionen seien irreal. „Wenn wir ehrlich sind, hat uns die faktische Kehrtwende von Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik den Arsch gerettet“, sagt Ralf Fücks. „Ohne den Deal mit der Türkei wäre uns der Laden hier um die Ohren geflogen.“ Darum dürfe sich niemand der Frage entziehen, wie in Zukunft Fluchtbewegungen gesteuert werden könnten.

Erfreulich ist: Ralf Fücks wird sich weiter hörbar einmischen. Sein neuer Think Tank wird wichtige Debatten vom Zaun brechen. Wir wünschen dafür alles Gute – und stehen für weitere Treffen und Zusammenarbeit zur Verfügung. Sehr gern wieder im Oxymoron.

zurück zur Person