Westminster ist anderswo

EDITORIAL

Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus", notierte der Politologe Ernst Fraenkel 1964, "scheint mir die landläufige Kritik zu sein, die an ihm geübt wird. Sie ist reaktionär und schizophren. Sie sehnt sich heimlich nach einer starken Regierung und bekennt sich öffentlich zu der Herrschaft eines allmächtigen Parlaments. Sie beschimpft den Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt, und verhöhnt ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole befolgt. Sie verkennt die notwendigerweise repräsentative Natur eines jeden Parlamentarismus und verfälscht seinen Charakter, indem sie ihn plebiszitär zu interpretieren versucht."

Diese kritikwürdige Kritik an der repräsentativen Demokratie läuft immer noch durchs Land. Politikverdrossenheit war das Wort des Jahres 1992, und aggressiver Politikverdruss ist wieder die Folge des CDU-Spendenskandals 99/00. Das Titelthema dieses Heftes lautet deshalb nur scheinbar aktuell "Demokratie, Staat und Parteien".

Zwei unserer Autoren haben auch gerade ein Buch zum Thema veröffentlicht, Franz Walter und Tobias Dürr: Die Heimatlosigkeit der Macht (Alexander Fest Verlag, Berlin 2000). Darin analysieren sie die inzwischen fast abgeschlossene Entkopplung von Parteien und Milieus und schreiben über das Bild, das die Deutschen sich von "der Politik" machen: "Immer noch erwarten sie von der Politik das große Projekt, die generalstabsmäßig entworfene Strategie und deren ebenso professionelle wie zügige Umsetzung. Und merkwürdigerweise haben sie den Eindruck, dass in ihrer jeweiligen Gegenwart besonders jämmerlich regiert wird." Das in den Köpfen vorhandene Parlamentarismus-Modell sei die Westminster-Demokratie: Mehrheitswahlrecht, Zentralstaat, kein Föderalismus, keine Koalition. Dagegen müsse unsere Kompromiss- und Verhandlungsdemokratie den Bundesrat und die Ministerpräsidenten, das Bundesverfassungsgericht, die autonome Zentralbank und die Koalitionszwänge ins Kalkül ziehen - womit Deutschland bisher gar nicht so schlecht gefahren sei. Mehr dazu im Heft.

In den Herausgeberkreis der Berliner Republik sind zwei neue Abgeordnete eingetreten: Dr. Carola Reimann und Rolf Stöckel.

Vom 2. bis 4. Juni lädt der Herausgeberkreis gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Wochenendtagung nach Freudenstadt/ Schwarzwald ein, Titel: "Flexibilität und Sicherheit" (Programm siehe Seite 55).

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