Wer schützt die Wähler vor dem Wandel?

Nach der Bundestagswahl 2017 könnten sechs Parteien im Parlament vertreten sein. Als Faustregel gilt: Je mehr Parteien, desto mehr Koalitionsoptionen - und desto geringer der Einfluss der Wähler auf die Regierungsbildung. Das ist der Preis der Vielfalt

Über die Zusammensetzung der kommenden Bundesregierung werden nicht die Wähler entscheiden. Diese Wahl treffen ­allein die Parteien. Denn je koalitionsoffener sie agieren, desto wahrscheinlicher tragen sie die neue Regierung. Die Union ist in optimaler Weise multi-koalitionsfähig. Sie kann doppelt siegen: als stärkste Fraktion und in der Schlüsselposition für die Regierungsbildung. Gute Wahlergebnisse sind nicht mehr entscheidend, um mitregieren zu können. Wichtiger ist, die Koalitionsoptionen möglichst offenzuhalten. Die Konsequenz: Auf die Wähler kommt geradezu systematisch Langeweile zu. Denn aus Sicht der Parteien muss der Bundestagswahlkampf so pragmatisch wie möglich angelegt werden – und er dreht sich ausschließlich um Koalitionsfragen.

Zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl erinnert das gegenwärtige Szenario an die Situation von 2009. Damals profitierten die kleinen Parteien ebenfalls von der Großen Koalition. Solche Sonderformate des Regierens führen unweigerlich zum Ausfransen an den politischen Rändern. Die großen Parteien werden geschwächt, die kleinen profitieren. Der Vier-Parteien-Bundestag (CDU/CSU, SPD, Grüne, Linkspartei) könnte sich zu einem Parlament mit sechs Parteien (plus FDP und AfD) entwickeln.

Keine Partei wird sich vorab in einseitige Koalitionsaussagen verstricken. Die SPD hat unmittelbar nach der vergangenen Bundestagswahl ihr Tabuthema abgeräumt und schließt eine Koalition mit der Linkspartei nicht mehr prinzipiell aus. Die Grünen haben einen Öffnungsbeschluss gefasst, der eine schwarz-grüne Koalition nicht mehr stigmatisiert. Für die wenigen Wähler wird der Stimmzettel so zum Lotterieschein. Denn wer zukünftig nicht nur rechnerische, sondern belastbare politische Mehrheiten sucht, muss sich auf dem Koalitionsmarkt tummeln. Die traditionellen Lagerkoalitionen Schwarz-Gelb oder Rot-Grün werden nach der Bundestagswahl 2017 voraussichtlich durch neue Varianten der Regierungsbildung ersetzt werden: Das Spektrum reicht von vermeintlich lagerübergreifenden Koalitionen (Schwarz-Grün) über neue Regierungs- beziehungsweise Koalitionstypen (Dreier-Bündnisse) bis hin zu gänzlich neuen Regierungsformaten (Minderheitsregierungen; absolute Mehrheitsregierung).

Sollte Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder kandidieren, lautet die Wählerfrage: Merkel plus X? Als Orientierungsautorität und Krisenlotsin genießt die Kanzlerin weiterhin lagerübergreifende Zustimmung. Die Zufriedenheit mit der Regierungsleistung insgesamt dürfte ebenfalls nicht abnehmen. Natürlich, Union und SPD werden ihren Wahlkampf gegen die Große Koalition ausrichten. Trotzdem ist kaum zu erwarten, dass die Wähler aktiv Abschied von der „GroKo“ nehmen wollen. Erneut gilt das Lindenstraßen-Paradoxon: Wer die Große Koalition als Dauerserie verhindern will, muss die Parteien der Großen Koalition wählen. Nur wenn die Volksparteien genügend Stimmen erhalten, könnte es am Ende für kleine Koalitionen reichen.

Die tiefe Sehnsucht nach Sicherheit

Weitere Gründe sprechen dafür, dass es nach 2017 zu einem Vielparteienparlament mit vermutlich sechs Parteien kommen wird. Das Parteiensystem in Deutschland gruppiert sich noch immer entlang von drei großen Konfliktlinien in der Gesellschaft: Entscheidende Fragen sind erstens die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, zweitens kulturelle Differenzen der politischen Partizipation (libertär oder autoritär) und drittens das relative Gewicht von Staat und Markt. Das kommende Wahlergebnis wird erneut zeigen, dass wohlfahrtsstaatliche gegenüber gerechtigkeitsorientierten Zielbildern weiterhin dominant sind – gerade weil unter den Bürgern, die überhaupt noch zur Wahl gehen, der Anteil der am Status quo orientierten tendenziell steigt. Wohlfahrtsstaatliche Themen im Sinne eines „Weiter so!“ werden die Wahl entscheiden. Gerechtigkeits- und Bürgerrechtsthemen hingegen haben in einem Klima von Zufriedenheit sehr geringe Mobilisierungschancen. Wahlentscheidend bleibt das Primat der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit: die tiefe Sehnsucht nach Sicherheit (objektive ­Sicherheitslage und subjektives Sicherheitsgefühl). Die Regierung soll in sicherheitskonservativer Weise möglichst vor den Unbilden der Zukunft schützen.

Mit solchen Gefühlen müssen zudem Wohlfahrtssteigerungen einhergehen, damit es zu mehrheitsfähigen Mobilisierungserfolgen kommen kann. Letztlich wird das Resilienzmanagement der Kanzlerin honoriert. Solange Angela Merkel alles im Griff zu haben scheint, werden die Wähler nicht den Wandel wählen, sondern den Status quo.

Doch 2017 kommt noch eine vierte wichtige gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkungsmächtig neu hinzu. Es ist das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Werten. Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften. Kommunitaristische Einstellungen favorisieren die Zugehörigkeit zu nationalen und kommunalen Kontexten. Kosmopolitische Einstellungen hingegen betonen universelle Verpflichtungen. Folgerichtig stehen neobiedermeierliche Rückzüge und kulturelle Argumente für den Schutz des eigenen Marktes einem internationalen Freihandelsabkommen wie TTIP entgegen. Und die innere Globalisierung – auch in Form der humanitären Aufgabe, mehr Flüchtlinge aufzunehmen – wird infrage gestellt. Letztlich triumphiert im nationalen Kommunitarismus die Volksgemeinschaft gegenüber internationalen Verpflichtungen.

Doch es wäre vereinfacht zu sagen, hier stünden Globalisierungsgewinner gegen Globalisierungsverlierer, die Guten gegen die Schlechten. Die gesellschaftspolitische Konfliktlinie orientiert sich eher an den Globalisierungsverängstigten. Die Angst-Mitte gewinnt man nicht mit Verteilungspolitik. Solche Wähler fühlen sich entfremdet im eigenen Land und überfordert von der Beschleunigung des Alltags. Wer schützt sie gegen den Wandel? Solche vom Ressentiment getriebenen Mitte-Wähler gab es schon immer. Sie könnten jedoch 2017 die Angebotslücke im etablierten Parteienspektrum nutzen, um ihren Unmut über „zu viel Globalisierung“, „zu viel Europa“ und allgemein gegen „die da oben“ in eine Stimme für die AfD umzuwandeln. Zwar kann derzeit niemand wissen, ob es die AfD in zwei Jahren noch geben wird. Doch gerade in der Angst-Mitte der bürgerlichen Wähler wird der Bedarf nach einer Partei wachsen, die diese gesellschaftspolitische Konfliktlinie aktiv bedient. Zur Parlamentarisierung solcher Frustventil-Parteien wird es allerdings nur kommen, wenn sie ohne dumpfen rechtsextremen Duktus daherkommen.

Die Landtagswahl in NRW kann Weichen stellen

Ein besonderer externer Faktor, der die Bundestagswahl 2017 beeinflussen kann, ist die Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen. Sollte die Union im Frühjahr 2017 zusammen mit den Grünen oder der SPD (Große Koalition) den Regierungswechsel in Düsseldorf schaffen, würde die Merkel-Union im Bund zusätzlichen Rückenwind erhalten. Schwarz-Grün in NRW wäre dabei sicher der brisanteste Brennstoff für den Bund.

Hingegen wird sich die Bundespräsidentenwahl – ebenfalls im Frühjahr 2017 – weniger auf den Parteienwettbewerb auswirken. Die Allparteienkoalition pro Gauck steht. Viele werden versuchen, Gauck im Amt zu halten, um negative kollaterale Wirkungen auszuschließen. Die allergrößten Eruptionen auf dem Wählermarkt könnte nur Merkel selbst auslösen. Würde sie nicht mehr kandidieren, was sie spätestens Ende 2016 ankündigen müsste, stiegen die Chancen für einen Regierungswechsel dramatisch – jedenfalls sofern die SPD nicht der Versuchung unterliegt, mit linker Verteilungspolitik anzugreifen.

Die Wähler spielen nur eine marginale Rolle

Welche konkreten Szenarien sind vor dem Hintergrund des Koalitionsmarktes und der gesellschaftspolitischen Konfliktlinien realistisch, wenn die Bundeskanzlerin erneut antritt? Sieben Varianten sind denkbar. Die Reihenfolge drückt – mit absteigender Tendenz – die Wahrscheinlichkeit aus:

1.    Eine neue lagerübergreifende Zusammensetzung: Schwarz-Grün – nach dem Modell von Hessen kreiert. Merkel hätte die Chance, innovativ und kreativ ein neues Zukunftsbündnis zu formen.

2.    Die Ampel als multipler Dreierbündnis-Koalitionstyp: Rot-Grün-Gelb. Zurzeit positioniert sich allerdings die FDP – strategisch klug – eher wirtschafts- als linksliberal, was schwierige Koalitionsverhandlungen verspricht.

3.    Die Fortsetzung der Großen Koalition: CDU/CSU-SPD, wenn alle anderen Sondierungen gescheitert sind.

4.    Das von der Linken tolerierte neue Regierungsformat: Die Minderheitsregierung unter Rot-Grün, von der Linkspartei mit Bodo Ramelow nach dem Muster und Modell von NRW toleriert.

5.    Die absolute Mehrheit für die CDU/CSU, was schon 2013 – zugegeben mit vier Parteien – unter den Bedingungen der spezifischen Wahlrechtsreform nicht unwahrscheinlich war.

6.    Schwarz-Gelb: wenn die AfD den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasst.

7.    Die linke Mehrheit als neuen Dreierbündnis-Koalitionstyp: Rot-Rot-Grün. Dies wäre allerdings die allerletzte Option, für die sich eine Gabriel-SPD opfern würde.

Im Sommer 2015 scheinen diese sieben Szenarien möglich – oder jedenfalls denkbar. Mehr oder weniger wahrscheinlich sind nur die ersten drei Optionen. Die Wähler spielen bei allen Modellen nur eine sehr marginale Rolle. Sie haben keine Wahl. Aber das ist der Preis, der anfällt, wenn der Parteienwettbewerb immer bunter und vielgestaltiger, immer entlagerter, mobiler und koalitionsoffener wird.«

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