Weniger Wahlen, mehr Demokratie?

David Van Reybrouck plädiert für eine Renaissance des Losverfahrens

Der Kern der neuzeitlichen Demokratie ist das Prinzip der Volkssouveränität, die „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“, wie es Abraham Lincoln in seiner berühmten Gettysburg-Rede prägnant ausgedrückt hat. Praktische Geltung erlangt die Volkssouveränität durch periodisch stattfindende Wahlen. In diesen bestellt das Volk seine Vertreter und autorisiert sie, in seinem Namen und seinem Interesse zu regieren. Während Volksvertretungen (Parlamente) in der Demokratie ubiquitär sind, gestatten manche Verfassungen den Bürgern auch, bestimmte Entscheidungen unmittelbar selbst zu treffen. Die „repräsentative“ Demokratie als Regelverfahren wird hier durch „direkt-demokratische“ Verfahren erweitert beziehungsweise ergänzt. Sieht man von wenigen Ausnahmen wie der Schweiz ab, haben direktdemokratische Elemente im Vergleich zu den Wahlen aber nirgendwo systemprägende Wirkung erlangt. Die repräsentative Demokratie bleibt also ganz und zuvörderst Wahldemokratie. Beide Institutionen sind so eng miteinander verwoben, dass Demokratie und Wahlen heute fast schon zu Synonymen geworden sind.

Der belgische Schriftsteller und Historiker David Van Reybrouck stellt diese Gleichsetzung infrage. Mit einem Rückblick auf die griechische und neuzeitliche Geschichte möchte er zeigen, warum Wahlen weder ein selbstverständliches noch ein notwendigerweise demokratisches Mittel waren (und sind), um das Herrschaftsproblem in einem politischen Verband zu lösen.

War es von der Antike (griechische Polis) bis in die Zeit der Renaissance (italienische Stadtrepubliken) noch weithin üblich gewesen, die Volksvertreter und Amtsträger per Los zu bestimmen, sollte die Bestellung durch Wahlen den gleichmacherischen Tendenzen einer Lotterie gerade entgegenwirken. Die Väter der Französischen und Amerikanischen Revolution waren keine Demokraten, sondern Republikaner, denen es darum ging, die alte erbliche Aristokratie durch eine gewählte Aristokratie zu ersetzen. Wahlrecht und Wahlsystem wurden deshalb so ausgestaltet, dass es den „Besten“ – womit die besitzenden Klassen des gehobenen Bürgertums gemeint waren – die Regierungsmacht sicherte.

Warum Wahlen an Bedeutung verlieren

Reybrouck verwendet viel Mühe darauf, die Krise der heutigen Demokratie vor allem als eine Krise der Wahldemokratie erscheinen zu lassen. Gerade hier gerät seine Argumentation aber sehr verkürzt und holzschnittartig. Wenn er die Wahlen dafür verantwortlich macht, dass „die Langfristigkeit und das Gemeinwohl wieder und wieder hinter der Kurzfristigkeit und dem Parteiwohl zurückstehen (müssen)“, handelt es sich bestenfalls um die halbe Wahrheit.

Liegt das Problem nicht vielmehr darin, dass die Wahlen selbst an Bedeutung verlieren, weil der politische Entscheidungsbereich, über den die gewählten Volksvertreter verfügen können, in den nationalstaatlich verfassten Demokratien immer mehr abnimmt? Und sind die Nutznießer dieser schleichenden Entdemokratisierung nicht gerade „nicht-parteiliche“ Institutionen wie Behörden oder Verfassungsgerichte, die sich eher an Grundprinzipien und langfristigen Zielen orientieren als die vermeintlich nur auf ihren kurzfristigen Machtvorteil bedachten gewählten Politiker?

Die These des Autors, dass wir „die Demokratie auf die repräsentative Demokratie reduziert haben und die repräsentative Demokratie auf Wahlen“, ist auch historisch korrekturbedürftig, bildet die neuzeitliche Demokratie doch eine Synthese aus zwei normativen Prinzipien: der Volkssouveränität und der Verfassungsstaatlichkeit. Beide stehen in einem komplementären Spannungsverhältnis zueinander.

Während das Demokratieprinzip eine Regierungsform postuliert, in der Herrschaft stets unter Berufung auf den Willen des Volkes beziehungsweise der Mehrheit des Volkes ausgeübt wird, laufen die verfassungsstaatlichen Strukturen auf eine Befestigung der Demokratie hinaus, indem sie deren Herrschaftsanspruch begrenzen. Sie sorgen dafür, dass die vom Volk bestellten Vertreter in ihrer Machtausübung kontrolliert werden, und definieren einen Bereich geschützter Rechte, über die keine demokratische Mehrheit – sei sie auch noch so groß – verfügen kann. Institutionell durch verschiedene Formen der organschaftlichen Gewaltenteilung verbürgt, findet das verfassungsstaatliche Prinzip seinen sichtbarsten Ausdruck heute in der justiziellen Normenkontrolle. Zeitlich geht es dem demokratischen Prinzip um mehr als ein Jahrhundert voraus, da letzteres erst mit der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts vollständige Geltung erlangte.

Wie die Wahlpflicht helfen könnte

Reybrouck tut die Demokratisierung der Wahlen im 19. und 20. Jahrhundert jedoch als historische Petitesse und „Scheinprozess“ ab, so als ob sie für die weitere politische Entwicklung – etwa die Herausbildung des modernen Sozialstaats – unbeachtlich gewesen sei. Seine Darstellung des angeblichen Wahlfundamentalismus grenzt in diesem Teil des Buches an Geschichtsklitterung.

Auf der anderen Seite ist es verwunderlich, dass er der Frage nicht näher auf den Grund geht, was es für die Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl bedeutet, wenn heute die benachteiligten Gruppen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen und den Wahlen immer häufiger fernbleiben. Der Grund für das Ausblenden dieser Frage liegt vermutlich darin, dass sich dieses Problem in seinem eigenen Land – Belgien – aufgrund der dort vorhandenen Wahlpflicht noch am wenigsten stellt. Bezeichnenderweise wird die Einführung einer solchen Wahlpflicht für die Bundesrepublik heute gerade von Wissenschaftlern und Publizisten (aber noch nicht von Politikern) erwogen, die der Sozialdemokratie nahe stehen. Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung ließe sich damit auf relativ einfache Weise bekämpfen.

Mit Überlegungen, wie man das Wahlverfahren und den Wahlprozess reformieren könnte, gibt sich der Autor erst gar nicht ab. Ihm geht es um ein viel größeres Ziel, nämlich die grundsätzliche Ergänzung oder gar Verdrängung der Wahlen durch eine „auf dem Losverfahren basierende Demokratie“. Dazu dient zum einen ein Rückblick auf dessen historische Genese und Verwendung in den Stadtrepubliken (Athen, Venedig, Florenz, Aragón), zum anderen eine Darstellung der Anwendungsformen in der Gegenwart, die weiter verbreitet sind, als man gemeinhin vermutet. Reybrouck reklamiert die Wiederentdeckung der Zufallsauswahl nicht für sich selbst, sondern bezieht sich auf eine Reihe von Autoren, die seit den neunziger Jahren über das Thema gearbeitet haben. In den Vereinigten Staaten zählen dazu beispielsweise James Fishkin, Oliver Dowlen und Terril Bouricius, in Frankreich Yves Sintomer und in Deutschland Hubertus Buchstein. Viele der dort gemachten Vorschläge wurden in der Praxis bereits erprobt, zum Teil sogar auf der nationalen Ebene.

Wahl und Los sind vereinbar

Schaut man sich diese Erfahrungen genauer an, erweist sich die vom Autor eingangs suggerierte Vorstellung, dass Wahl- und Losverfahren in grundsätzlichem Gegensatz zueinander stünden, als maßlos übertrieben. Selbst in den antiken und neuzeitlichen Stadtrepubliken wurde das Los nie als ausschließliches Auswahlverfahren angewandt, sondern mit Wahlen und anderen Formen der Ernennung kombiniert. Dies ließe sich zum Beispiel auf Regierungssysteme mit Zweikammerparlamenten übertragen, in denen dann eine der beiden Kammern durch das Los bestellt werden könnte. (Reybrouck schlägt dies für den belgischen Senat vor.)

Bezogen auf die Entscheidungsgegenstände liegt der sinnvollste Anwendungsbereich der Zufallsauswahl in der Verfassungs- und Institutionenpolitik, und hier vor allem bei der Gestaltung des Wahlrechts, weil die gewählten Parteipolitiker gerade in diesem wichtigen Bereich häufig sachfremde Eigeninteressen vertreten. Die Folge sind dann entweder Blockaden wie bei der Verfassungskommission im Land Nordrhein-Westfalen, wo es den Parteien nicht gelungen ist, sich auch nur auf ein einziges der geplanten Reformvorhaben zu verständigen (Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, kommunales Wahlrecht für Nicht-Deutsche, erleichterte Verfahren der Direktdemokratie und Einführung einer Schuldenbremse). Oder die Parteien einigen sich auf Kosten „Dritter“. So wurde etwa bei der Reform des Bundestagswahlrechts statt der möglichen Verrechnung der Überhang mit bestehenden Listenmandaten eine Ausgleichslösung vereinbart, die das Parlament im ungünstigsten Fall um mehrere Dutzend Abgeordnete vergrößert.

Die Iren haben es vorgemacht

Wie es anders gehen könnte, haben die Iren mit ihrer Verfassungsreform im Jahr 2015 vorgemacht. Hier wurden die Vorschläge von einem Gremium erarbeitet, das zu einem Drittel aus Vertretern der Parteien und zu zwei Dritteln aus per Los bestimmten Bürgern bestand. Dies erzeugte unter den Abgeordneten und im Volk eine so starke Verpflichtungswirkung, dass sogar die Legalisierung der Ehe für Homosexuelle im abschließenden Referendum eine klare Mehrheit fand.

Reybroucks Darstellung würde an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie neben den Möglichkeiten auch die Grenzen des Losverfahrens stärker reflektiert hätte. Sein Plädoyer hinterlässt deshalb einen zwiespältigen Eindruck. So richtig es ist, über andere Formen der politischen Beteiligung nachzudenken, so anmaßend bleibt die in dem Buch entwickelte Vorstellung, man müsse die Demokratie als Organisationsform politischer Herrschaft völlig neu erfinden.

David Van Reybrouck, Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen: Wallstein 2016, 200 Seiten, 17,90 Euro

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