Wen oder was wählen in Europa?



Mein Sohn ist seit neuestem Mitglied der Europa-AG seiner Universität. Diese bekommt Geld dafür, dass sie Reisen für Studierende quer durch die Europäische Union organisiert. Neulich waren sie zum Studium europäischer Institutionen in der Hauptstadt Tschechiens. „Welche europäische Institution gibt es denn in Prag?“, fragte ich ihn, bevor es losging. „Deshalb müssen wir ja dorthin, um es herauszufinden“, lautete die Antwort.

Ich befürchte, dass selbst seine Europa-AG ihm bei der Europawahl nicht weiterhelfen wird. Als ich ihn fragte, wen er wählen wird, sagte er erst: „die Ukraine“. Und später: „Guy Verhofstadt“. Im dritten Anlauf fiel ihm dann noch Ed Miliband ein. Aber vielleicht hätte er das auch zur Bundestagswahl gesagt. Bei ihm weiß man nie. Er hat das Privileg, in einem Land aufgewachsen zu sein, in dem man sich um Demokratie keine Gedanken zu machen braucht. Sie ist einfach da.

Jürgen Habermas plädiert für eine Politisierung des Wahlkampfs zur Europawahl. Das werde die Alternativen verdeutlichen und die Menschen verstehen lassen, worin die zukünftigen Optionen für Europa bestünden. Ich glaube das nicht. Trotz stärkerer Rechte für das Europäische Parlament sind Europawahlen bislang Wahlen zweiter Ordnung geblieben. Das Volk ist nicht so dumm, wie man meint. Ein Schlagabtausch über Europa wird sich nicht in einem Politikwechsel der EU-Kommission und des EU-Rates niederschlagen, die weiterhin von den Mitgliedsländern bestückt werden. Eher stärken Kontroversen um Europa rechtspopulistische Parteien.

Tatsächlich liegt die Demokratisierung Europas in den Händen der Mitgliedsstaaten. Sie sind die demokratischen Träger der Europäischen Union und nicht umgekehrt. Das Versagen der proeuropäischen Parteien besteht darin, dass sie die berechtigten Vorbehalte ihrer Bürger gegenüber einer Solidarität mit korrupten Eliten anderer Länder und gegenüber einer technokratischen und elitenorientierten Politik nicht ernstgenommen haben.

In einigen Mitgliedsstaaten ist die Demokratie wirklich in Gefahr. Weniger durch technokratische Interimsregierungen als durch beinharte Korruption. Dass die Krisenländer so hart von der Finanzkrise erwischt wurden, hat etwas mit dem Zusammenspiel von Regierungen, Geld und privaten Interessen zu tun. Im Fall Irlands kann man das in Fintan O’Tooles Buch Ship of Fools: How Stupidity and Corruption Sank the Celtic Tiger nachlesen. Hier geht es um den Kern rechtsstaatlicher Verfahren. Was soll ein Europaparlament dagegen ausrichten?

Die heutige Debatte über Europa geht in vielerlei Hinsicht an den tatsächlichen Herausforderungen vorbei. Ein funktionierender Parteienwettbewerb und Rechtsstaatlichkeit sind der Schlüssel für eine funktionierende Demokratie. Demokratie heißt, mittels Wahlen einen Machtwechsel mit allen Konsequenzen zu ermöglichen. In der Europäischen Union gibt es diese Option des Machtwechsels nicht. Daher muss die Macht Brüssels zwangsläufig begrenzt werden und bleiben.

Ein europäischer, demokratischer Bundesstaat lässt sich durch die Europäisierung immer weiterer Politikfelder nicht erreichen. Leider weisen darauf derzeit nur die antieuropäischen Populisten hin. Die proeuropäischen Parteien hingegen schrecken immer wieder davor zurück, die Qualität von Demokratie und die Grenzen Europas auch nur zu diskutieren. Als ob bereits eine Diskussion zu Xenophobie und Populismus führen würde. *

So gesehen war die Studienreise der Europa-AG nach Prag schon ganz richtig. Hier kann man defizitäre Demokratie studieren. Ob mein Sohn deren Wirkungen angesichts der Vielfalt tschechischer Biersorten noch in Erfahrung bringen konnte, ist nicht überliefert.

* Das habe ich ausführlicher dargelegt in meinem Beitrag „Jenseits der Euro-Rettung – Für einen Perspektivwechsel in der Europadiskussion“, erschienen kürzlich in der Zeitschrift „der moderne staat“, Heft 2/2014.

zurück zur Ausgabe