Wen das Krokodil zuletzt frisst

Die deutsche Debatte über Iran, Nahost und die Integration von Muslimen schwankt zwischen Alarmismus und Appeasement. Muslimischen Antisemitismus blenden wir gerne aus. Nötig ist eine Politiklinie, die nach innen und außen denselben Grundsätzen folgt

Manche haben sich zu früh gefreut. Nach der Bildung der Großen Koalition schienen die Auseinandersetzungen um die Grundorientierung der deutschen Außenpolitik, zu denen etwa die Debatten über die transatlantischen oder russisch-französischen Achsenbildungen zählten, der Vergangenheit anzugehören. Ähnliches war zunächst ebenso für die „eigenen“ Wege der deutschen und europäischen Nahostpolitik in Abgrenzung zur amerikanischen Position anzunehmen. Unrecht hatten demnach scheinbar auch diejenigen, die schon immer der Auffassung waren, Deutsche einerseits und Amerikaner, Briten, Polen oder Israelis andererseits hätten aus der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg ganz verschiedene Dinge „gelernt“, die Deutschen nämlich „Nie wieder Krieg“, die anderen dagegen „Nie wieder Hitler“. Die von der antisemitischen Islamischen Republik Iran ausgehende Proliferationsgefahr schien auf der westlichen Seite die alten Rivalitäten und Gegensätze aufzuheben.

Nach einer Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf einer internationalen Tagung in München zu Beginn des Jahres 2006 ist aber in der Außenpolitik zwischen Teilen der SPD und der Union (nicht zwischen Außenminister und Kanzlerin) manches doch wieder so, wie es war, als man sich in Regierung und Opposition gegenüberstand. Die erste Reaktion der CDU/CSU auf die aus der SPD Anfang 2006 zu hörende Meinung, Gewalt gegenüber dem Iran sei auszuschließen und ein Vergleich der Iran-Gefahren mit der Hitlerzeit müsse auf Bedenken stoßen, fiel merkwürdig blass aus. Es handele sich dabei, so die Unionsvertreter, um SPD-Auffassungen, die durch den Wahlkampf für die Landtagswahlen im Frühjahr 2006 zu er klären seien. In einigen Lagebeurteilungen zum Libanonkrieg waren übrigens ähnliche Positionsdifferenzen zu erkennen.

Profilbildung ist für jede Partei in nahezu jeder Situation ein legitimes Anliegen, auch – oder gerade – in einer Großen Koalition. Auch die Außenpolitik kann von der Profilierung nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Das machen im Rückblick etwa die in der ersten Großen Koalition zwischen SPD und Union sichtbar werdenden Konzeptionsunterschiede auf diesem Gebiet deutlich. Langfristig wirkende politische Positionsbindungen sollten allerdings auch langfristig haltbar sein; man kann sie deshalb nicht in erster Linie an vorübergehenden konjunkturellen Erwägungen ausrichten.

Antisemitisches Weltverständnis im Islam

Für die Politikorientierung in Nahost und Europa stellt sich mithin die Frage: Wo liegt im Verhältnis zu islamischen Staaten und Gemeinschaften das richtige Maß zwischen Appeasement und Alarmismus – sowohl in der Außenpolitik wie in der gesellschaftspolitischen Debatte über „Toleranz“, „Dialog“ und den „Krieg der Kulturen“? Eine Antwort setzt zunächst bestimmte Begriffs- und Sachklärungen voraus.

Wichtig ist dabei unter anderem, welche Bedeutung dem Antisemitismus für die Konfliktkonstellation im Nahen Osten und für die Gestaltung der Beziehungen zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften in Europa zugemessen wird. Gehört das Thema „Antisemitismus im Islam“ zum islamisch-europäischen Dialog zwischen den Staaten und innerhalb der einzelnen Gesellschaften?
Unter den deutschen Diskussionsbedingungen ist die Frage nach dem Gewicht der Antisemitismusströmungen im Verhältnis zwischen Islam und Nicht-Islam erklärungsbedürftig. Vor noch nicht allzu langer Zeit war das Problem „Antisemitismus im Islam“ kein Thema in der deutschen politischen Debatte, weder bezogen auf die islamischen Staaten noch auf die muslimischen Minderheiten in Europa oder Deutschland. Noch immer gibt es die alte, weit verbreitete Position, muslimischer Antisemitismus in Nahost und Europa sei, soweit überhaupt vorhanden, im Wesentlichen auf den arabisch-israelischen Konflikt zurückzuführen; er werde daher nach dessen „Lösung“, für die vor allem Israel verantwortlich gemacht werden müsse, bald wieder verschwinden.

Diese bequeme These blendet allerdings große Teile der Wirklichkeit aus. Der Antisemitismus im islamischen und jener im christlich-jüdisch-westlichen Kulturkreis sind nicht erst seit der islamischen Einwanderung nach Europa – und nicht nur dort – ungute Verbindungen eingegangen. Hitlerdeutschland hat im Bündnis mit größeren Teilen der damaligen arabischen Nationalbewegung zur Verbreitung seines antisemitischen Weltverständnisses im Islam einen wesentlichen Beitrag geleistet. Der deutsche Schuldabwehr-Antisemitismus, der etwa in der deutschen Mehrheitsmeinung sichtbar wird, Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern sei mit den nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden vergleichbar, enthält viele Stichworte aus dem islamisch-arabischen Diskurs.

Das Erbe von Stalinismus und Hitlerismus

Seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten auch die stalinistische Führung der Sowjetunion und die sowjetische Agitation nach 1967 einen Beitrag zur Verbreitung problematischer, zum Teil offen antisemitischer Positionen geleistet. Diese im Westen und in der Dritten Welt sehr erfolgreiche Propaganda hatte einen bedeutenden Anteil an der Verwischung der Grenzen zwischen Antisemitismus und Antizionismus sowie an der Delegitimierung des einzigen jüdischen Staates (dessen Gründung von der Sowjetunion, nicht ohne „antimperialistische“ Nebenabsichten, ursprünglich unterstützt worden war). Spätestens seit den achtziger Jahren ist zu erkennen, dass – in einer eigenartigen Wirkungsverbindung von hitlerdeutscher und sowjetischer antisemitischer Propaganda mit älteren islamischen und national-arabischen judenfeindlichen Traditionen – der arabisch-jüdische Konflikt auf der Seite der arabischen oder auch anderer islamischer Länder wie Iran antisemitisch grundiert worden ist. Zahlreiche antisemitische Äußerungen, Publikationen und Positionen – von Buchproduktionen (etwa der auch von Adolf Hitler geschätzten, klassisch antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“) bis hin zu Fernsehsendungen – belegen dies.

Welche Kritik an Israel ist legitim?

Viele muslimische Immigranten in Europa bringen derartige Auffassungen in ihre neue Heimat mit. Zum Teil werden die entsprechenden antisemitischen Vorurteile auch erst in Europa vermittelt, etwa durch Fernsehsender wie die von der Hisbollah mit iranischer Unterstützung betriebene Station Al-Manar. Zwischen den Herkunftsländern der muslimischen Emigration und den Ausgewanderten gibt es auch in dieser Frage einen Kommunikationsprozess. Die Existenz von antisemitischen Auffassungen in der Einwanderergruppe und in der Mehrheitsgesellschaft bleibt weder der einen noch der anderen Seite verborgen. Medien der Mehrheitsgesellschaft spielen bei der Vermittlung von israelfeindlichen bis antisemitischen Meinungen eine gewisse Rolle.

In diesem Zusammenhang ist es für die Debatte wichtig, zwischen der Kritik an Israels jeweiliger Regierung (für die Israel selbst auch nach dem neuen Libanonkrieg ein Beispiel gibt) und „nur“ antizionistischen Auffassungen einerseits sowie antisemitischen Positionen andererseits eine Grenze zu ziehen. Eine internationale Konferenz jüdischer Gemeinschaften in Jerusalem im Jahr 2004, ein darauf beruhender israelischer Diskussionsbeitrag auf einer OSZE-Konferenz in Berlin (ebenfalls 2004) und andere ähnliche Erklärungen aus dem Folgejahr haben sich mit dieser Frage befasst. Abgesehen von unbedeutenden Unterschieden in den Feinheiten besteht dadurch im Grundsatz bei denjenigen, die auf diesem Gebiet überhaupt konsensfähig sind, weitgehend Übereinstimmung. Die Grenze zum („neuen“) Antisemitismus ist demzufolge jedenfalls dann überschritten, wenn man bei der Kritik an Israel Maßstäbe anlegt, die nur bei ihm und sonst bei keinem anderen Land angelegt werden; wenn man Israel und den Zionismus dämonisiert, etwa im Sinne von Verschwörungstheorien, die Israel und die „Zionisten“ für die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder für alle Missstände in der arabischen und islamischen Welt verantwortlich machen; oder wenn man die Vernichtung Israels fordert.

Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung

Alle diese Negativkriterien sondern Israel gewissermaßen als – rechtlosen – Juden unter den Staaten aus; man kann sie deshalb auch insgesamt als Unterfälle des Prinzips der ungerechtfertigten Ungleichbehandlung ansehen. Damit sollen nicht etwa die Besonderheiten des jahrhundertealten, kulturell tief verankerten Verfolgungsphänomens „Antisemitismus“ in Frage gestellt werden, die seine allgemeine Einordnung in die angeblich übergreifenden Erscheinungen von Rassismus, Xenophobie oder verschiedenen Formen von Religionsfeindschaft ausschließen. Bei derartigen „Einordnungen“ handelt es sich zumeist um den durchsichtigen Versuch, die historisch nur allzu deutlich belegte Singularität und Gefährlichkeit von Antisemitismus sowie dessen damit zusammenhängende negative Bedeutung zu relativieren.

Eine verhältnismäßig neue Wortschöpfung, die auch von konservativen islamischen Formationen gerne verwandt wird, heißt „Islamophobie“. Diese ist, anders als dies politische Erklärungen oder manche Studien mit wissenschaftlichem Anspruch nahelegen, nicht auf die gleiche Bewertungsstufe wie „Antisemitismus“ zu stellen. Schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt die Unterschiede: Keines der zahlreichen Herkunftsländer der islamischen Immigration ist von Vernichtung bedroht. Niemand will Muslime in aller Welt diffamieren, bekämpfen und gegebenenfalls ausrotten. Niemand wirft Muslimen vor, sie würden Christen- oder Judenkinder schlachten, um mit ihrem Blut für religiöse Feiertage Brot zu backen – wie dies etwa eine Fernsehserie in staatlich kontrollierten Sendern mehrerer islamischer Länder umgekehrt über Juden behauptet. Für Antisemitismus gibt es ebenso wenig eine Rechtfertigung wie für Sklaverei oder Terrorismus; auch angenommene oder tatsächliche „Demütigungen“ rechtfertigen keinen Antisemitismus. Für Antisemitismus darf es in gleicher Weise kein – wie auch immer begründetes – Verständnis geben, auch nicht in der häufig zu hörenden Version, islamischer Antisemitismus sei im Kontext der Nahostkonflikte zu sehen und zu „erklären“. Wer behauptet, „die Juden sind am Antisemitismus selbst schuld“, der verwendet, ob bewusst oder unbewusst, eine antisemitische Argumentation.

Schon Atatürk kritisierte den Islam

Kritik an islamischen Positionen – etwa gegenüber traditionellen islamischen Auffassungen zum Geschlechterverhältnis, zu den Menschenrechten, vor allem zur Glaubensfreiheit, zur Nicht-Abgrenzung zwischen „Religion“ und „Politik“ oder insgesamt zur Demokratie – muss demgegenüber nicht nur erlaubt sein, sondern ist in mancher Hinsicht geradezu dringend notwendig. Dies zeigen nicht zuletzt Kemal Atatürks Reformen seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Furcht der nichtmuslimischen Flüchtlinge aus dem Südsudan vor den sie verfolgenden muslimischen Regierungsstreitkräften mag in Teilsektoren in eine allgemeine Abneigung gegenüber Muslimen münden (vergleichbar mit manchen antideutschen Meinungsströmungen nach dem Zweiten Weltkrieg) – als unverständlich und gänzlich unerlaubt wird man derartige Reaktionen aber kaum bezeichnen können.

„Generalverdacht“ gegen Muslime?

Eine dem antisemitischen Verfolgungswahn ähnliche Diskriminierungsposition gegenüber allem Muslimischen und gegenüber dem Islam wäre – und ist – selbstverständlich ebenso abzulehnen wie der Antisemitismus selbst. Vergleichbares gilt auch für bestimmte Varianten von antimuslimischer Fremdenfeindlichkeit. Derartige Auffassungen sind aber deutlich von anderen Formen der Islamkritik abzugrenzen, die ihrer Art nach nichts mit Antisemitismus-Verfolgungsmustern zu tun haben. Leider zeigt der Umgang mit dem Begriff „Islamophobie“ häufig, dass auch notwendige, zulässige oder zumindest verständliche islamkritische Positionen in den Verbotsbereich der „Islamophobie“ einbezogen werden sollen – was einen derartigen Begriff politisch unbrauchbar und zum Manipulationswerkzeug für fragwürdige Interessen machen müsste.

Auf einem anderen semantischen Weg werden übrigens ähnliche Ziele erreicht. Man müsse die Muslime auch bei zugegebenermaßen problematischen Vorfällen – etwa angesichts der gescheiterten Eisenbahnattentate – vor einem „Generalverdacht“ schützen, lauten Äußerungen aus der deutschen politischen Debatte. Wurde aber ein derartiger „Generalverdacht“ gegenüber allen Muslimen, von Necla Kelek bis zum Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland, tatsächlich von relevanten Stimmen geäußert? Wäre es nicht angebracht, in diesem Zusammenhang auch einmal die muslimische antisemitische Agitation in Nahost und in Deutschland anzusprechen und die jüdischen Gemeinschaften öffentlich in Schutz zu nehmen?

Abgrenzungsschwierigkeiten vergleichbarer Art kennzeichnen ebenso den deutschen Umgang mit dem Karikaturenstreit. Man kann, wenn man einmal Fragen zur Meinungsfreiheit zurückstellt, die dänische Zeitung Jyllandsposten wegen der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen scharf kritisieren und ihr zugleich die Absicht unterstellen, eine anti-islamische Agitation mit allen in Kauf genommenen Konsequenzen in Gang zu setzen. Eine derartige Position ist allerdings kaum akzeptabel, wenn sie nicht zugleich die Empörung in der islamischen Welt kritisch aufgreift, die erst Monate nach der Jyllandsposten-Publikation organisiert wurde und die sich in den meisten Fällen ohne eigene Kenntnis der Karikaturen äußerte. Im Übrigen wäre als Minimum der Kritikbalance zu erwarten, dass neben der Karikaturenveröffentlichung in Europa auch die zahllosen antisemitischen Karikaturen und andere vergleichbare Ausfälle an den Pranger gestellt werden, die staatliche oder staatlich beaufsichtigte Medien der islamischen Länder täglich publizieren.

Wen werden Irans Atomraketen bedrohen?

Eine einseitige Stellungnahme im Karikaturenstreit zugunsten der islamischen Seite – wer auch immer damit konkret gemeint sein soll – verdient die Bezeichnung „Appeasement“. Sie würde übrigens auch den modernen und emanzipierten muslimischen Bürgerinnen und Bürgern in den Rücken fallen, die sich kritisch mit deutschen Beschwichtigungsneigungen gegenüber problematischen Islamaspekten auseinandersetzen. „Dialog“ ohne Kritik an islamischen Positionen, zu denen auch der weit verbreitete Antisemitismus gehört, wäre eine Alibiveranstaltung, die nicht den Interessen der Mehrheit der Muslime entspräche. Das gilt sowohl für die gesellschaftspolitische Debatte, etwa in der Islamkonferenz, als auch für die Staatenbeziehungen.

Man kann darüber spekulieren, wann der Iran über Atombomben verfügen wird. Dass die Islamische Republik Iran von Anfang an den Atombombenbau angestrebt hat und weiterhin anstrebt, steht allerdings seit langem fest. Die Behauptung (auch aus dem Iran), Israel könne mit einer Atombombe zerstört werden, enthält gewiss eine alarmistische Übertreibung. Dass die Islamische Republik von Anfang an Israel als Zielgebiet für die noch zu bauenden Atombomben im Sinn hatte und dass sie Israel auslöschen will, kann andererseits nicht ernsthaft bezweifelt werden.

Wann ein „Dialog der Kulturen“ sinnlos ist

Die Verhandlungen mit dem Iran hätten nicht von vornherein für sinnlos erklärt werden dürfen; das gilt auch nach den Sanktionsbeschlüssen des UN-Sicherheitsrats. Ebenso sind andererseits die durch die nukleare Proliferation mittelfristig entstehenden Gefahren realistisch einzuschätzen. Wer dies nicht tun und zur Gefahrenabwehr keinen relevanten Beitrag leisten will, muss sich den Appeasement-Vorwurf und deshalb auch den Vergleich mit den dreißiger Jahren gefallen lassen.

Ähnliches trifft auf die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Grundorientierung der Islamischen Republik Iran und vieler anderer islamischer Staaten oder Organisationen (etwa: Syrien, Hisbollah, Hamas) sowie insgesamt innerhalb des Islam zu. Solche Orientierungen sind ein wesentliches Hindernis für eine tragfähige Konfliktlösung im Nahen Osten. In den Staatenbeziehungen sollte das Thema deshalb nicht ausgeklammert, sondern – anders als bisher – regelmäßig öffentlich angesprochen werden. Beschwichtigung ist in derartigen Fragen keine adäquate Haltung. Sie unterminiert vielmehr in zentralen Menschenrechts- und Demokratiepositionen die westliche, europäische und deutsche Glaubwürdigkeit. Wenn ein „Dialog der Kulturen“ diesen Sektor aussparen soll, ist er sinnlos.

Zwischen der kemalistischen Türkischen Republik und der Islamischen Republik Iran, um diese beiden Länder als sehr verschiedene Beispiele herauszugreifen, liegen trotz des zunehmenden Einflusses der türkischen Mehrheitspartei AKP immer noch Welten, wenn auch inzwischen weniger eindeutig in der Antisemitismusfrage. Andererseits muss eine realistische Beurteilung den Zusammenhang zwischen dem Integrationsprozess unserer muslimischen Minderheiten in Europa und der Entwicklung in der islamischen Welt erkennen. Diese Entwicklung ist insgesamt durch eine Modernisierungskrise geprägt, die auch im Anwachsen radikaler antiwestlicher und antisemitischer Strömungen sichtbar wird. Wenn wir in der Integrationspolitik, im Medienbereich und in anderen Sektoren gegen diese Strömungen erfolgreich sein wollen, sind wirksame Maßnahmen erforderlich, die sich nach innen und nach außen an den gleichen Maßstäben orientieren. Sie müssen sich sowohl auf staatliche wie supranationale Instanzen, die nationale Politik und die Zivilgesellschaft als auch auf die pädagogische Ebene beziehen – angefangen von der Vermittlung von Sprachkompetenz über mit unserer Verfassung zu vereinbarende Angebote religiöser Information und Unterweisung bis hin zur Werbung für unsere Verfassungsgrundsätze.

Alarmismus zahlt sich selten aus

Die sinnvollen Politikalternativen bewegen sich zwischen den beiden Polen von Appeasement und Alarmismus. Alarmismus zahlt sich selten aus. Wir stehen nicht, wie Alarmisten behaupten, vor einem „Krieg der Kulturen“, und wir sollten uns auch im Interesse unserer muslimischen Bürgerinnen und Bürger nicht das Gegenteil aufschwatzen lassen. Die Konfliktlinie verläuft innerhalb der islamischen Gesellschaften und innerhalb der islamischen Minderheiten in Europa. In bestimmten Fragen muss man sich allerdings entscheiden: Es gibt keine antisemitischen Demokraten und keine demokratischen Antisemiten. Ein Verschweigen oder Kleinreden löst die Probleme auf diesem Feld nicht.
Wie unberechenbar integrationspolitische Konstellationen sein können und wie wenig sich deshalb allzu taktisch auf Wählerstimmen orientierte Positionen lohnen, zeigt die neuere französische Entwicklung. Der antisemitische, nationalistische Front National von Le Pen überlegt sich zur Zeit nicht etwa, wie er mit Alarmmeldungen über die weitere Zunahme des im Vergleich ohnedies sehr hohen muslimischen Bevölkerungsanteils populistische Stimmung machen und Wähler gewinnen kann. Nein, er setzt auf die Einwerbung von muslimischen Wählerinnen und Wählern in Frankreich. Es gebe, so der Front National, vergleichbare Ausgangspositionen: die kritische Haltung gegenüber dem „jüdischen Einfluss“, den Vereinigten Staaten und bestimmten Aspekten der westlichen Demokratie. Offenbar besteht – man glaubt es kaum – bei einem beachtlichen Teil vor allem der muslimischen Jugendlichen Bereitschaft, auf ein derartiges Wahlangebot einzugehen.

Was unverhandelbar ist und was nicht

Appeasement und Anbiederung gegenüber demokratiefeindlichen Positionen sind, wie auch dieses Beispiel deutlich macht, für Demokraten weder nach innen noch nach außen vertretbare Handlungsmaximen. Appeaser, so hat es Churchill einmal formuliert, setzen darauf, dass sie das Krokodil, wenn man es nur mit genug Opfern füttert, als letzte frisst; das Problem ist, dass sich das Krokodil oft nicht an die erwartete Fressfolge hält. Meist trägt das Appeasement gegenüber aggressiven Bewegungen im Inneren wie im Ausland gerade nicht zur Friedenssicherung bei, sondern fördert den Konflikt, weil es beim Angreifer Illusionen darüber auslöst, wo die Grenzen liegen. Man sollte deshalb – nach innen, etwa in der Islamkonferenz, wie nach außen – deutlich machen, über was verhandelt werden kann und über was nicht. Unverhandelbar sind dabei ebenso die Grundsätze unseres Menschenrechts- und Demokratieverständnisses wie unsere Position zu Israel.

zurück zur Person