Weltrisiko und Weltkrieg

Gabor Steingart und Ulrich Beck deuten die Globalisierung - mit deutlich unterschiedlichen Ergebnissen

Folgt man dem Bremer Entwurf für das neue Grundsatzprogramm der SPD, dann soll für die Zukunft der Sozialdemokratie in ihrem politischen Zielkatalog „eine friedliche, freie und gerechte Weltordnung“ ganz obenan stehen. Unter den Titeln „Weltkrieg um Wohlstand“ und „Weltrisikogesellschaft“ haben dazu zwei Autoren, der Spiegel-Wirtschaftsjournalist Gabor Steingart und der Münchener Soziologe Ulrich Beck, zwei Bücher vorgestellt, die die wachsenden Unsicherheiten in einer zunehmend globalisierten Welt zum Thema machen. Beide Autoren wagen den Versuch, veränderte Bedingungen für politisches Handeln in der Moderne zu beschreiben. Beide provozieren und bereichern die grundsätzliche Diskussion – nicht nur innerhalb der Sozialdemokratie – um die zeitgemäße staatliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Friedenspolitik in der „einen Welt“. Dabei gehen sie jedoch höchst unterschiedlich an ihr Thema heran.

Auf in den Kampf, mit unerbittlicher Härte!

Wie heißt es im Text für das neue Grundsatzprogramm: „Wir haben in Europa durch fairen Interessenausgleich Frieden gesichert. Darum ist Europa jetzt besonders gefordert, diese Erfahrungen in eine neue Entspannungspolitik einzubringen.“ Können ein Journalist und ein Wissenschaftler hierzu jetzt neue analytische und politische Kategorien in die Diskussion einbringen?

Gabor Steingarts Thesen sind dabei so eingängig, wie undifferenziert. Reichlich angereichert um kraftmeierische Kriegsrhetorik steht der ökonomische Aufstieg Chinas und seiner asiatischen Nachbarn im Zentrum seiner Ausführungen. Dieser Aufstieg und der Kampf um höhere Anteile am weltweiten Sozialprodukt würden die wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Grundlagen des Westens bedrohen, meint der Autor. Dies zum einen, weil die so genannten asiatischen „Angreiferstaaten“ diesen Kampf mit unerbittlicher Härte führen würden und dabei weder auf arbeitsrechtliche Beschränkungen noch auf den Schutz der Umwelt Rücksicht nähmen. Zum anderen auch deswegen, weil der Westen dieser Entwicklung bisher tatenlos zugesehen habe. Wolle der Westen nicht weiter zurückfallen, müsse er beginnen, sich zu wehren. Steingarts Arsenal in diesem „Weltkrieg um Wohlstand“ enthält viel neoliberale Munition, die in den innenpolitischen Debatten der vergangenen Jahre bereits reichlich verschossen wurde. Kurz gesagt: Wer in Steingarts Krieg wirksam aufrüsten will, muss zunächst einmal sozialpolitisch ordentlich abrüsten. Und als neue Perspektive fügt er hinzu: Der Gewerkschafter der Zukunft könne nicht mehr an erster Stelle Tarifpolitiker und Vorkämpfer des Sozialstaats sein, sondern müsse sich vielmehr als Handelspolitiker verstehen. Eine sozialdemokratische und gewerkschaftliche Perspektive kann dies allerdings schwerlich sein.

Mehr Aufmerksamkeit im Sinne der angestrebten modernen Entspannungspolitik als Teil einer zukünftigen Weltinnenpolitik verdient da schon Steingarts Vorschlag, sich dem eskalierenden ökonomischen Wettbewerb partiell zu entziehen. Seine Idee einer transatlantischen Freihandelszone bei gleichzeitiger Revitalisierung eines wirtschaftlichen Neo-Protektionismus erinnert allerdings nicht nur rhetorisch an den Kalten Krieg. Bündnissolidarität des Westens gegen die Gefahr aus dem asiatischen Osten bei gleichzeitiger Eindämmung des weltweiten Aktionsradius der globalen Gegenspieler – das wäre die Politik des Containment eines George F. Kennan unter neuen, ökonomischen Vorzeichen.

Aber: Warum sollte gerade der Globalisierungsgewinner und Exportweltmeister Deutschland von einer Politik profitieren, die auf neuen Protektionismus und die Abschottung der Märkte setzt? Auch wie unter diesen Vorzeichen ökonomische und ökologische Perspektiven für die Mehrheit der Menschheit etabliert werden sollen, die nicht in den Industrieländern lebt, spielt in Steingarts Ausführungen eine untergeordnete Rolle. Die wohlstandshungrigen asiatischen Arbeiter sind für ihn denn auch in erster Linie eine Bedrohung und nicht der Adressat einer ausgewogenen internationalen Wirtschaftspolitik. Man denkt an Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“

Nur, ohne Moral wird die SPD gerade nach über 140 Jahren Parteigeschichte und Politikgestaltung nicht auskommen wollen und dürfen. Kann der Wissenschaftler und Moralist Ulrich Beck hier hilfreiche Antworten geben? Die Quintessenz seiner Analysen lautet: Die Welt ist einer neuen Qualität globaler Risiken ausgesetzt. Für Beck zählen dazu vor allem der Klimawandel, die Krisenanfälligkeit der internationalen Finanzmärkte sowie der internationale Terrorismus. Diesen Risiken ist gemeinsam, dass sie egalitär und damit „demokratisch“ sowie ubiquitär sind, obwohl sie regional und auf der Zeitachse in unterschiedlicher Form zu Tage treten.

„Wir“ statt „Die und/oder Wir“. Alles klar?

Während Steingarts Konzepte auf eine Verschärfung der Konflikte setzen, sieht Beck wirksame Lösungswege nur in verstärkter internationaler Kooperation. Die neuen Risiken bedeuten für Beck das „Ende der Anderen“ und damit das „Ende aller Distanzierungsmöglichkeiten“. Aussicht auf Sicherheit schafft nur das „Wir“, nicht das „Die und/oder Wir“ – analog zur Bahrschen Theorie und Praxis der „gemeinsamen Sicherheit“ aus der Zeit der „klassischen“ Entspannungspolitik.

Wie die neuen Risiken als Gegenstand einer neuen Entspannungs- und Sicherheitspolitik genau aussehen, wird von Beck fast schon erschöpfend durchbuchstabiert. Gleichzeitig bleibt er sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, über das Grundsätzliche hinausgehende konkrete Handlungsempfehlungen aufzuzeigen. Dies bleibt den politischen Akteuren vorbehalten. Kurt Beck, Frank-Walter Steinmeier und andere: Übernehmen Sie!

Dafür liefert Ulrich Becks Weltrisikogesellschaft interessante Ansätze, mit denen Thesen und Argumentationsmuster im Sinne eines ökonomischen Neo-Bellizismus – wie ihn Gabor Steingart beschreibt – eingeordnet werden können. Ein Risiko ist eben keine unumstößliche wissenschaftliche Wahrheit, sondern das, was als Risiko wahrgenommen wird. Immer wieder stellt sich die Frage, wer entscheidet, was ein Risiko ist und was nicht? Die Definitionshoheit über mögliche Bedrohungen beruht auf den Herrschaftsverhältnissen in der Gesellschaft, also der Möglichkeit, ein entsprechendes Problembewusstsein zu schaffen oder zu verhindern. Über Herausforderungen und politische Konsequenzen muss also jeden Tag vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse diskutiert und entschieden werden.

Gabor Steingart versucht, die öffentliche Debatte ganz im Sinne des TINA-Zeitgeistes („There is no alternative“) zu beeinflussen. So ausführlich der Autor die unbegrenzte Dynamik der chinesischen Wirtschaft beschreibt, so undynamisch scheint ihm das Reich der Mitte in Bezug auf weitergehende politische Entwicklungen vorzukommen. Aber ist diese Einschätzung realistisch? Werden die Chinesen den Raubbau an ihrer Umwelt und ihren natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft ignorieren können? Wird die chinesische Bevölkerung, den wachsenden Wohlstand vor Augen, dauerhaft auf die Durchsetzung elementarer Menschenrechte verzichten? Ist mehr Wohlstand für alle ohne mehr Rechte für Arbeiterinnen und Arbeiter und ohne soziale Absicherung überhaupt erreichbar? Man braucht nicht Ulrich Beck zu zitieren, um zu antworteten: „Wohl kaum“.

Ulrich Becks Ansatz bleibt fragil

Diese optimistische Sichtweise nun zu einer alternativlosen Entwicklung zu verklären, wäre auch mit Blick auf die beiden Autoren gleichwohl verfehlt. So extrem Gabor Steingarts Ansatz ist, gemeinsam mit den reichen Nationalstaaten des Westens in die Auseinandersetzung um die ökonomische Dominanz der Zukunft zu ziehen, so fragil bleibt Ulrich Becks kosmopolitischer Ansatz, der qua voluntaristischem Akt der Aufklärung in den Nationalstaaten alle Grenzen und Gräben überwindet, seien sie politischer, kultureller oder geografischer Art. Sicher, der gemeinsame Wille, eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz politisch zu gestalten, ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung, um die Steingartschen Kriegsszenarien zu verhindern. Aber die Einsicht, dass die Nationalstaaten angesichts globaler militärischer und terroristischer Risiken sowie ökonomischer, ökologischer und sozialer Herausforderungen ihre Interessens- und Machtpolitik im Sinne gemeinsamer Sicherheit und Wohlfahrt überwinden müssen, muss erst noch politisch und instrumentell untermauert werden.

Nun wissen aber Sozialdemokraten in der Tradition von Willy Brandt um die widerstreitenden Kräfte und Blockaden, die bei einer Entspannungspolitik zur Auflösung von Konfliktspiralen auszuhalten und in einen konstruktiven Interessensausgleich zu bringen sind. Dies war schon so, als es noch darum ging, die Blockkonfrontation im Kalten Krieg aufzubrechen. Und dies wird erst recht jetzt so sein, da die noch komplexer definierte Aufgabe ansteht, eine „ökonomische, ökologische und kulturelle Entspannungspolitik“ zu formulieren.

Solch eine Entspannungspolitik muss die bestehenden Interessen anerkennen, statt sie rhetorisch zu nivellieren oder sie konfliktträchtig zu überzeichnen. Sie darf nicht die gerade abgelöste Dualität der alten Weltordnung dadurch überwinden, dass sie die derzeit vorangetriebene Globalisierung zum universalen Dogma erhebt. Dies führt nicht zu mehr Eintracht, sondern fordert Konflikte geradezu heraus.

„Sagen, was ist“, forderte bekanntlich Ferdinand Lassalle. Die politische, ökonomische und kulturelle Multipolarität der Welt ist eine Realität. Multipolarität nicht zu bekämpfen, sondern alternative Wege zum Umgang mit der Globalisierung zuzulassen und in erneuerten globalen Institutionen zum Ausgleich zu führen und auszubalancieren – das ist ein zukunftsträchtiger Ansatz erweiterter Entspannungspolitik.

Willy Brandts Tafelsilber gehört aufpoliert!

Die Sozialdemokratie sollte dazu beitragen, das von Willy Brandt hinterlassene Tafelsilber in diesem Sinne aufzupolieren und für neue Zeiten nutzbar zu machen. Es war kein Zufall, dass der erst mit der Entspannungspolitik erfolgreiche Bundeskanzler Willy Brandt sich später als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale in der Nord-Süd-Kommission mit wegweisenden Konzepten zu den gemeinsamen Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer neu erfunden hat. Denn gemeinsam „das Überleben sichern“ (Willy Brandt) wird in der Weltrisikogesellschaft des 21. Jahrhunderts zum politischen Imperativ.

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