Künstler in jedes Klassenzimmer

Einst war die Bildungspolitik ein sozialdemokratisches Markenzeichen - dann wurde sie fast zum Verliererthema. Jetzt nimmt die Partei noch einmal Anlauf. Was sie dabei am meisten braucht, ist der Mut zu klaren Zielen

Es war manchmal schon zum Verzweifeln mit der Vielstimmigkeit, die einem aus der sozialdemokratischen Bildungspolitik entgegenschlug. Als ob Föderalismus auf Sozialdemokratisch "anything goes" heißen müsste. Und ist Bildungspolitik andererseits nicht auch mehr, als unwandelbar vor sich her zu tragen, was Bildungsreform einmal gewesen ist? Das Arbeiten an der schnöden Realität (vorrangig der Länderfinanzen) trug das Seine dazu bei, dieses einstige Markenzeichen sozialdemokratischer Zukunftspolitik zu beschädigen: durch finanzorientierte Verwaltung statt politische Gestaltung, durch weniger statt mehr Bildungsausgaben, durch defensive Verteidigung statt mutige Visionen. Bildungspolitik drohte zum Verlierer-thema zu werden. Schon machten sozialdemokratische Landesregierungen nicht einmal mehr den Versuch, damit Wahlen zu gewinnen. Fast schien es, als hätte es die Partei aufgegeben, eine bildungspolitische Plattform mit Profil und langfristigen Zielsetzungen aufzubauen.

Die Wende war überfällig - und wurde eingeleitet, Schritt für Schritt und fast unmerklich. Die erste Etappe war das Bildungspolitische Memorandum, das der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement, Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn und andere im Januar 2000 vorlegten. Auch Gerhard Schröder hat auf einem bildungspolitischen Kongress in Bonn am 25. Januar des vergangenen Jahres dem Anspruch der Bildungsoffensive Nachdruck verliehen: "Chancengleichheit für alle und differenzierte Leistungsförderung", "individuelle Entfaltung und sozialer Zusammenhalt", "Sicherung von Standards und Aufbruch zu Innovation", "lokale Einbindung und lokale Vernetzung", "öffentliche und private Verantwortung für die Bildungsfinanzierung" - so lauteten die Leitbegriffe dieses Papiers. Mit der Forderung nach 12- und 13-jährigen Bildungsgängen bis zum Abitur, dem Bekenntnis zur Förderung Hochbegabter, der Orientierung weg von der traditionellen Halbtagsschule wurden Wegmarken in neues Terrain gesetzt.

Fremdsprachen in der Grundschule

In der zweiten Etappe haben im Januar dieses Jahres führende Bildungspolitiker der SPD im "KIRKEL-Kreis" von Bund und Ländern nachgelegt. "Herausforderung an Schule, Hochschule und Weiterbildung im 21. Jahrhundert - Globalisierung und Integration" lautete der Titel ihrer Thesen, die Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Muttersprache ins Zentrum rücken. Als Kernforderung kommen Sprachkompetenz und Fremdsprachenlernen schon in der Grundschule dazu. Der kompetente Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologie wird zum Essential erhoben.

Jetzt ist die Zeit der Zwischenrufe

Als dritte Etappe liegt jetzt ein Leitantrag zum Bundesparteitag im November 2001 vor, der von einer Kommission der "Bildungsgrößen" der SPD erarbeitet wurde. Er soll die Positionsbestimmung in Bildungsfragen an die allgemeine Modernisierungsdiskussion der Sozialdemokratie anbinden und ist - umfassend, zukunftsbezogen, wertorientiert - als mittelfristiges Programm der SPD im Feld Bildung konzipiert. Die Kombination von Chancengleichheit und Leistungsförderung soll das zentrale Projekt sein. Damit ist die Zeit für Zwischenrufe angebrochen.

"Gerade der Bildungsbereich muss Vorreiter sein für neue Antworten, um Chancengleichheit und Leistungsfähigkeit unter veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen realisieren zu können": Dieser Satz aus dem Memorandum vom Januar 2000 wiegt schwer. Nötig ist dann allerdings auch der Mut zu klaren neuen Leitbegriffen, die prägend sein können für künftige Debatten. Nötig ist der Mut zu Zielen, die keine Halbheiten sind, zu Konzepten, die neue Strukturen schaffen.

Was heißt das? Mit der Durchsetzung der Idee der Gesamtschule als unverzichtbare Erweiterung der traditionellen Schulangebote hat die SPD eine Bresche für mehr Chancengleichheit geschlagen. Aber gleichzeitig wissen wir, dass die Gesamtschule weder alleinige Schulform sein kann noch sein wird. Die Strukturreform der Zukunft wird sich auf anderem Gebiet abspielen. Wichtig ist die Verdichtung der Kooperation der Schularten untereinander - die Kooperationsschule könnte zum neuen Leitbild werden. Notwendig ist auch die Vernetzung der Schulen in ihrem sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld - die SPD sollte den Begriff der Nachbarschaftsschule prägen. Erforderlich ist der Ausbau aller Grundschulen zu festen Halbtagsschulen und aller weiterführenden Schulen zu Ganztagsschulen. Die SPD muss sich auf das Ziel verpflichten, den Anteil der Ganztagsschulen kontinuierlich zu steigern und diesen Umbau in zehn Jahren abzuschließen. Weshalb sollte es nur auf anderen Feldern der Politik möglich sein, überprüfbare Handlungsziele zu entwickeln und durchzusetzen?

Wie wäre es also mit einer Agenda 21 der Bildung? Oder mit einem Orientierungsrahmen 2010? Und was die Nachbarschaftsschule angeht: Wieso ignoriert die SPD hier eigentlich das Wissen der von der Sozialdemokratie selbst begründeten Volkshochschulbewegung? Hinsichtlich des Leitbilds der Demokratie und der Bildung könnte sie eine entscheidende Rolle beim Aufbau von Kooperationen spielen.

Multimedia allein genügt nicht

Bildung braucht Zeit. "Die Neuverteilung der Lernzeit über die Lebenszeit erfordert neben der Verkürzung der Erstausbildung auch neue Arbeitszeitmodelle wie z.B. Bildungsteilzeit", fordert das Thesenpapier der "KIRKEL"-Runde mit Recht. Aber muss sich die SPD deshalb gleichzeitig auf eine Debatte um die frühere Einschulung, um Schulzeitverkürzungen auf 12 Jahre und um Kurzzeitausbildungen einlassen?

Weiterführende Bildung ohne ausreichendes Lernfundament gibt es nicht, die Persönlichkeit muss wachsen können. Auch Schlüsselqualifikationen entwickeln sich nicht im Schnelldurchgang. Für eine Bildungspolitik, die Chancengleichheit für alle will, gibt es keinen Grund, sich unter Zeitdruck setzen zu lassen. In den Kanon der flexibilisierten Bildungszeiten für die weiterführende Bildung gehört deshalb als Basisforderung: zehn Jahre Schulzeit als Fundament für alle. Diese Jahre müssen mehr Praxis- und Berufsweltorientierung bieten und die Erfahrung von sozialer und kommunikativer Kompetenz ohne Zeitdruck.

Multimedia ist nicht alles. Kinder und Jugendliche müssten kompetent mit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie umgehen können, lautet eine der Kernthesen der vergangenen Jahre. Es ist zwar richtig, dass sich sozialdemokratische Bildungspolitik, die Chancengleichheit zum Kern hat, darauf konzentriert, keine informationelle Mehrklassengesellschaft entstehen zu lassen. Aber müssen wir nicht gleichzeitig die Balance halten zwischen "modernen" Kulturtechniken und "alten" Medien der Kreativerziehung?

Solaranlagen auf jedes Schuldach!

Muss nicht der Schulgarten genauso wichtig werden wie der PC-Raum? Sind nicht Experimentierräume, die außerhalb des Unterrichts möglichst frei zugänglich sein müssen, genauso wichtig wie Internetanschlüsse? Wo öffnen wir die Schule genauso zielstrebig und engagiert für Künstler aller Art, wie es mit der Partnerschaft von Politik und Wirtschaft bei der "Multimedia-Offensive D 21" in den Schulen eingeleitet wurde? Zum SPD-Schulprogramm der Zukunft muss gehören, dass jede Schule "Vertragskünstler" hat, die sie in das Schulleben einbezieht. Jede Schule nähme so eine sozialkreative Aufgabe in der Nachbarschaft wahr.

Ebenso sollte in einem Schulprogramm ausgewiesen sein, wie jede Schule ökologische Bildung praktisch verwirklicht. Neben die Forderung nach einem Internetanschluss in jeder Klasse stellen wir die Forderung nach einer Solaranlage auf jeder Schule, zur Forderung nach einem Kooperationsbetrieb für die praktische Wirtschaftskompetenz stellen wir die Selbstverpflichtung jeder Schule zu einer Partnerschaft mit einer Schule in der Dritten Welt. In ihrer reform-pädagogischen Bildungsvision war die SPD in der Vergangenheit schon einmal weiter.

Peter Glotz, dem früheren Vordenker der SPD, verdanken wir das Credo der achtziger Jahre, die schulische Bildung müsse humanistisch, ökologisch und europäisch ausgerichtet sein. Tatsächlich können wir zwar feststellen, welche ökonomische Dynamik Europa seitdem entwickelt hat. Wir können aber auch feststellen, wie wenig die Jahrhundert-Utopie des gemeinsamen Europa bisher die Schulen bewegt hat. Ist es vermessen, innerhalb von zehn Jahren jedem Schüler einer allgemeinbildenden Schule in seiner Schulzeit vier Wochen Auslandserfahrung zu ermöglichen? Weshalb gibt es noch nicht an jeder Schule in Europa mindestens einen Lehrer aus einem anderen europäischen Land? Niemand könnte besser Mehrsprachigkeit, kulturelle Vielfalt und europäische Identität vermitteln. Mit Hilfe des Berufsbildes eines "Europalehrers" mit allgemeiner Zulassung in der EU wird dieses Ziel der europäischen Bildungsidee zu verwirklichen sein. Die SPD hat die Chance, an dieser Schlüsselstelle jeder kommenden Bildungsreform mit konkreten Konzepten Vorreiter zu werden.

Dabei muss uns klar sein, dass die notwendige Zuwanderung auch aus anderen Kultur-kreisen kommen wird. Die Frage, ob unsere Gesellschaft alle Mitglieder integriert, oder ob sie Gruppen ausgrenzt, hängt davon ab, wie nachhaltig wir Respekt und Wertschätzung für andere Kulturen verankern können. Kinder aus Afrika, Asien und Osteuropa haben gegenwärtig noch keinen Platz in deutschen Lehrplänen. Sie werden nicht als Träger spezifischer Kompetenzen wahrgenommen, und es gibt keine Anreize für deutsche Kinder, sich mit dem kulturellen Hintergrund ihrer nichtdeutschen Mitschüler auseinander zu setzen. Deshalb muss transkulturelle Kompetenz zum Lernziel werden.

Doch was allein zählt, ist die Tat

"Zukunft mit Mut" - so emphatisch haben die Verfasser des Bildungsmemorandums vom Januar 2000 den Schlussabsatz ihres Papiers überschrieben. Aber gerade in der Bildungspolitik muss sich der Mut in konkreten Reformen beweisen. Mehr als andere gesellschaftliche Handlungsfelder lässt die Bildungspolitik Platz für fruchtlose Theoriekämpfe und diffuse, nicht transparent gesteuerte Veränderungen. Mit ihrer Initiative kann die SPD zeigen, dass sie zur Entwicklung eines überprüfbaren Orientierungsrahmens für den Aufbruch in die Bildungsgesellschaft in der Lage ist. Dabei ist schulische Bildung nur das Fundament. Intensiver denn je muss sie mit den anderen Bildungssektoren zusammengebracht werden. Diese Aufgabe mutig anzugehen, liegt in der Bildungstradition der SPD.

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