Welthorizont und Historie

Weltgeschichtsschreibung ist wieder en vogue. Ein ambitioniertes Editionsprojekt liefert viel Mehrwert und ein paar Schrulligkeiten

Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert Europas. Diese Diagnose hat nichts mit Eurozentrismus zu tun, sondern ist eine Realitätsbeschreibung. Die Zeitgenossen haben es so empfunden, und auch die drei herausragenden Arbeiten zur Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts, die in jüngster Zeit erschienen sind, kommen zu diesem Ergebnis: Christopher A. Baylys Die Geburt der modernen Welt, Jürgen Osterhammels Die Verwandlung der Welt sowie John Darwins Der imperiale Traum. In einem soeben in der „Historischen Zeitschrift“ erschienenen Aufsatz „Das Jahrhundert Europas“ legt Dieter Langewiesche dar, warum dies so war. Triebkraft der Entwicklung, so Langewiesche, war der Nationalstaat, der überall in Europa das Ergebnis von Kriegen und Revolutionen war. Mit ihm erfolgte eine grundlegende Modernisierung der Staatsordnungen, die im Inneren auf politisch-gesellschaftliche Reformen und Partizipation, nach außen auf Machterweiterung und Abgrenzung setzte. In Verbindung mit dem Aufstieg Europas zum Wissenschaftszentrum der Welt lieferte der Nationalstaat die Grundlage dafür, dass die europäischen Staaten im 19. Jahrhundert eine überragende Militärmacht aufbauen konnten. „Der Krieg macht den Nationalstaat, und der Nationalstaat macht Krieg, um außerhalb Europas zu expandieren“, schreibt Langewiesche.

Befördert wurde der globale Aufstieg Europas durch die außergewöhnlich lange Friedensperiode nach dem Wiener Kongress 1815. Europa war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kein Schauplatz nennenswerter militärischer Auseinandersetzungen. Die Friedensperiode wurde lediglich unterbrochen durch einige Staatsgründungskriege, etwa im Zuge der deutschen oder italienischen Einigung, die jedoch Regionalkriege blieben und zudem als „gehegte“ Kriege geführt wurden – die Zivilbevölkerungen wurden kaum in Mitleidenschaft gezogen. Das führte dazu, dass in keinem anderen Jahrhundert die Zahl der europäischen Kriege und Kriegstoten geringer war als zwischen 1815 und 1914. Das bedeutet freilich nicht, dass die europäischen Staaten keine Kriege führten. Die Schlachtfelder lagen aber außerhalb Europas, wo die Großmächte zudem nicht gegeneinander kämpften, sondern im Zuge der imperialen Expansion die dortigen Gesellschaften und Herrscher grausam bekriegten.

Fortschritt durch Expansion

Möglich war dies, weil die Gesellschaften zuhause die Expansion nicht nur gut-hießen, sondern auch die dafür notwendige Hochrüstung finanzierten. Denn politische Macht war im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit Kolonialmacht. Die eigene Fortschrittsfähigkeit wurde gemessen an den Expansionserfolgen im Wettbewerb mit den europäischen Konkurrenten. Entsprechend galten die Gelder, die für neue Kriegstechnik und militärische Innovationen ausgegeben wurden, als gut investiert – und standen politisch nie ernsthaft zur Disposition. „Fähig zu sein zum Krieg“, so Langewiesche, galt im 19. Jahrhundert als „Modernitätsbeweis eines Staates und seiner Gesellschaft“. In dieser geistigen Grundhaltung sieht der Tübinger Historiker die Voraussetzung für die globale Dominanz, welche die europäischen Nationalstaaten in dieser Zeit errangen – und obendrein ein zentrales Merkmal des europäischen Jahrhunderts.

Mit den globalen Netzwerken, die im „langen“ 19. Jahrhundert entstanden sind, befasst sich der von Emily S. Rosenberg herausgegebene Band Weltmärkte und Weltkriege: 1870–1945. Das Buch ist das erste von sechs, die zusammen eine umfassende „Geschichte der Welt“ ergeben sollen. Herausgeber der Gesamtedition sind Akira Iriye von der Harvard University und Jürgen Osterhammel von der Universität Konstanz. Der Anspruch des Unterfangens wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass die Bände in einer Koproduktion des Münchner C.H. Beck Verlags und Harvard University Press erscheinen, in deutscher und englischer Sprache.

Wie zu erwarten, dient der zeitliche Rahmen des ersten Bandes – der in der Chronologie der Gesamtedition an fünfter Stelle steht – lediglich als eine ungefähre Orientierung. De facto gehen alle fünf Beiträge, die vom Umfang jeweils ein eigenes kleines Buch sein könnten, deutlich über das Fenster 1870 bis 1945 hinaus. Das gilt insbesondere für den ersten Beitrag des Buches von Charles S. Maier, der sich mit der Entstehung moderner Staatlichkeit im 19. Jahrhundert befasst und – zusammen mit Tony Ballantynes und Antoinette Burtons Kapitel zum Imperialismus – dem Werk seine Struktur verpasst. Maier blickt dafür bis ins 18. Jahrhundert zurück. Der Zerfall der alten Ordnung in Europa und das darauf folgende Konzept des Nationalstaates entfalteten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine einmalige weltweite Prägkraft, welche maßgeblich dazu beitrug, dass die Geschichte in dieser Zeit „global“ wurde.

Die Homogenisierung der Welt vor 1914

Überall auf der Welt, zunächst in der westlichen Hemisphäre, ab der Wende zum 20. Jahrhundert dann auch in der östlichen und fernöstlichen Welt, entstanden unabhängige Nationalstaaten, die aus Kriegen und Revolutionen hervorgegangen waren. Damit einher ging die oben bereits erwähnte Modernisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durch die Etablierung parlamentarischer Regierungen, die globale Vernetzung des Handels sowie neue Formen der Partizipation. Dieser weltweite Homogenisierungstrend fand mit dem Ersten Weltkrieg sein Ende. Bolschewismus und Faschismus erwiesen sich in der Zwischenkriegszeit als wirkmächtige Alternativen zum parlamentarischen System und traten vielerorts an seine Stelle. Am Ende des Zweiten Weltkrieges stand schließlich eine Vielzahl staatlicher Ordnungssysteme, welche vom marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaat europäischen Musters über den sozialistischen Einparteienstaat bis hin zu vom Militär dominierten Staatsstrukturen in Lateinamerika, Asien oder im Nahen Osten reichte. Verbunden waren all diese Prozesse mit einer Vielzahl von Kriegen, Vertreibungen und Massentötungen, weswegen Eric Hobsbawm in seiner gleichnamigen Weltgeschichte die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Recht als ein „Zeitalter der Extreme“ charakterisiert.

Ein zweiter Pfeiler moderner Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert war der Imperialismus sämtlicher Großmächte und, im Gegenzug, der Kampf der unterjochten Völker gegen ihre Besatzer. Die Kolonien dienten den Mächten nicht nur als der bereits beschriebene Ausgleichsort für innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Spannungen, sondern waren auch ein Laboratorium für ganz unterschiedliche Herausforderungen der Moderne, zum Beispiel neue Formen der Integration oder, meist mit gegenteiliger Intention, die Erprobung neuer Militärtechniken. Auch kommunikativ stellte das koloniale Zeitalter die Staaten vor neue Herausforderungen, was unter anderem zur Entwicklung weltweiter Austausch- und Verkehrsbeziehungen führte, von denen dann auch die „transnationalen Netzwerke der Antiimperialisten“ profitierten.

Mit der Zunahme der Vernetzung in all ihren Facetten in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft befassen sich die folgenden drei Kapitel. Dirk Hoerder untersucht die globalen Wanderungsbewegungen, forciert durch neue Formen der beschleunigten Mobilität, zunächst in Form von Eisenbahn und Dampfschiff, später dann auch per Flugzeug. Während sich unter wohlhabenden Europäern im 19. Jahrhundert der Trend zur Vergnügungs- und Bildungsreise entwickelte, handelte es sich beim Gros der Migranten um Arbeitsuchende, die es überall auf der Welt aus den Peripherien in die Zentren industrieller Produktion zog. Damit verbunden war nicht nur ein Prozess globaler Verstädterung, sondern auch die sukzessive Auflösung und Neuformierung sozialer und gesellschaftlicher Schichten, welche ihrerseits wiederum staatliche Reaktionen hervorriefen, positiv formuliert in Form sozialstaatlicher Gesetzgebungen, negativ in der Unterdrückung unliebsamer sozialer und ethnischer Gruppierungen.

Mit „Warenketten in einer globalen Wirtschaft“ beschäftigen sich Steven C. Topik und Allen Wells. Das betrifft sowohl den klassischen Handel wie auch die Vernetzung der Industrie und Finanzwelt. Dabei wird deutlich: Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war es für wohlhabende Europäer nichts Außergewöhnliches mehr, bei Konsum und Produktion auf Importe aus aller Welt zuzugreifen, ob Tee aus Indien, Zucker aus Lateinamerika oder Kaffee aus dem heutigen Äthiopien. Aber auch Industriegüter wie Stahl, Kautschuk oder Aluminium wurden im großen Stil um die Welt transportiert, zunächst vorwiegend nach Europa, später dann auch in die Vereinigten Staaten. Damit einher gingen Kapitalströme, die global transferiert und an den neu entstandenen Börsen investiert wurden. Nicht nur globale Markennamen wie Coca Cola oder Nestlé entstanden in dieser Zeit, sondern auch Finanzprodukte zur Absicherung von Geschäften und zur Spekulation an den Börsen und Terminmärkten. Kurzum, was wir heute ebenso plakativ wie schwammig als Globalisierung bezeichnen, das verdeutlicht der Beitrag von Topik und Wells, hat seine Wurzeln im vorvergangenen Jahrhundert.

Im fünften und letzten Beitrag des Bandes erkundet Emily S. Rosenberg „transnationale Strömungen“. Dazu zählen politische und soziale Netzwerke ebenso wie neue Medienverflechtungen und länderübergreifende, an den Massenmärkten ausgerichtete Konsumtrends und Veranstaltungsformate, wie die seit 1851 regelmäßig durchgeführten Weltausstellungen. Die so entstandenen „kulturellen Kreisläufe“, schreibt Rosenberg, erwiesen sich als außergewöhnlich belastbar. Und sie verliefen parallel zu den divergierenden nationalen Ambitionen und Rivalitäten in den Kolonien. Das konnte man unter anderem daran erkennen, dass es selbst der Erste Weltkrieg nicht vermochte, die zwischen den Menschen und Systemen geknüpften Verbindungen zu kappen. Stattdessen verweist Rosenberg auf einen Prozess der „Homogenisierung und Differenzierung“, in dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts lokale, nationale und transnationale Elemente fortlaufend ineinandergriffen und sich gegenseitig bedingten.

»Transnational« heißt jetzt »global«

Die Weltgeschichte ist seit geraumer Zeit im Mainstream der Geschichtswissenschaften angekommen. Das zeigt nicht erst das ambitionierte Editionsprojekt von Iriye und Osterhammel; auch die letzten beiden Historikertage – im Jahr 2010: „Über Grenzen“, 2012: „Ressourcen-Konflikte“ – standen ganz im Zeichen der Globalgeschichte. Angesichts dieses Trends wird jedoch bisweilen übersehen, dass ein globaler Ansatz unter Historikern keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist. Vielmehr finden sich zahlreiche Kontinuitäten und Anknüpfungspunkte, die, und das ist kein Zufall, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Gerade im Zeitalter des Imperialismus wurden die Debatten häufig mit Blick auf den „Welthorizont“ (Ernst Troeltsch) geführt, wozu die internationale Ausrichtung der Wirtschaft und Finanzwelt ebenso zählte wie politische und militärische Regelungen zur Sicherung der Absatz- und Rohstoffmärkte. Der Historiker Hans Delbrück, wenngleich ein Außenseiter seines Faches, legte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine fünfbändige Weltgeschichte vor, die auf Vorlesungen fußte, die er ab 1896 an der Berliner Universität gehalten hatte.

Neu an den Arbeiten heutiger Welthistoriker ist hingegen, dass, anders als im 19. und frühen 20. Jahrhundert, nicht mehr der eigene Nationalstaat als Dreh- und Angelpunkt der Geschichtsschreibung fungiert, sondern eine transnationale, international vernetzte Perspektive auf die Entwicklungen angeboten wird. Eine kleine Einschränkung ist allenfalls, dass sich der Austausch der Wissenschaftler derzeit noch weitgehend auf Europa und die englischsprachige Welt zu beschränken scheint. Dies aber dürfte sich in den kommenden Jahren ändern.

Für diesen Mehrwert, den die „neue“ Weltgeschichtsschreibung bietet, ist man dann auch bereit, über so manche Schrulligkeit bei den Formulierungen hinwegzusehen, denen sich die Welthistoriker – vermutlich aus Gründen des Eigenmarketing – glauben bedienen zu müssen. Zum Beispiel der Umstand, dass altbekannte und längst ausgezeichnet erforschte Phänomene mit dem schlichten Zusatz „global“ versehen und als neue Forschungsergebnisse präsentiert werden. So hat sich die Erkenntnis, dass Nationalismen transnational erzeugt werden, in der Nationalismusforschung bereits vor Jahrzehnten durchgesetzt. Hier wird sie hochtrabend „Globalisierung des Nationalen“ genannt. Auch wie sich „imperiale Globalität“ und das „imperiale Globale“ von den seit langem von der Forschung thematisierten Mechanismen des Imperialismus abheben, ist nicht ersichtlich.

Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Geschichte der Welt, Band 5: Weltmärkte und Weltkriege 1870–1945, hrsg. von Emily S. Rosenberg, München: Verlag C.H. Beck 2012, 1152 Seiten, 48 Euro

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