Welches Angebot die SPD der Gesellschaft jetzt machen muss

Viele Wähler warten auf eine demokratisch-linke Alternative zu Schwarz-Gelb unter Führung der Sozialdemokraten. Aber wiederkommen werden sie erst, wenn es der SPD gelingt, eine überzeugende moderne Alternative zum schwarz-gelben (und teils auch grünen) Liberalkonservatismus zu formulieren

„Gut gesprochen, Genosse!“ Ausgerechnet die Zeit war nach dem Dresdner Parteitag begeistert von Sigmar Gabriels Kampfruf, die Mitte von links zu bestimmen und zu erobern. Zeit-Autor Peter Dausend schrieb lobend: „Wenn die SPD Deutungshoheit gewinnt, fallen Links und Mitte zusammen.“

In der Tat: Sigmar Gabriel hätte keinen besseren Ansatz finden können für den Neuanfang der SPD. Er hat die Sozialdemokratie als denjenigen politischen Ort beschrieben, wo Freiheit nicht allein als Freiheit „von“ etwas verstanden wird, sondern als Freiheit aller, nicht nur der durch Herkunft Begünstigten, „zu“ etwas: zu einem selbstbestimmten Leben. Er hat beschrieben, dass diese Freiheit immer wieder neu ermöglicht werden muss durch politisches Handeln, durch den seit Jahren geschmähten Staat. Dieser Ansatz geht weit über die SPD hinaus. In ihm steckt das Potenzial für eine mehrheitsfähige, demokratisch linke Alternative zu Schwarz-Gelb.

Mehrheitsfähig auch deshalb, weil Gabriel der gesellschaftlichen Mitte ein Angebot macht, das – anders als Schröders „Neue Mitte“ – die Unterschichten nicht ausgrenzt aus dem politischen Diskurs. Die Mittelschicht wird einerseits, wie bei Schröder, verstanden als hoch qualifizierte, aufstiegsorientierte, globalisierungs-offene Modernisierungs-Elite in der Arbeitnehmerschaft wie im wachsenden Sektor der Selbständigen. Endlich überwunden allerdings ist der Versuch, die individuellen Interessen dieser Schicht direkt in Politik zu übersetzen. In Gabriels Ansatz steckt die Erkenntnis, dass auch die Mittelschicht an einer vorsorgend sozialstaatlichen Politik zugunsten des unteren Drittels interessiert ist – sei es aus eigener Abstiegsangst oder politischer Erkenntnis oder beidem.

Damit hat der neue SPD-Vorsitzende eine ganz andere „Agenda 2010“ gesetzt als sein Ziehvater. Wenn aber daraus  eine „Road Map“ zum Erfolg werden soll, wird sich die SPD vor der inhaltlichen Debatte, die ihr bevorsteht, rüsten müssen. Deutlicher als bisher wird sie sich auf einige Voraussetzungen besinnen müssen, von denen zwei hier genauer beleuchtet werden sollen. Erstens: Die SPD wird ihre Konkurrenten differenzierter betrachten müssen als in der tagespolitischen Polemik. Zweitens: Die neue Parteiführung wird sich noch wesentlich ehrlicher machen müssen als bisher, was die Geschichte und die Gründe der historischen Niederlage von 2009 betrifft.

Die größte Gefahr geht von Merkels sozialer Rhetorik aus

Es ist gut, dass die Oppositionspartei SPD die Kanzlerin im alltäglichen Streit des Neoliberalismus bezichtigt. Auf Feldern wie Gesundheit oder Mindestlohn bietet Schwarz-Gelb dafür Anlass genug. Die größte Gefahr aber geht von Merkels strategischem Ansatz aus, mit sozialer Rhetorik (und realer Verhinderung der radikalsten FDP-Projekte) das politische Feld bis weit in die Mitte zu besetzen. Sollte jemand hoffen, dass die FDP die Union schon wieder Richtung „Leipzig“ treibt, dann wäre das eine gefährliche Unterschätzung der Strategin Angela Merkel.

Viele Wähler – und leider auch die Großkommentatoren von Zeit und anderen – werden sich nicht von selbst die Mühe machen, Merkels angeblich sozialdemokratische Anwandlungen mit den Konzepten einer sozialdemokratischen Politik zu vergleichen, die diesen Namen auch verdient. Zu sehr sind viele der meinungsmachenden Kollegen dem vermeintlichen Charme eines schwarz-grünen, einigermaßen aufgeklärten Liberalkonservatismus erlegen. Die SPD wird ihnen helfen müssen – nicht nur, indem sie inhaltlich überzeugende Alternativen entwickelt. Sie wird Merkel auch dort angreifen müssen, wo sie gerade nicht „neoliberal“ daherkommt, sondern mit sozialem Anstrich. Das ist schwierig, denn es verlangt nach Differenzierung der Kritik. Aber es ist strategisch wichtiger als der Neoliberalismus-Vorwurf, den keine(r) so geschickt zu unterlaufen versteht wie Merkel.

Das könnte zugleich helfen, die Grünen für eine linke Mehrheit zurückzugewinnen. Deren Klientel, zumindest beim grün angehauchten, sozialer Konflikte oft überdrüssigen Großstadt-Bürgertum, ist durchaus anfällig für Bündnisse mit einer gesellschaftspolisch (Familie, Lebensformen, zum Teil Integration) modernisierten CDU. Es sei denn, ihr stünde ein modernes linkes Angebot gegenüber, das die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt und auch für diese Klientel überzeugend buchstabiert.

Die Frage einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei tritt angesichts dieser Aufgaben in den Hintergrund. Es wird, sobald die SPD die Führungsrolle im genannten Sinne übernimmt, eine Frage an die Linkspartei sein, ob sie sich – inklusive inhaltlicher Kompromisse – dem Projekt „soziale Moderne“ anschließen oder im Sektierertum enden will. Der Satz, man solle nicht zurückschauen, ist so beliebt wie dumm. Nicht entscheidend besser allerdings sind die verstohlenen Wendemanöver des einen oder anderen Schröderianers. In Dresden hat Sigmar Gabriel offen von Fehlern gesprochen und sich zu seiner Beteiligung bekannt, immerhin. Eine wirkliche Auseinandersetzung über die strategische Ausrichtung der Schröder-Müntefering-Jahre blieb allerdings aus. Das mag aus der Binnenperspektive verständlich sein – schließlich musste Gabriel alle „mitnehmen“. Von außen aber stellt sich die Frage: Wo waren die neuen Propheten der linken Deutungshoheit, als der Schrödersche Zeitgeist-Opportunismus die „Neue Mitte“ erfand? Wer hat damals mit eben jenen Argumenten widersprochen, die jetzt jeder verwendet – und wer hat die Mahner wie Verräter behandelt?

Es geht nicht um Abrechnung und Nachkarten. Es geht um die Millionen Wählerinnen und Wähler, die der SPD den Rücken gekehrt haben. Sie dürften sich sehr wohl erinnern, dass es benennbare Verantwortliche einerseits und interne Kritiker andererseits gab – und wie die Auseinandersetzung geführt wurde. Wenn die SPD diese Erinnerungen nicht hörbar teilt, wird sie ihre Glaubwürdigkeit nicht zurückgewinnen.

Ein kleines Beispiel, wie es nicht gehen wird: Die SPD, so war Ende Oktober 2009 in der Welt zu lesen, habe die politische „Heimatlosigkeit der Arbeitnehmerschaft“ mit herbeigeführt, indem sie sich „ökonomisch liberalisiert, den Sozialstaat ökonomisiert und Verteilungsfragen neutralisiert“ habe. Wer schreibt so etwas? Andrea Ypsilanti? Oder zumindest Andrea Nahles? Keineswegs! Zusammen mit Karsten Rudolph aus Nordrhein-Westfalen war der kluge Autor kein anderer als Matthias Machnig. Der Text, eine Art Blaupause für Gabriels Parteitags-Rede, kam daher, als hätten Machnig und Rudolph diese Kritik am Schröderismus gerade neu erfunden. Der Artikel klang, als wäre zumindest Machnig nicht existent gewesen, als die Ypsilantis dieser Welt für die „soziale Moderne“, die sie Schröder entgegensetzten, verlacht und verhöhnt wurden. Gut gesprochen, Genossen!, kann man in der Sache nur sagen. Aber haltet das Gedächtnis der Menschen, die ihr zurückgewinnen wollt, nicht für kürzer, als es ist.

Viele Wählerinnen und Wähler, das darf man der Demoskopie entnehmen, warten auf eine demokratisch-linke Alternative zu Schwarz-Gelb unter Führung der SPD. Aber sie werden erst wiederkommen, wenn sie sehen, dass die Botschaft vom 27. September 2009 angenommen worden ist. Und zwar schonungsloser als bisher. «

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