Wie Merkel Deutschland schadet

Bis weit in die rot-grüne Wählerschaft hinein hat sich der Eindruck ausgebreitet, die gegenwärtige Bundeskanzlerin mache ihre Sache doch irgendwie ganz ordentlich. Das genaue Gegenteil ist richtig. Für Rot-Grün wird es höchste Zeit, diese Wahrheit laut und deutlich auszusprechen

Wer Angela Merkel als „Mutter Blamage“ bezeichnet, sieht sich häufig mit Zweifeln und Fragen konfrontiert, und die kommen keineswegs nur von eingefleischten CDU-Anhängern: Macht sie den Job nicht ziemlich souverän? Hat sie nicht ihre Partei modernisiert, zum Beispiel in der Familienpolitik? Spricht sie nicht gar vom „Mindestlohn“? Was, bitte, soll daran blamabel sein?

Angela Merkel benimmt sich nicht daneben, in diesem Sinne blamiert sie sich nicht. Ihr Auftreten ist zwar bescheiden, aber zugleich zielstrebig und souverän. Sie blamiert sich auch nicht vor denen, in deren Interesse sie vor allem handelt: der Finanzwirtschaft und der Industrie. Angela Merkel blamiert „nur“ das Land, das sie regiert. Denn hinter einer verschwurbelten Rhetorik der Richtungslosigkeit verbirgt sich eine gar nicht richtungslose Politik: ein ideologisch getriebenes Handeln, das Deutschland und Europa auf Dauer schadet. Selbst die Zugeständnisse an Sozialreformer und Modernisierer dienen einzig dem Zweck, die Freiheit „der Märkte“ und ihrer Akteure im Kern zu wahren. Die „sozialdemokratischen“ und „grünen“ Elemente Merkel’scher Politik erweisen sich als taktische Rückzüge mit dem Ziel, unter Vortäuschung falscher Tatsachen auch jenseits des konservativen Spektrums Mehrheiten zu gewinnen. An der generellen Richtung ändern sie nichts, und nicht selten – siehe Merkels „Mindestlohn“ – handelt es sich um Mogelpackungen. Angela Merkel ist die Kanzlerin des Neoliberalismus.

Es wäre geradezu die Pflicht der Opposition – vorneweg der SPD –, diese Blamage schonungslos offenzulegen. Wann, wenn nicht im Wahlkampf, wäre dafür der beste Zeitpunkt? Dazu gleich mehr, zunächst – als kleine Erinnerungsstütze – ein paar Fakten zu den blamablen Ergebnissen der Kanzlerschaft Merkel.

Soweit es Europa betrifft, ging die Rechnung lange auf. Deutschland hielt auch in der Krise an dem Eurokonzept fest, von dem es seit Jahren profitierte: Die einseitige Export-Orientierung wurde, wie leider auch schon unter Gerhard Schröder, durch ein möglichst niedriges Lohnniveau gestützt. Die Abnehmer unserer Produkte bezahlten ihre Importe mit eben jenen Krediten, die ihnen dann in der Krise um die Ohren flogen.

Statt daraus die Lehre zu ziehen – Minderung der Export-Überschüsse durch Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland –, zwang Merkel ganz Europa, sich ihrem falschen Begriff von „Wettbewerbsfähigkeit“ zu beugen und große Teile ihrer Bürger in die Armut zu sparen.

Nun scheint ausgerechnet das kleine Zypern für Aha-Erlebnisse gesorgt zu haben. Wolfgang Schäuble erklärte mit erheblicher Verspätung nicht nur ein Geschäftsmodell für untauglich, das Europa über Jahre gern geduldet hatte. Er winkte nicht nur den ursprünglichen Plan durch, auch Kleinsparer mit einer Zwangsabgabe zu belegen, was den eklatanten Mangel an Bewusstsein für soziale Ausgewogenheit ausreichend belegte. Nein, er blamierte sich und seine Chefin zusätzlich mit der Behauptung, an diesem Skandal seien einzig und allein die Zyprer schuld.

Die soziale Spaltung ist heute tiefer denn je

Deutschland, das ganz Europa auf eine einseitige und damit gefährliche Sparpolitik verpflichten kann, soll nicht in der Lage gewesen sein, die Garantie auf Spareinlagen bis zu 100.000 Euro gegen einen Kleinstaat zu verteidigen? Ein geradezu verwegener Beitrag zur Zerstörung des Restvertrauens in die Weisheit europäischer Krisenpolitik. Bis dahin war es Angela Merkel ganz gut – allzu gut – gelungen, ihren Austeritätskurs als Wahrung deutscher Interessen zu verkaufen. Die Legende, wonach Deutschland großzügig hilft und die anderen nur ihre „Hausaufgaben“ machen müssen, verfing in Politik und Medien auf erstaunliche Weise. Selbst die radikalsten Kritiker fielen auf diese Version herein, wenn sie Deutschlands „Zahlmeister“-Rolle beklagten. Dass der deutsche Staat bis heute auch profitiert; dass die Hilfskredite, die etwa Griechenland auf dem Rücken seiner Rentner abbezahlt, Milliarden an Zinsen in deutsche Kassen spülen – das war kaum Thema in der hiesigen Debatte. Man stürzte sich lieber ausschließlich auf das (tatsächlich vorhandene) Missmanagement des griechischen Staates und schimpfte auf „die Griechen“, die sich vor der Steuer drückten und am liebsten auch vor der Arbeit.

Dass nun ausgerechnet am untypischen Beispiel Zypern über das Problem deutscher Dominanz in Europa diskutiert wird, ist skurril. Aber immerhin macht es Hoffnung, dass dieser Wahlkampf die national und neoliberal orientierte Europapolitik noch offenlegen könnte. Etwas anderes allerdings droht angesichts der Euro-Debatte in den Hintergrund zu geraten: Die ideologisch getriebene EU-Politik hat ihre Entsprechung im nationalen Rahmen.

Noch steht Deutschland im Vergleich günstig da. Noch zeigen sich die ökonomisch-sozialen Verwüstungen, die unter deutscher Führung in Europa angerichtet wurden, vor allem im Süden. Noch kann die Kanzlerin kalkulieren, sie komme damit bis zum Wahltag durch. Aber der zweite Blick zeigt schon jetzt ein Land, das nach bald acht Jahren Merkel sozial gespaltener ist denn je. Eine Blamage für die reichste Volkswirtschaft Europas.

Es war die CDU-Vorsitzende Merkel, die zum Auftakt der schwarz-gelben Koalition erklärte: „Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Genau vor diesem Hintergrund beginnt die neue Bundesregierung ihre Arbeit mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz.“ Eine kurze Erinnerung an die Inhalte dieses Gesetzes macht erneut deutlich: Der ideologische Kompass der Kanzlerin war und ist intakt. Wachstum, so lautet die Richtungsangabe, entsteht durch immer neue Vorteile und Entlastungen für Unternehmen.

Als das Gesetz Anfang 2010 in Kraft trat, richtete sich die allgemeine Empörung vor allem auf einen Aspekt: die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent. Die Hotelsteuer war auch vorher schon ein Lieblingsprojekt der FDP gewesen, und das kam Angela Merkel sehr gelegen. Der Protest traf den Koalitionspartner, und die CDU-Vorsitzende konnte wieder einmal so tun, als sei sie es nicht gewesen. Dabei enthielt das Gesetz nicht nur dieses Privileg für eine Branche auf Kosten der Allgemeinheit. Beschlossen wurden auch Erleichterungen bei der Erbschaftsteuer: Geschwister und Geschwisterkinder zahlen je nach Höhe des Erbes statt 30 bis 50 nur noch 15 bis 43 Prozent. Die Erben von Unternehmen werden leichter als bisher von der Steuer ganz oder teilweise verschont, wenn sie den Betrieb eine Zeit lang weiterführen. Das ist im Prinzip nicht falsch, wurde jedoch nur allzu unternehmerfreundlich ausgestaltet. Die Entlastung der Erben war fast der größere Skandal als das Geschenk an die Hoteliers. Hinter der Zunahme von Erbschaften in diesem Jahrzehnt, so das Deutsche Institut für Altersvorsorge, verberge sich „eine große Bandbreite. Insbesondere erbt das einkommensstärkste Drittel aller Erben erheblich mehr als die Masse der Erben, die nur zwischen 2.000 und 4.000 Euro netto verdient.“

Im Klartext: Wer schon hat, der erbt auch noch. Diese privilegierten Erben über Steuern ausreichend an der künftigen Konsolidierung der Staatsfinanzen zu beteiligen, das wäre Aufgabe einer sozial ausgewogenen Politik gewesen. Schwarz-Gelb hat genau das Gegenteil getan.

Ganz nach Art der vermeintlichen „Kanzlerin für alle“ enthielt das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ auch ein Bonbon für „die Menschen“, wie Angela Merkel sagen würde. Der steuerliche Kinderfreibetrag wurde von 6.024 auf 7.008 Euro jährlich angehoben, das Kindergeld stieg um 20 Euro im Monat. So konnte die Kanzlerin behaupten, „die Familien noch einmal zu stärken“. In Wahrheit verstärkte auch diese Entscheidung, so erfreulich sie für gering verdienende Kindergeldbezieher war, zugleich die soziale Spaltung: Das Kindergeld stieg um 240 Euro im Jahr. Aber Besserverdiener, die vom Steuerfreibetrag profitieren, kamen auf eine Ersparnis von bis zu 443 Euro.

Wen wundert es, dass sich in den Merkel-Jahren alle Daten zur Gleichheit verschlechtert haben? Sowohl zwischen Arbeits- und Vermögenseinkommen als auch zwischen hohen und niedrigen Löhnen ist die Schere immer weiter auseinandergegangen.

Gründe genug, die Kanzlerin im Wahlkampf entschlossen anzugreifen – möglichst ohne Furcht vor ihrer demoskopischen Beliebtheit. Programmatisch sind die derzeitigen Oppositionsparteien dafür durchaus gerüstet: In weitgehender Übereinstimmung fordern SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei nun Mindestlöhne und eine gerechtere Lastenverteilung durch höhere Steuern für Vermögende und Spitzenverdiener.

Wie Gerechtigkeit zum Gewinnerthema wird

Der Finanzminister dagegen hat schon ausgeplaudert, wohin die weitere Reise unter Merkel gehen könnte: Zur Jahreswende, und damit kaum beachtet, wurden aus Schäubles Haus erste Überlegungen bekannt, wie Deutschland nach der Wahl auf die großenteils selbst verschuldeten Krisenfolgen reagieren könnte: Weitere Einschnitte bei der Rente gehören ebenso dazu wie ein erneuter Anlauf zur Abschaffung von Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer, etwa für Lebensmittel.

Genug Material also, um die Lieblingsthese Merkels und ihrer medialen Gefolgschaft zu widerlegen: Die Unterschiede zwischen Union und SPD seien doch gar nicht mehr so groß, bei Merkel seien also alle zu Hause, Sozialdemokraten inklusive.

Wer dieser Legende Alternativen zum Kurs der Kanzlerin wirksam entgegensetzen möchte, benötigt Glaubwürdigkeit in der Sache. Eine Glaubwürdigkeit, die gerade die SPD nur wiedergewinnen kann, wenn sie die eigene Verantwortung – also die Fehler der Schröder’schen Steuer- und Arbeitsmarktpolitik – klarer benennt als bisher. Nicht zum Zweck der Selbstgeißelung, sondern deshalb, weil die aus diesen Fehlern gezogenen Lehren dann umso überzeugender zu vermitteln wären.

Es ist lange her, dass die Gerechtigkeitsfrage – also das zentrale Thema der Sozialdemokraten – so eindeutig in der Luft lag wie heute. Die Chancen für den Wechsel stehen also eigentlich gut. Aber wer im Wahlkampf wirklich durchkommen will, wird es in schonungsloser Konfrontation mit Angela Merkel versuchen müssen. Das ist bei der Steuergerechtigkeit noch relativ einfach, denn hier hat sich die Kanzlerin zwar von allen Steuersenkungs-Fantasien verabschiedet, beharrt aber (bisher) auf der reinen und simplen Lehre der marktliberalen Schule: keine Steuererhöhungen, egal für wen. Deshalb kann und muss sie angegriffen werden für verteilungspolitische Skrupellosigkeit und soziale Kälte – ohne Rücksicht auf ihre Beliebtheit bei denjenigen, die diese Kälte noch nicht spüren.

Durchaus offensiv sollte Rot-Grün darauf verweisen, dass Schwarz-Gelb wieder Sozialabbau und neue Belastungen für alle in Angriff nehmen wird, sobald die Ausläufer der von Deutschland mitverschuldeten europäischen Rezession auch die deutsche Haushaltssanierung gefährden. Dazu gehört es für Rot-Grün auch, bestimmte Grausamkeiten selbst glaubwürdig auszuschließen – zum Beispiel eine weitere, verteilungspolitisch höchst fragwürdige Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Beim zweiten großen Gerechtigkeitsthema, der Arbeitsmarktpolitik, ist es noch etwas schwieriger. Hier wird Merkel nur zu stellen sein, wenn ihr vergiftetes Loblied auf die rot-grüne Verantwortung für die Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht mehr zieht. Die Botschaft muss lauten: Die heutige Opposition ist es, die das verstanden hat. Arbeitsmarktpolitik kann auf Dauer nicht bedeuten, ein weitgehend gleichbleibendes Arbeitsvolumen auf mehr Menschen zu verteilen, die dafür weniger verdienen – jedenfalls am unteren Ende der Skala.

Diejenigen aber, die dem „Agenda-Mann“ Steinbrück nicht trauen wollen, sind zu gewinnen, indem man ihnen so selbstbewusst wie selbstkritisch sagt: „Wir haben Fehler gemacht, aber wir haben daraus gelernt. Wir nehmen die Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Vermögende zurück. Und wir ziehen aus unseren Fehlern die Konsequenz eines echten Mindestlohns, der sich von Merkels Mogelpackung namens ‚Lohnuntergrenzen‘ radikal unterscheidet.“

So kann die Gerechtigkeit am Ende doch noch zum Gewinnerthema werden. Wann, wenn nicht jetzt?

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