Welche Gerechtigkeit?

EDITORIAL

Offenbar hat die SPD die Bundestagswahl vom vergangenen September nachträglich doch noch gewonnen. Das zeigt sich daran, dass damalige Konkurrenten und aktuelle Koalitionspartner inzwischen sozialdemokratische Themen übernehmen. Die CDU hat die „Neue Gerechtigkeit“ entdeckt, und Guido Westerwelle hält sich neuerdings für „neosozial“. Hauptsache „neu“ oder „neo“, also? Tatsächlich ist bei dieser Hinwendung zur Sphäre der Gerechtigkeit und des Sozialen viel kurzfristig-taktisches Kalkül im Spiel. Union und FDP haben ganz einfach (und zutreffend) zur Kenntnis genommen, dass in Deutschland mit der bloßen Intonierung der Melodie des Marktes nicht genug Millionen zu beeindrucken sind. Und folglich übt man sich in neosozialer Semantik.

Für Sozialdemokraten ist das einerseits erfreulich und beruhigend: Als traditionelle Partei der sozialen Gerechtigkeit besitzt die SPD in den bevorstehenden Debatten um die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit sozusagen das natürliche Heimrecht. Das Publikum ist ihr „zwölfter Mann“, während die Kontrahenten auf fremdem Platz antreten. Andererseits gibt es das Phänomen des überraschenden Auswärtssiegs. Die SPD muss messerscharf darauf achten, sich nicht von frechen Herausforderern übertölpeln zu lassen. Ein sich automatisch immer wieder verlängerndes Abonnement auf den Titel „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ gibt es nicht. Deshalb ist es so entscheidend für den zukünftigen Erfolg der SPD, dass sie die neue Herausforderung entschlossen annimmt.

Noch im vergangenen Bundestagswahlkampf haben führende Sozialdemokraten enormes Aufhebens um die „Verteidigung des europäischen Sozialmodells“ gemacht. Es ist allerhöchste Zeit für das Eingeständnis, dass es dieses eine europäische Sozialmodell überhaupt nicht gibt, sondern sehr verschiedene Varianten, die höchst unterschiedliche Ergebnisse im Hinblick auf Gerechtigkeit und Arbeit, ökonomische Dynamik und gleiche Lebenschancen hervorbringen. Unter diesen Varianten zählt die deutsche heute mitnichten zu den erfolgreichen und vorbildhaften. Wer wirklich will, dass das Soziale in Deutschland eine Zukunft hat, tut also sehr gut daran, jetzt den eigenen Blick zu weiten. Deshalb sind die aus vergleichender Perspektive gewonnenen Kriterien für ein „Erneuertes Europäisches Sozialmodell“, die Anthony Giddens in diesem Heft entwickelt, für die deutsche Sozialdemokratie so ungemein wichtig . Hier wie auch in verschiedenen anderen Beiträgen dieses Heftes zeichnen sich Konturen eines tauglichen neuen Sozialstaates für das 21. Jahrhundert ab.

Die von Oliver Wolff aufgenommenen Fotos in dieser Aufgabe zeigen Szenen aus dem Alltag von Berufspraktikanten. Alle Abgebildeten legen Wert auf die Feststellung, dass sie ihr Praktikum als ebenso wertvolle wie unverzichtbare Begegnung mit der beruflichen Wirklichkeit begreifen. Das ist erfreulich. Welche prinzipiellen Risiken und Nebenwirkungen gleichwohl mit Praktika als Massenphänomen verbunden sind, zeigt der Beitrag von Frank Schneider. Noch so eine offene Frage der Gerechtigkeit.

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