Wege aus der Demokratiekrise

Rechtspopulisten deuten Flucht und Einwanderung erfolgreich als Anschlag des »Fremden« auf das »Eigene«. Nur wenn es gelingt, wieder die Chancen von Veränderung in den Mittelpunkt zu rücken, werden Demokraten die Stimmung drehen können

W ie ist es um das Land bestellt? Wie gut geht es der deutschen Demokratie? Müssen wir uns Sorgen machen? Wie gut sind wir vor den Angriffen auf die Demokratie geschützt? Diese Fragen prägen momentan – explizit oder implizit – viele öffentliche wie private Diskussionen, und bisweilen vergrößert die Debatte bereits vorhandene Risse. Der Ton ist hart und scharf. Die Differenzen verlaufen längst nicht mehr zwischen den üblichen politischen Positionierungen, sie erreichen auch private Netzwerke und Familien. Die Topoi mit Sprengkraft sind überschaubar, was sie umso explosiver macht: Flüchtlinge, Islam und Muslime, Europa, Israel, Terror, Eliten, Presse, Nation oder Volk. Sie können mit Leichtigkeit Konflikte um Identitäten und Ressourcen, Angriffe auf die „Gutmenschen“ oder einen Kampf um die Opfer von Lug und Trug entfachen. Sie locken sogar Nichtwähler an die Urne und es scheint Rechtspopulisten zu gelingen, Wahlen als Widerstandsakte zu inszenieren.

Die Migration von Flüchtlingen und die islamistischen Terroranschläge dienen perfekt der Inszenierung des Untergangs, gegen den man noch einmal auf die Straße muss. Hatte man so nicht auch den Unrechtsstaat erfolgreich beseitigt? Die Lektüre von Büchern wie Deutschland schafft sich ab ist wieder en vogue, und sie hat nicht die Abschaffung überholter Zustände zum Ziel, sondern die Restauration und Rückeroberung einer verklärten Vergangenheit. Und die Warnungen und Drohungen, wie auch die Vorurteile, die nur deshalb welche sind, weil sie vermeintlich zensiert werden, bewahrheiten sich selbstverständlich post factum. Die Kraft des Vorurteils, Abweichungen als Pars-pro-toto-Beweise zu deklarieren, kann sich entfalten. Die sexistischen Gewaltakte von Köln wirken. Der islamistische Terror von Paris und Brüssel erfüllt das Menetekel. Wer die Wahrheit schon vorher kennt, wird den Wahrheitskampf immer gewinnen. Der Preis ist die Abwertung und Ausgrenzung von Gegenmeinung und die Kündigung des Prinzips der gewaltfreien Konfliktregulation. Das Gegenteil wird propagiert: Kampf.

Seit mehr als zwei Jahren heizt sich das Land durch eine Welle der Empörung und Polarisierung antidemokratischer Reflexe auf. Ist das zu schwarz gezeichnet? Die tausendfachen hass- und vorurteilsbasierten ideologischen Straftaten sowie mehr als 1 000 Angriffe auf Asylunterkünfte im vergangenen Jahr sprechen dagegen. Sie werden täglich durch neue ergänzt. Schritt für Schritt haben sich, nachdem die Existenz des NSU bekannt wurde, wieder gewaltorientierte Milieus gebildet, die davon profitieren, dass ihnen populistische Bewegungen gegen die vermeintliche Islamisierung und Zuwanderung Schatten bieten. Gewalt wird dort als politisches Instrument gebilligt, wobei die Mehrheitsgesellschaft diese Billigung von Aggression und Gewalt nicht ausreichend wahrnimmt. Das Bild vom Sorgenbürger, den die Angst vor dem Abstieg umtreibt, hat den Blick auf die Radikalisierung in der Mitte verstellt. Auch jene Erfolge der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen, die durch nationalistische Volksvorstellungen und eine singuläre Fokussierung auf die Themen Zuwanderung und Elitenkritik erzielt wurden, können nicht als singuläre Protestwahlen abgetan werden. Der Reflex in der Politik, sich selbst noch härter zu gebärden als die Populisten, wird nicht funktionieren.

»Den anderen geht es besser als uns«

Und nicht zuletzt zeigen zahlreiche Studien, wie stark menschenfeindliche Abwertungen in der Bevölkerung verhaftet sind und wie sehr sie von dem Motiv getragen werden, eigene Vorrechte zurückzuerobern. In unseren Bielefelder Studien über Zugehörigkeiten und Gleichwertigkeit hielten es Ende 2014 nur 36 Prozent der Befragten für gut, wenn sich Immigranten für Deutschland als Heimat entscheiden. Ihnen Heimat vorzuenthalten hat auch den Vorteil, Fremden immer wieder unterstellen zu können, dass sie nicht hinreichend die Kriterien der Zugehörigkeit erfüllen, zumal ihre Heimat ganz woanders sei.

Zugleich haben sich in die Debatten über den Zustand der Gesellschaft Misstrauen und Aggressivität eingeschlichen. In unseren Studien zur „fragilen Mitte“ und zu „feindseligen Zuständen“ konnten wir anhand der Daten einer repräsentativen Stichprobe ermitteln, wie sehr rechtspopulistische Meinungen in die Mitte der deutschen Gesellschaft eingedrungen sind. Zu dem Syndrom rechtspopulistischer Überzeugungen gehören Ungleichwertigkeitsvorstellungen über Eingewanderte, Asylsuchende, Muslime, Juden, Frauen wie auch Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung. Diese Vorstellungen gehen einher mit einer Verurteilung der EU und einem nationalistischen Leitbild, einem Demokratiemisstrauen und einer Elitenschelte sowie harten autoritären Strafvorstellungen, die Sicherheit suggerieren. Auch Emotionen wie Wut und Ärger prägen diese Überzeugung. Jede fünfte befragte Person wies eindeutig rechtspopulistische Überzeugungen auf. Viele Menschen meinten, sie müssten ihre Meinungen über Ausländer und Juden unterdrücken. Man dürfe seine Meinung nicht mehr frei äußern, ohne gleich Ärger zu bekommen. Die Inszenierung als Verfolgte und Unterdrückte veredelt die Empörung, und sie erleichtert den Impuls, endlich mal zu sagen und zu zeigen, wer Herr im Haus ist. In der Öffentlichkeit wie in der Politik wird auf den Putz gehauen, und dabei werden zugleich die Ursachen des Unmutes verschüttet.

Teile der Gesellschaft, auch und gerade in der Mitte, haben sich radikalisiert, so dass die Polarisierung zwischen den Gruppen zugenommen hat. Sozialer Protest, wie er in besonders aggressiver Form am rechten Rand auftritt, entstammt nicht allein den persönlichen Sorgen und Abstiegsängsten. Er kann sich nur entfalten, wenn aus individueller Ohnmacht das Gefühl der kollektiven Deprivation – den anderen geht es besser als uns – erzeugt wird. Gerade die Zugewanderten, von denen man sich wünscht, sie mögen sich hinten anstellen, erzeugen Deprivation in dem Maße, wie sie nicht als Teil der Gesellschaft angesehen werden. Die Angst, am sozialen Aufstieg nicht teilhaben zu können, und das Wissen, dass nur Aufstieg und Wettbewerbsregeln Sicherheit verschaffen, erleichtern die Radikalisierung der Mitte. Ein Drittel der Befragten in unseren Studien glaubt, dass unternehmerische und ökonomische Wertvorstellungen von Markt und Wettbewerb über Teilhabe in der Gesellschaft bestimmen: „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten.“ Oder: „Der Schlüssel zum Erfolg ist, besser als die anderen zu sein.“ Wenn diese Überzeugungen mit Vorstellungen einhergehen, nicht hinreichend in gesellschaftliche Systeme eingebunden zu sein, dann erhöht sich die Anfälligkeit für radikale Ideen.

Die Republik lebt vom Primat der Gleichwertigkeit

Das Misstrauen der Demokratie gegenüber fördert Legitimationskrisen, die radikale Gruppen brauchen, um Menschen abzuholen und ihren Protest in die Konfrontation zu überführen. Wenn dann die Spitzenpolitik selbst in den Konflikt einsteigt, wer am meisten und besten liefert, und Sicherheit und Kontrolle zum primären Ziel von Demokratie erklärt, gelingt es den Radikalen noch besser, Misstrauen zu schüren. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Globale Konflikte und internationaler Terror scheren sich nicht um nationale Grenzen. Deshalb ist der Glaube an Kontrolle ein stetiger Anlass für Misstrauen.

Die aktuellen Beschädigungen der Demokratie durch menschenverachtende Gewalt und Hetze sowie das Misstrauen werden länger nachwirken. Die Nachkriegsdemokratie der Bundesrepublik lebt vom Primat der Gleichwertigkeit. Doch Demokratie kann schwach werden oder sogar abhanden kommen. Dies ist besonders dort der Fall, wo Menschen nur nach ihrer Nützlichkeit bewertet werden. Das erleichtert es den Populisten festzulegen, wer nützlich ist und wer nicht. Zugleich macht es jene anfällig für die Abwertung anderer, die an die Nützlichkeitskriterien glauben, aber merken, wie wenig sie selbst dem Ideal entsprechen. Die Abwertung der Anderen ist somit auch ein Weg zu mehr Einfluss, Zughörigkeit, Anerkennung und Kontrolle. Demokratie braucht aber das Gegenteil: Sie braucht eine Gesellschaft, die fähig ist, überbordenden Identitätsvorstellungen von Vormacht und tradierten Herkunftsrechten etwas entgegenzusetzen.

Was die Qualität der Willkommenskultur ausmacht

Gewiss könnte man noch einmal den Entwurf reanimieren, mehr Demokratie zu wagen, aber wagen kann man nur etwas, wenn man weiß, was man da eigentlich probiert. Demokratien sind nicht abhängig von Kategorien und Klassifikationen von Menschen und Gruppen. Sie sind – wie ihr Recht – blind bei der Frage nach der Wertigkeit und Nützlichkeit von Menschen. Das macht ihre Qualität aus und ist der Garant für den Erfolg und sozialen Frieden. Genau dies macht auch die Qualität der viel gescholtenen Willkommenskultur aus. Die überraschend starke Zuwanderung von geflüchteten Menschen und ihre Versorgung ist bisher nicht gelungen, nur weil „Gutmenschen“ naiv geglaubt hätten, dass heilige Übermenschen zuwandern, die sich schon an ein Ideal des Deutschen anpassen werden. Sie hat geklappt, weil Menschen in der Not geteilt haben, bei Konflikten in Unterkünften und Kommunen an die Kraft der Regulation von Konflikten geglaubt haben und weil sie darauf vertraut haben, dass die Grundregeln und -werte der Demokratie stärker sind als der Kampf um Vorteile. In dem Moment, wo die einen in der Krise (politische) Vorteile suchten, indem sie Zuwanderung und Integration als unregulierbar stilisierten, haben andere die Stärke der Demokratie kennengelernt.

Das verlangt aber auch, dass die Demokratie die zentrale Frage der Integration nicht danach zu lösen versucht, wer zuerst da war, wer welchen Glauben, welches Geschlecht oder Aussehen hat. Demokratie lebt davon, den Angriffen auf sie Gegenbilder und eigene Kräfte entgegenzusetzen. Die Willkommenskultur war so ein Gegenbild, das aber nicht ausreichen wird, weil es bei der Begrüßung stehen bleibt. Was also ist die Alternative zum Zusammenhalt der Nation, die als Volk gedacht wird? Der Verfassungspatriotismus war so ein mögliches alternatives Bild, aber es scheint nicht zu haften, weil es offenbar nicht hinreichend erlebbar ist. Die Idee der gegenseitigen Absicherung von Wohlfahrt und Freiheit könnte greifen, wenn die empirische Realität einer Spaltung in Arme und Reiche sie nicht torpedieren würde.

Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder neu auf demokratische Werte zu verständigen und sie zu vermitteln. Dabei wäre es hilfreich, wenn jene, die Demokratie als Garant von Freiheit und Entfaltung sehen, sich gegenseitig mitnehmen, auch wenn sie sich nicht mögen oder fremd sind. Dazu muss der Zustand der Demokratie in Deutschland immer wieder vermessen werden. Wie sehr sie ins Wanken geraten kann, zeigen die Unruhen, die entstehen, wenn eine Kanzlerin sich mit einer geflüchteten Person zeigt.

Um die Frage nach den Gefahren für die Demokratie zu beantworten, benötigt man Instrumente der Gefahreneinschätzung, die auch jenseits der Extremismen greifen. Denn Extremismus ist nur stark, weil er von zuvor entstandenen Rissen und Lücken in der demokratischen Gemeinschaft lebt – ebenso wie von offener oder klammheimlicher Zustimmung. Deutschland muss deshalb langsam vom Bild der Flüchtlingskrise absehen. Gelingt das nicht, wird es in eine Demokratiekrise schlittern, denn die Vorurteile, die zur Begrenzung der Zuwanderung herangezogen werden, schädigen die Grundfeste unserer Demokratie. Wer Migrationsprozesse nur als Drama wahrnimmt, wer keine Geduld und Mäßigung im Zustand der Belastung aufbringt und wer sozialen Wandel bloß als Krise und nicht auch als Chance versteht, provoziert die Demokratie. Doch gerade sie braucht Vertrauen und Zeit.

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