Was macht eigentlich ungesünder: Nichtstun oder Flexibilisierung?

Ulrich Pröll und Dietmar Gude haben die "gesundheitlichen Auswirkungen flexibler Arbeitsformen" untersucht - die Wirkungen völliger Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit waren nicht ihr Thema

Seit bereits zwei Jahren ist ein Buch aus der Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin auf dem Büchermarkt, das zwar von Sozialwissenschaftlern mit Interesse aufgenommen worden ist, aber auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden sollte. Der Band ist einer der wenigen Beiträge, der sich mit den menschlichen Kosten der allerorten anzutreffenden Flexibilisierung von Lebensprozessen beschäftigt. Er vermittelt ein realistisches Bild von deren positiven wie negativen Konsequenzen und zeigt zugleich die gegenwärtigen Grenzen empirisch begründeter Aussagen auf. Zudem stellt die Arbeit ein überzeugendes Beispiel dafür dar, wie nützlich es ist, vor dem Start neuer Forschungsprojekte zunächst die einschlägige internationale Forschungsliteratur zu einem Thema gründlich aufzuarbeiten. Das Buch fasst gut systematisiert und kritisch aufgearbeitet den Stand der psychologischen und soziologischen Befunde zu den Auswirkungen von Flexibilisierung auf die Gesundheit zusammen.

Den Umständen trotzen und widerstehen

Einen zentralen Stellenwert hat dabei das Buch Der flexible Mensch (1998) des Soziologen Richard Sennett, das in der amerikanischen Originalausgabe viel treffender The Corrosion of Character heißt. Sennett macht deutlich, dass das Wort flexibility im englischen Wortschatz des 15. Jahrhunderts die Potentialität von Bäumen beschrieb, sich unter dem Druck des Sturms zwar zu beugen, danach aber die aufrechte Haltung wieder einzunehmen. Im heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Gebrauch ist davon eigentlich nur noch das hohe Maß von Biegsamkeit und geschmeidiger Anpassung an wechselnde Umstände geblieben. Das den „Umständen Trotzende und Widerstehende“ wird geflissentlich ausgespart.

Gerade diese Komponenten des Risikos, aber auch der Chancen, die eine hohe Befähigung zur Anpassung und erforderlichen Reflexivität in einer entgrenzten Außenwelt bieten, arbeiten Ulrich Pröll und Dietmar Gude, ein Soziologe und ein Psychologe, hervorragend heraus. Das Buch zeichnet sich wohltuend durch seine sachliche Bestandsaufnahme empirischer Fakten aus und bleibt zurückhaltend bei ideologischen Bewertungen, wie wir sie leidenschaftlich formuliert etwa bei Pierre Bourdieu finden, der von einem „prekarisierten Habitus“ der „Flexploitation“ sprach, welcher zu einem Dauerzustand der Unsicherheit mit dem Ziel der Unterwerfung der Arbeitnehmer führe. In verwandter Weise warnt Robert Castel vor der drohenden „Balkanisierung der Arbeitsverhältnisse“ durch die ungehemmte Auflösung der starren fordistischen Arbeitswelt, welche ein Jahrhundert Geborgenheit und Vertrautheit gegeben habe.

Das vorliegende Buch stellt systematisiert die Auswirkungen von Flexibilisierungsmaßnahmen dar. Die strenge Logik der betriebswirtschaftlichen Transaktionskosten und der rationalen Entscheidungsmodelle gebietet es dem profitmaximierenden Unternehmer, ständig mehr Flexibilität und geringere Arbeitskosten anzustreben. Outsourcing, Subunternehmen, Leiharbeit oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse seien Mittel der Selbstbehauptung auf den globalisierten Arbeitsmärkten.

Drei Aspekte der Flexibilität

Die Autoren unterscheiden drei Aspekte der Anforderungen an die Flexibilität eines Unternehmens. Erstens müssen die Unternehmen ihre Produkt- und Dienstleistungsangebote ständig verbessern (funktionale Flexibilität). Zweitens müssen sie schnell auf schwankende quantitative Marktanforderungen reagieren (numerische Flexibilität). Und drittens müssen sie regelmäßig die politischen und sozialökonomischen Standortbedingungen prüfen, um zwecks Gewinnmaximierung gegebenenfalls Verlagerungen an günstigere Standorte vorzunehmen.

Was leider nicht behandelt wird

Um diese Dynamik durch flexiblen Arbeitskräfteeinsatz beherrschen zu können, ist eine Segmentierung der Belegschaft in der personalwirtschaftlichen Betreuung sinnvoll: eine funktionale flexible Kernbelegschaft mit hohem Qualifikationsniveau und großer Hingabe, Auftragnehmer (Spezialisten wie Freelancer, Kontraktpartner mit hoher Autonomie) und Teilzeitkräfte sowie temporäre „freie“ Mitarbeiter (kontingente Arbeitskräfte, Leiharbeiter). Leider werden die psychosozialen Folgen der gänzlichen Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit bei den Arbeitslosen nicht behandelt; die Autoren betonen, dass dies außerhalb des Projektauftrages gelegen habe.

Entlang dieser Systematik werden die gesundheitlichen Folgen flexibler Arbeit für teilautonome Gruppen- und Projektarbeit, für Beschäftigte in der neuen Selbstständigkeit in den Wissensdienstleistungen, für kontingente Arbeitsformen, für flexible Arbeitszeiten und für Beschäftigte mit hoher Unsicherheitserfahrung auf turbulenten Arbeitsmärkten dargestellt. Die Autoren bleiben aber nicht bei der Beschreibung der Symptomatik stehen, sondern stellen den Handlungsbedarf in diesen Bereichen für die gesundheitliche Prävention dar.

Am Beispiel so genannter atypischer Arbeitsverhältnisse machen die Autoren deutlich, dass die alleinige Betrachtung des Vertragsstatus nur geringe Erklärungskraft für gesundheitliche Risiken hat. Dringend ist Forschung erforderlich, die den Einfluss von Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalten, Lebenslagen und der resultierenden Work-Life-Balance auf die Gesundheit untersuchen.

Für die negativen gesundheitlichen Auswirkungen prekärer atypischer Beschäftigungsformen machen die Autoren vor allem latente Unterbeschäftigung, berufliche Statusgefährdung, unsichere Einkommen, hohe subjektive Unsicherheitserfahrungen, die Arbeitsvolumina und die Arbeitsbelastung, unregelmäßige und unvorhersehbare Arbeitszeiten sowie den Verlust der Balance zwischen beruflichen und außerberuflichen Anforderungen verantwortlich. Skandinavische Forschungsarbeiten zeigen, dass Risiken für die seelische Gesundheit vermindert werden können, wenn Betroffene in sozial integrierte Arbeitsgruppen mit hoher Arbeitsplatzsicherheit eingebunden werden.

Die letzten Worte des Präsidenten

In seiner letzten Berliner Rede im Mai 2004 sagte der scheidende Bundespräsident Johannes Rau: „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man Menschen zu besserer oder mehr Leistung motivieren kann, wenn sie ständig Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder im Alter in Not zu geraten. Jeder Mensch braucht eine gewisse Grundsicherheit, damit er den Kopf frei hat, auch für Anstrengung und Erfolg im Beruf.“ Soziale Sicherheit ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die allerorten geforderte Innovationsfähigkeit. Es ist daher zu hoffen, dass das 2005 zunächst gescheiterte Präventionsgesetz in der neuen Legislaturperiode wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Mit der konsequenten Umsetzung des Präventionsauftrages ließe sich verhindern, dass nötige unternehmerische Flexibilität in Prekarität der Arbeitsverhältnisse umschlägt.

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