Was kommt nach den Volksparteien?

Parteien, politische Partizipation und Demokratie im Zeitalter von Globalisierung und Individualisierung

Die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland sind Teil einer Erfolgsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben CDU und SPD eine demokratische Entwicklung eingeleitet und die zweite deutsche Demokratie maßgeblich geprägt. Mittlerweile sind die Institutionen der Demokratie akzeptiert. Auch Fehlentwicklungen und Missstände in der Parteiendemokratie trüben dieses Urteil nicht. Schwarze Kassen, Selbstbedienung bei der Parteienfinanzierung, Postenschacherei, Machtmissbrauch und politische Korruption ließen sich nicht dauerhaft vertuschen. Eine selbstbewusste Gesellschaft hat es verstanden, Auswüchse des Parteienstaates einzudämmen.

Wer hätte das gedacht? Wer hätte nach der Nazi-Diktatur voraussagen wollen, dass sich Deutschland innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer stabilen und selbstbewussten Demokratie entwickelt und dass zwei Parteien ein halbes Jahrhundert lang die Politik in der Bundesrepublik Deutschland dominieren? Wer hätte vor drei Jahrzehnten geahnt, dass eine ökologische Antipartei einmal zur Projektionsfläche der politischen Hoffnungen des Bürgertums werden würde? Wer hätte 1990 gedacht, dass eine SED-Nachfolgepartei ihren festen Platz im gesamtdeutschen Parteiensystem finden würde? Es zeigt sich immer wieder: Politische Entwicklungen sind schwer zu prognostizieren, die gesellschaftlichen Trends wandelbar.

Trotzdem: Das Kapitel Volksparteien in der deutschen Geschichte ist abgeschlossen. Es führt kein Weg zurück zu den abgeschotteten Milieus, zu den alten ideologischen Schlachten, zu den festen Wählerbindungen, zu den hierarchisch organisierten Großgruppen und zum schuldenfinanzierten Wohlfahrtsstaat. Die neuen gesellschaftlichen Konfliktlinien, die sich um die alte soziale Frage, um die globalisierte Ökonomie und die individualisierte Gesellschaft, um die digitalisierte Welt und die Zuwanderung ranken, werden nicht verschwinden. Die moderne Gesellschaft ist vielfach gespalten: zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, zwischen Inländern und Migranten, zwischen Jung und Alt, zwischen Oben und Unten, zwischen Ost und West. Es gibt keine Religionen mehr und auch keine Ideologien, mithilfe derer sich diese Spaltungen überbrücken ließen, keine fest gefügten politischen Lager, die sich gegenseitig stabilisieren.

Den neuen gesellschaftlichen Konflikten sind die ehemaligen Volksparteien nicht mehr gewachsen. Zudem vollziehen sich gesellschaftliche, technische und ökonomische Veränderungen so schnell, dass die Parteien mit ihrer trägen Basis und ihrem schwerfälligen Apparat nicht mehr nachkommen. Zusätzlich werden sie zwischen den gesellschaftlichen Kräften der Bewegung und Beharrung zerrieben. Die Gruppeninteressen sind so heterogen, dass sie von den etablierten Parteien nicht mehr gebündelt werden können, viele politische Probleme sind zu komplex und die finanziellen Spielräume des Staates zu eng. Die politischen Eliten haben sich von ihren Wählern entfernt, deren Unmut sich deshalb gegen die Parteien insgesamt richtet. Gleichzeitig fordern selbstbewusste zivilgesellschaftliche Akteure die Politik heraus.

Auch die Trends in Europa geben Union und SPD keinen Anlass zur Hoffnung. Die wesentlichen Entwicklungslinien in den europäischen Parteiensystemen sind eindeutig, sie lauten Rechtspopulismus und Personalisierung, Politisierung der Themen Einwanderung und Europa, Fragmentierung und Regionalisierung, Medialisierung der Politik und Krise der Mitgliederparteien. Deutschland und die deutschen Parteien sind Teil dieser Trends.

Gibt es überhaupt noch Volksparteien in Europa? Früher war es in vielen Staaten üblich, dass große Parteien zwischen 40 und 50 Prozent der Wähler mobilisierten und über eine stabile Mitgliedschaft verfügten. So unterschiedlich Länder wie Italien oder Schweden, Großbritannien oder Österreich, Niederlande oder Deutschland sind, so gab es dort einflussreiche, fest verankerte, große Volksparteien. Zugleich konnten in den bipolaren Parteiensystemen zwei dominierende Parteien die überwiegende Mehrzahl der Wähler mobilisieren.

Viel ist davon nicht geblieben. In Italien steht eine autoritäre Medienpartei mit dem Milliardär Silvio Berlusconi an der Spitze, der eine zersplitterte und zerstrittene Linke gegenübersteht. Die beiden großen Parteien der ersten italienischen Republik, die Partito Socialista Italiano (PSI) und Democrazia Cristiana (DC), haben sich aufgelöst. Die einst stolzen Sozialdemokraten in Österreich erreichten bei der letzten Wahl noch 29,3 Prozent der Stimmen und führen eine Koalition mit der zweiten großen und traditionsreichen Partei des Landes, der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Doch angesichts von zusammen 55,3 Prozent kann von einer Großen Koalition keine Rede mehr sein. In den Niederlanden hatten die Christdemokraten (Christen Democratisch Appèl, CDA) bei der Parlamentswahl im Juni 2010 die Hälfte ihrer Wähler eingebüßt, waren auf 13,6 Prozent abgestürzt und mussten die Liberalen, die Sozialdemokraten und auch die Rechtspopulisten an sich vorbeiziehen lassen – wobei die niederländischen Sozialdemokraten sich mit 19,6 Prozent zufrieden geben mussten.

Strukturell sitzen Union und SPD im selben Boot

Die fundamentalen Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem sind überall zu spüren. Eine schwarz-grüne Landesregierung in Hamburg oder gar eine schwarz-gelb-grüne Koalition im Saarland wären vor wenigen Jahren genauso schwer vorstellbar gewesen wie eine rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, die von der Linkspartei toleriert wird. Vor allem der erste grüne Ministerpräsident in Baden-Württemberg stellt eine historische Zäsur dar. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hingegen macht einen verunsicherten und angeschlagenen Eindruck.

Die Wähler wenden sich von den großen Parteien ab. Der Trend ist eindeutig, die strategische Mehrheitsfähigkeit der nur noch mittelgroßen Parteien geht verloren und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies wieder umkehren könnte. Strukturell sitzen Union und SPD im selben Boot. Sterben die vielen Rentner und Pensionäre, die ihnen die Treue halten, dann wird die Lage für die ehemaligen Volksparteien noch viel dramatischer. Doch was kommt nach den Volksparteien? Parteien wird es weiterhin geben. Sie sind weltweit ein elementarer Bestandteil jeder demokratisch verfassten Gesellschaft. Es gibt in Deutschland mittelgroße und mittelkleine Parteien, und möglicherweise wird schon bald eine der kleinen Parteien zu den mittelgroßen aufschließen oder aus einer der mittelgroßen wird eine kleine Partei. Die Parteien müssen sich zudem an ein ständiges Auf und Ab und große Sprünge in der Wählergunst gewöhnen.

Die Transformation des Parteiensystems schreitet voran. Die Politiker, die politischen Eliten und die Wähler werden sich an fünf, sechs oder möglicherweise sogar an sieben Parteien im Bundestag, an schwierige Regierungsbildungen, häufige Koalitionskrisen und an Minderheitsregierungen, an mehr Populismus, mehr Unübersichtlichkeit und mehr Instabilität im politischen System gewöhnen müssen. Vielparteiensystem, ständige Regierungskrisen, Populismus und Instabilität – das klingt wie Weimar, wie die Rückkehr überwunden geglaubter Zeiten, in denen die Feinde der Demokratie im Parlament die Mehrheit hatten und Hitler schließlich die Macht ergriff. Doch Berlin ist nicht Weimar. Dazu ist der demokratische Konsens der Eliten zu stark und der Schrecken über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen zu groß. Zudem gibt es neben den Parteien starke und einflussreiche demokratische Institutionen, die die Gesellschaft stabilisieren, wenn das Parteiensystem instabiler und das Regieren schwieriger wird, allen voran das Bundesverfassungsgericht. Auch die europäische Integration steht dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Der häufig bemühte historische Vergleich verstellt den Blick auf die eigentlichen Gefahren in der Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems. Denn solange immer die große Gefahr beschworen wird, fehlt das Gespür für die vielen kleinen Gefahren. Die eigentlich entscheidende Frage lautet nicht, ob die Demokratie insgesamt in Gefahr ist. Sie lautet vielmehr: Wie viel demokratische Teilhabe wird es zukünftig in Deutschland geben? Gibt es nach der Parteiendämmerung mehr demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten oder weniger? Demokratische Teilhabe – die Beteiligung an politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen – bedeutet mehr als die Teilnahme an Wahlen. Sie wird zudem nicht nur durch die Gewährung von Grundrechten garantiert. Vielmehr schließt demokratische Teilhabe ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Kommunikation, sozialem Ausgleich sowie die politische Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte ein.

Die etablierten Parteien sind längst dabei, sich an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, an die neuen Regeln der Mediendemokratie und das veränderte Wahlverhalten anzupassen. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Mitglieder, sondern die Öffentlichkeitsarbeit und eine weitgehend autarke Parteiführung. Parteien setzen nicht mehr auf kollektive Werte, ideologische Grundüberzeugungen und eine Leitidee, sondern auf Markenimage, Personalisierung und Populismus. Aus den Mitgliederparteien werden professionelle Medienparteien. Im Mittelpunkt ihrer Mobilisierung und ihrer Politik steht nicht mehr der Ausgleich von Interessen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, sondern die Addition von Partikularinteressen.

Die Spannungen zwischen Basis und Führung werden nicht nachlassen

Ganz ohne Mitglieder kommen die Parteien trotzdem nicht aus. Sie brauchen sie im Wahlkampf, für die kommunalpolitische Verankerung und für die Rekrutierung des Nachwuchses. Auch auf Mitgliedsbeiträge können sie bei der Finanzierung des Parteiapparates schwerlich verzichten. Es wird allerdings immer mehr Kraft kosten, den Spagat zwischen Mitgliederinteressen und den Anforderungen der Mediendemokratie zu halten. Denn die Parteimitglieder stehen für Partikularinteressen, während die Parteiführung auch die Stimmung in der Bevölkerung und den Konsens der politischen Eliten im Auge behalten muss. Die Sphären entwickeln sich immer weiter auseinander, die Spannungen zwischen Basis und Führung, zwischen den Parteigremien und den Öffentlichkeitsarbeitern, werden nicht nachlassen.

Gleichzeitig müssen die Parteien auch große politische Flexibilität zeigen, denn das Regieren in ungewöhnlichen Bündnissen, Drei-Parteien-Koalitionen und Minderheitsregierungen fordert ständige Kompromissbereitschaft und eine lagerübergreifende Konsenssuche. Die Grünen schließen deshalb auch Koalitionen mit der CDU nicht mehr aus, selbst wenn sie das Referenzprojekt in Hamburg im November 2010 aufkündigten. Die SPD muss sich die Option Große Koalition offen halten.

Die alten, übersichtlichen Zeiten kommen nicht zurück. Die Parteien wissen das, und so verwundert es nicht, dass sie längst nach Auswegen suchen, nach einer neuen Balance zwischen Tradition und Veränderungsdruck, zwischen einfacher Wähleransprache und komplexen politischen Problemen, zwischen Markenkern und Bündnisfähigkeit. Sie suchen nach einem Erfolgsrezept gegen den steten Abwärtstrend, nach Wegen, in der individualisierten Mediengesellschaft fragmentierte Interessen zu bündeln und die vielen neuen gesellschaftlichen Akteure zusammenzuführen. Sie suchen nach flexiblen Strukturen, mit denen sie schnell auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können. Die SPD hat sich schon vor ein paar Jahren zur „Netzwerkpartei“ erklärt, die CDU zur „Bürgerpartei“. Geholfen hat es nicht.

Die Sozialdemokraten diskutieren als Ausweg aus diesem Dilemma über eine sehr weitgehende Öffnung der Partei für Nichtmitglieder. Sie erwägen „Schnuppermitgliedschaften“ und Vorwahlen nach französischem oder amerikanischem Vorbild bei der Auswahl von Kandidaten, allen voran bei der Kür des Kanzlerkandidaten. Dies soll die Parteien wieder näher an die Wähler heranbringen und die Kluft zwischen Politik und Wählern verkleinern. Aber einem solchen Prozess sind Grenzen gesetzt. Wenn Sympathisanten einen ähnlichen Einfluss auf die Kandidatenauswahl und die innerparteiliche Willensbildung nehmen können wie Mitglieder, dann stellt sich irgendwann die Frage, wozu eine Parteimitgliedschaft überhaupt noch gut ist. Dann wird aus der Gruppe Gleichgesinnter, die ihre gemeinsamen politischen Vorstellungen durchsetzen wollen, ein unverbindlicher Zusammenschluss im Ungefähren. Die Parteien werden sich also stärker als in der Vergangenheit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Interessengruppen und Bürgerinitiativen als Projektpartner anbieten und mehr programmatische und organisatorische Heterogenität akzeptieren müssen. Aber sie können sich, wenn sie überleben wollen, nicht beliebig öffnen, sondern sie müssen zumindest einen Kernbereich von verbindenden Ideen und parteipolitischer Identität erhalten.

Parteien sind latent bestechlich

Dem schwierigen Spagat zwischen Tradition und Professionalität, zwischen Identität und Öffnung, zwischen zielgerichteter Wähleransprache und komplexen politischen Herausforderungen können sie nicht aus dem Weg gehen. Doch zugleich werden sie damit nicht nur anfälliger für Klientelpolitik und Partikularinteressen, sondern vor allem für mächtige und finanzstarke Lobbys. Schließlich nimmt nicht nur die Verunsicherung der Parteien und ihre Abhängigkeit von Experten zu, sondern vor allem auch ihr Finanzbedarf. Kampagnen, die die Wechselwähler mobilisieren, werden immer aufwändiger, Wahlkämpfe, von PR-Profis organisiert, immer teurer. Parteien sind somit latent bestechlich.

Größer als die Gefahr einer Rückkehr von Weimarer Verhältnissen ist deshalb die Gefahr einer Berlusconisierung der deutschen Politik. Mit der „Forza Italia“ ist es in Italien einem der größten Konzerne des Landes und organisierten Kapitalinteressen gelungen, sich der Politik zu bemächtigen und unmittelbar Einfluss auf die Regierungsgeschäfte zu nehmen. Je weniger die Parteien in der Gesellschaft verankert sind, desto mehr Einfluss auf die Politik gewinnen Lobbyisten auch in Deutschland. Schon jetzt versuchen finanzstarke Interessengruppen – zum Beispiel die Pharmaindustrie, die Energiewirtschaft oder das Hotelgewerbe – politische Entscheidungen zu erzwingen, zu erpressen oder zu kaufen.

Der wichtigste Hebel, dieser Gefahr zu begegnen, heißt Transparenz. Zwar sind Interessenverbände und die organisierte Einflussnahme auf politische Entscheidungen in einem demokratischen Gemeinwesen eine Selbstverständlichkeit. Aber die Wähler sollten schon erfahren, welche Lobby wo aktiv ist, welcher Verband welcher Partei Geld spendet, in welchen klandestinen Zirkeln sich Politiker und Interessenvertreter begegnen. So könnten zum Beispiel Verbände, die in der Lobbyliste des Bundestages registriert sind, dazu verpflichtet werden, ihre Einnahmen, ihre Kunden und die Themen, zu denen sie arbeiten, detailliert offenzulegen. Politiker wiederum sollten nur nach einer Karenzzeit aus dem Parlament oder aus der Regierung in die Wirtschaft oder zu Verbänden wechseln dürfen.

Es muss nachvollziehbar werden, wie sich die Parteien finanzieren

Auch der Parteienstaat und das System der staatlichen Parteienfinanzierung brauchen mehr Transparenz, eine neue Legitimationsgrundlage und klare Regeln. Die Selbstbedienungsmentalität der Parteien muss ein Ende haben, sonst lässt sich der generelle Vertrauensverlust der Wähler nicht stoppen. Es muss nachvollziehbar werden, wie sich die Parteien finanzieren. Ein jährlicher Rechenschaftsbericht, den nur Experten verstehen, reicht dafür nicht aus. Die Parteien sollten daher umfassender als bisher über Spenden, Sponsoren und Geschäftspartner Auskunft geben müssen; Unternehmensspenden gehören wie in Frankreich auch in Deutschland verboten. Darüber hinaus sollten Bundestagsabgeordnete verpflichtet werden, ihre Nebeneinkünfte und Vermögensverhältnisse wesentlich detaillierter und umfassender offenzulegen, als es bisher geschieht. Die parteinahen Stiftungen hingegen sind ein Anachronismus und eine teure Versorgungseinrichtung für abgehalfterte Parteipolitiker. Politische Bildungsarbeit ist keine exklusive Aufgabe der Parteien, sondern genauso Aufgabe der Zivilgesellschaft.

Reformbedürftig ist auch das System der Ämterpatronage. Natürlich haben die Parteien, das Parlament und die gewählten Regierungen ein Recht, über die Besetzung von Spitzenposten in der Verwaltung und in staatlichen Institutionen zu entscheiden. Dazu sind sie durch Wahlen legitimiert. Die Vorstellung hingegen, Parteien hätten in staatlichen Institutionen nichts zu suchen, folgt einem sehr konservativen und obrigkeitsstaatlichen Staatsverständnis, in dem der Staat und seine Beamten außerhalb der Gesellschaft stehen.

Politische Personalentscheidungen dürfen jedoch nicht länger in den Hinterzimmern der Macht fallen. Vor allem bei der Besetzung von Führungspositionen in wichtigen Institutionen, wie etwa bei der Bundesbank, beim Bundeswahlleiter, dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundesrechnungshof oder beim Verfassungsgericht, sollte der Entscheidung ein öffentliches und transparentes Auswahlverfahren vorausgehen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hingegen muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eigentlich staatsfern und unabhängig organisiert sein. Deshalb sollte er dem unmittelbaren Zugriff der Politik entzogen werden. Schließlich bestimmen bislang faktisch Parteipolitiker über die Chefposten in den Rundfunkanstalten, die Regierung setzt ihre medialen Kontrolleure quasi selbst ein. Stattdessen könnte zum Beispiel zivilgesellschaftlichen Organisationen, die parteiunabhängig sind, ein angemessener Platz in den Rundfunk- und Verwaltungsräten eingeräumt werden. Ohne Druck aus der Gesellschaft werden die Parteien sich nicht auf mehr Transparenz und neue Regeln einlassen. Vor allem die ehemaligen Volksparteien werden versuchen, ihre Privilegien im Parteienstaat zu verteidigen, sich mit einer sinkenden Wahlbeteiligung und einer politisch apathischen Unterschicht zu arrangieren. Die Rufe nach Einführung des Mehrheitswahlrechts und nach einer Präsidialrepublik werden in der politischen Klasse lauter werden. So ließe sich zwar der Einfluss der beiden großen Parteien sichern und das politische System stabilisieren, aber dies würde gleichzeitig zu weniger demokratischer Teilhabe und zu einer weiter wachsenden Kluft zwischen der Politik und der Bevölkerung führen.

Doch selbst wenn ein erneuerter Parteienstaat wieder mehr Akzeptanz fände und die Deutschen zugleich lernen, mit der Instabilität des politischen Systems gelassener zu leben, bleibt das Problem des Föderalismus. Dieser bedarf einer grundlegenden Reform. Das bisherige föderale Entscheidungssystem mag mit drei Parteien und klaren politischen Lagern funktionieren. In einem Vielparteiensystem mit den unterschiedlichsten Regierungsbündnissen im Bund und in den Ländern funktioniert es nicht.

Mit ein paar kosmetischen Korrekturen ist es allerdings nicht getan. Der Vorschlag etwa, die Abstimmungsregeln zu ändern und von der absoluten zur relativen Mehrheit überzugehen, dämmt die Blockademacht des Bundesrates nicht ein. Da im Vielparteiensystem absehbar ist, dass die Oppositionsparteien im Bundesrat häufig die Mehrheit stellen werden, schlägt der Politologe Frank Decker vor, die Logik der Abstimmungen umzukehren und im Bundesrat nicht danach zu fragen, wer einem Bundesgesetz zustimmt, sondern wer es ablehnt. Enthaltungen kämen dann einem „Ja“ gleich. Landesregierungen wären stärker gezwungen, sich zu positionieren. Aber auch mit einer solchen Reform lässt sich der föderale Konstruktionsfehler nicht wirklich beheben.

Der Ruf nach direkter Demokratie wird immer lauter

Die Frage nach der Zukunft des Bundesrates muss daher völlig anders gestellt werden: Soll sich die Bundesrepublik zu einer Mehrheits- oder zu einer Konsensdemokratie entwickeln? Beide Systeme haben Vor- und Nachteile, für beide Wege gäbe es Vorbilder. Die Schweiz ist eine klassische Konsensgesellschaft, in Großbritannien hingegen erhält traditionell der Wahlsieger für die gesamte Legislaturperiode alle politische Macht. Nach dem Selbstverständnis des Bundestages, aber auch in der Selbstwahrnehmung der Parteien und Wähler ist Deutschland eine Mehrheitsdemokratie. Soll es dabei bleiben, dann würde es darauf ankommen, die Entscheidungsprozesse im Bundesrat entsprechend anzupassen und ihn zu einer richtigen Länderkammer, zu einem Senat aufzuwerten. Die Mitglieder würden von den Landtagen für die gesamte Legislaturperiode oder sogar vom Volk gewählt und bekämen ein freies Mandat. Zwar wären auch weiter unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht ausgeschlossen, aber es gäbe zumindest eine unmittelbare Legitimation durch den Souverän und nachvollziehbare politische Verantwortlichkeiten.

Auf der anderen Seite bestünde die Möglichkeit, einer föderalen Konsensrepublik neue direktdemokratische Entscheidungsverfahren entgegenzustellen. Das Volk würde dadurch zum Vetospieler gegen die politische Klasse und gegen die Parteiendemokratie. Zudem würde die Zivilgesellschaft, die sich längst unabhängig von Parteien und hierarchischen Großorganisationen etabliert hat, auf diese Weise in politische Entscheidungsprozesse eingebunden.

Schon jetzt wird der Ruf nach direkter Demokratie immer lauter. In vielen Bundesländern wurden die Verfahren vereinfacht, die Quoten für erfolgreiche Volksbegehren und Volksentscheide gesenkt. Doch Volksabstimmungen bergen Risiken. Gesellschaftliche Konflikte könnten noch stärker populistisch aufgeladen, Ressentiments noch stärker geschürt werden. Auch Lobbys, Unternehmen oder Kapitalinteressen könnten versucht sein, ihre Ziele auf diesem Wege mit viel Geld und professionellen Kampagnen durchzusetzen. Vor allem würde die fatale Skepsis der Deutschen gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen eine einflussreiche politische Plattform erhalten. Die gesellschaftlichen Kräfte der Bewegung könnten gegenüber den Kräften der Beharrung strukturell in die Minderheit geraten, das politische St.-Florians-Prinzip Oberhand gewinnen. Jedoch wären Parteien und Politiker gleichzeitig verpflichtet, intensiver für ihre Politik zu werben, offensiv für eine andere Bildungspolitik, einen anderen Sozialstaat oder für Infrastrukturprojekte einzutreten.

Trotz aller berechtigten Einwände könnten Volksabstimmungen einen Weg darstellen, um die große Kluft zwischen den Parteien und ihren Wählern sowie zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung wieder zu verkleinern. In vielen europäischen Staaten haben sie sich bewährt. Die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene würde dazu beitragen, die Demokratie in Deutschland zu erneuern. Zudem würde der Individualisierung der Gesellschaft und der Fragmentierung der politischen Interessenvertretung Rechnung getragen. Um den Vorrang des parlamentarischen Systems trotzdem zu sichern, ließe sich festlegen, dass in Volksentscheiden keine eigenen Gesetzentwürfe zur Abstimmung gestellt werden dürfen, sondern nur über Beschlüsse der Legislative abgestimmt werden darf. Das Volk hätte kein Initiativrecht, sondern nur ein Vetorecht, es könnte zwar Gesetze kippen, die vom Parlament beschlossen wurden, dürfte aber keine eigenen Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen.

Die direkte Demokratie stärkt vor allem die Zivilgesellschaft und damit den Einfluss jener Bürger, die sich politisch engagieren, die in Vereinen oder Verbänden, Bürgerinitiativen oder Interessengruppen organisiert sind. Während die Parteien in den letzten drei Jahrzehnten fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben und auch die Kirchen und Gewerkschaften kontinuierlich Mitglieder verlieren, vermelden Bürgerinitiativen und Umweltschutzorganisationen weiterhin starken Zulauf. Das politische Engagement hat sich von Großorganisationen zu Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen und Interessenverbänden verschoben; es ist vielfältiger und flexibler, anlassbezogener und konfliktfreudiger geworden. Aber es ist auch ein politisches Engagement, das häufig nicht über den eigenen Tellerrand hinaussieht.

Der Klassencharakter der Bürgergesellschaft ist unverkennbar

Eine aktive und selbstbewusste Bürgergesellschaft kann deshalb zwar dazu beitragen, die Demokratie wieder zu konsolidieren und kann gleichzeitig ein „Frühwarnsystem“ (Franz Walter) sein. Trotzdem besitzt die Idee eine fatale Schlagseite, denn der „Klassencharakter“ (Paul Nolte) der Bürgergesellschaft ist unverkennbar, da sich vor allem die gebildeten Mittelschichten in der Zivilgesellschaft engagieren. Die Unterschicht hingegen ist in Parteien, Verbänden oder Bürgerinitiativen kaum vertreten, Immigranten sind eher die Ausnahme. Den Ausgegrenzten, Marginalisierten, Armen und Verfemten hilft die Mittelschicht jedoch erst dann, wenn es ihr gut geht und wenn ihre Privilegien gesichert sind. Ressentiments gegen Hartz-IV-Empfänger und Immigranten sind im Bürgertum und der Mittelschicht weit verbreitet. Im Zweifel ist sich die Mittelschicht selbst am nächsten. Vor allem in Krisenzeiten grenzt sie sich nach unten ab und verteidigt ihre Besitzstände. Dies hat nicht zuletzt die Abstimmung über die Hamburger Schulreform gezeigt. Eine Mehrheit der Deutschen lehnte einer Umfrage zufolge zudem die Ende 2010 beschlossene Erhöhung von Hartz IV um fünf Euro ab. Und nach einer Untersuchung der Universität Bielefeld haben seit der Krise in bürgerlichen Bevölkerungsgruppen die Vorurteile gegenüber Randgruppen und die Angst vor sozialem Abstieg signifikant zugenommen.
Eine Alternative zur Parteiendemokratie und zum Parlamentarismus sind die Bürgergesellschaft und Volksabstimmungen somit nicht. Auch eine erneuerte Demokratie in Deutschland kommt ohne Parteien, die in der Gesellschaft verankert sind und das ganze Volk repräsentieren, nicht aus. Ob dies drei, fünf oder sieben Parteien sind, spielt zunächst eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist, dass möglichst viele Deutsche von den Parteien repräsentiert und mobilisiert werden. Die Gesellschaft darf sich nicht damit abfinden, dass die Wahlbeteiligung immer weiter sinkt und schon bald jeder zweite Angehörige der Unterschicht nicht mehr wählt. Auch Ausländer, die dauerhaft in Deutschland leben, dürfen nicht von der politischen Partizipation ausgeschlossen bleiben. Denn wo keine Wähler sind, sind auch keine Repräsentanten, und wo keine Repräsentanten sind, entsteht eine politische Vertretungslücke. In einer individualisierten Gesellschaft engagiert sich kein Politiker für die Wohnquartiere der Unterschicht, für ein durchlässiges Schulsystem oder die Wiederherstellung der lokalen Ökonomie, solange er dort keine Wählerstimmen erwarten kann.

Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, die klassischen Transmissionsriemen von der Gesellschaft über die Parteien und die politischen Eliten zum Staat und zurück wieder funktionsfähig zu machen. Anders als früher müssen die Riemen den einen oder anderen Umweg laufen und die Zivilgesellschaft und die Medien in die Transmission einbeziehen. Aber sie müssen auch in der fragmentierten Gesellschaft möglichst alle Menschen erreichen. Das Land braucht deshalb Debatten über einen neuen gesellschaftlichen Konsens, der nicht ausgrenzt, sondern integriert, es braucht die Verständigung über eine Leitkultur, die die Heterogenität einer Einwanderungsgesellschaft anerkennt und nicht Assimilierung meint, und es braucht eine intensive Auseinandersetzung über die Erneuerung der Demokratie, die zusätzliche Partizipationschancen eröffnet.

Doch alle Debatten, wohlmeinenden Appelle und Sonntagsreden bleiben ideologisch, wenn nicht zugleich die Ursachen von gesellschaftlicher Marginalisierung und Spaltung beseitigt werden. Deshalb helfen der Unterschicht nur ein funktionierendes Sozialsystem, Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten. Der Staat muss dafür über die finanziellen Ressourcen verfügen können, um sozialpolitisch, bildungspolitisch und wirtschaftspolitisch handlungsfähig zu bleiben.

Die Herausforderungen, vor denen die Parteien und die Gesellschaft stehen, sind gewaltig. Vor allem ein Dilemma der heutigen Demokratie wird die politischen und gesellschaftlichen Gegensätze zusätzlich immer wieder anfachen: Für alle Veränderungen, die sich im Parteiensystem, in der Politik und ihren demokratischen Institutionen vollziehen, für alle Debatten über Leitkultur und Bildungschancen, über einen neuen Gesellschaftsvertrag und neue Partizipationsformen bleiben die bundesdeutsche Gesellschaft und der Nationalstaat der Bezugspunkt. Doch beide lösen sich in einer globalisierten Welt und in Europa zumindest partiell auf. Die Spielräume der Politik werden enger, und gerade die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Eliten bewegen sich längst ganz selbstverständlich in der entstaatlichten Welt.

Viele Unwägbarkeiten begleiten also die Transformation des Parteiensystems und den Wandel des politischen Systems. Der Veränderungsdruck ist nach dem Ende der Volksparteien groß, demokratische Teilhabe und politische Partizipation müssen im europäischen Kontext neu justiert werden. Die Parteien, die politischen Eliten und die Bürgergesellschaft müssen sich diesen Herausforderungen stellen. Scheitern sie, werden die politischen Erschütterungen zunehmen und die gesellschaftlichen Gräben tiefer. Die Demokratie könnte Schaden nehmen. Das gilt es zu verhindern. «

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