Was ist die Generation Berlin?

Gesucht wird eine Haltung jenseits von Formschwäche und Identitätswahn

Bei den Vorgängen der generationsmäßig sich stetig erneuernden Gesellschaft sind immer drei Parteien im Spiel: die, die auftreten, die, die abtreten, und diejenigen, die noch im Hintergrund stehen, aber die Möglichkeit haben, das Skript zu ändern.

Helmut Kohl wurde bei der Bundestagswahl von 1998 als übrig gebliebener Repräsentant der Modell-Deutschland-Generation, die mit entschiedener Verfahrenstreue und bewusster Stilschwäche den Aufstieg aus der Deckung bewerkstelligt hatte, abgewählt. So wie dieser ewige Kanzler die Überzeugung der Westbindung mit der Energie des Weitermachens verband, versöhnte er zuletzt die Kritiker wie die Apologeten des Projekts Bundesrepublik. Doch die Mehrheit des Wahlvolkes brachte mit ihrer Entscheidung zum Ausdruck, dass der Gründungskonsens von 1945 jetzt zur Geschichte gehört und keine Gegenwart mehr erfasst. Man nahm Abschied von einem paternalistisch inszenierten und korporatistisch organisierten "rheinischen Kapitalismus". Das kleine praktische Westdeutschland mit dem Arbeitnehmer als Lichtgestalt eines beispielgebenden Modernisierungspfads schien sich in einer globalisierten Welt von Kapital-, Informations- und Warenströmen zu verlieren. Es war ein melancholischer Abschied, bei dem so etwas wie Dankbarkeit für das Werk der Kellerdeutschen mitschwang, die vielleicht nicht fähig zu trauern, aber doch unfähig zu resignieren waren. Die zielsicher ergriffene, freilich mit mildem Pathos vollzogene deutsche Einheit bildete den Abschluss einer kollektiven Lerngeschichte nach dem Ende der Ideologien.

Der Abtritt dieses "letzten Dinosauriers" aus der Aufbau- und Durchhaltegeneration hat den Raum für die zweite Chance der Protestgeneration geschaffen. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war ein Kabinett von einer einzigen Generation dominiert, die so lange in den Startblöcken gestanden hat. Ob sie aus dem Südwesten und der IG Metall, aus Berlin und dem Milieu der Voltaire-Clubs oder aus dem Lipperland oder der Welt der Jusos stammen, was sie zusammenbringt, ist ein gemeinsames Gefühl der Beginnzeit und gemeinsame Aussicht auf Dauer. Als Mittfünfziger erheben sie den Anspruch, dem Land, das sie einst von Grund auf ändern wollten, ihren Stempel aufzudrücken.

Voraussetzung dafür war allerdings die demonstrative Abkehr von den Ideen von 1968. Gerhard Schröder in erster Linie stand für die Entsorgung der kulturrevolutionären Altlast von 1968. Was diese Generation heute zuerst und vor allem charakterisiert, ist die dezidierte Hinwendung zu einer Politik des Pragmatismus, der Verantwortung und der Mäßigung. Das Ganze ist das Wahre, das auf keinen Fall gefährdet werden darf.

Daraus ergeben sich die Chancen der Generation, die nach der Revolte kam. Während jetzt die mehr oder minder Achtundsechziger die Vorderbühne der politische Arena bevölkern, machen sich auf die Hinterbühne die Angehörigen einer "Generation Berlin" bereit, die sich die Berliner Republik zu eigen machen will. Das sind die heute Dreißig- bis Vierzigjährigen, die die Protagonisten des Protests als Lehrer und Chefs genau studiert und ihre Stärken und Schwächen erkannt zu haben glauben.

Das Gefühl, danach zu kommen, ließ sich so durch "Beobachtungen zweiter Ordnung" kompensieren. Denn mit dem nötigen Abstand waren die blinden Flecken des Unternehmens der Gesellschaftskritik zu erkennen: Wie aus Prozessen der Selbstbefreiung Prozeduren des Selbstzwangs werden, wie die Gleichheit der Förderung die Ungleichheit der Leistung verdeckt, wie das Dagegensein sich am Ende als eine Form des Dabeiseins erweist. Auf diese Weise konnte man zwar schnelle Unterscheidungsgewinne erzielen und skeptische Abgeklärtheit zelebrieren, aber eine Evidenz des gemeinsamen Erlebens resultierte daraus noch nicht.

Das eigene Lebensgefühl der um 1960 Geborenen kommt vielmehr aus dem erlebten Wechsel von der gedämpften Stimmung einer Siebziger-Jahre-Kindheit mit "Grenzen des Wachstums" und "autofreien Sonntagen" zum fröhlichen Positivismus einer Achtziger-Jahre-Jugend mit ihren "genialen Dilettanten". Alles redete von "knappen Ressourcen" und "reduzierten Erwartungen" - und dann ging es doch ganz munter und unbeschwert weiter. Es ist diese gegenläufige Erfahrung im Lebensfond der um 1960 Geborenen, die sie reflexionserfahren und gegenwartsbereit zugleich gemacht hat. Für die intellektuell Interessierten war es der Dekonstruktivismus und für die populär Orientierten der Punk, die die Vorstellungen einer Existenz ohne Letztbegründungen zum Ausdruck brachten.

Hinter der Alltagsmoral dieser Generation stehen Erfahrungen unsicherer Übergänge vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem und unsteter Berufsverläufe. Dass die Erwartung qualifikationsadäquater, vollzeitiger und lebenslanger Beschäftigung nichts mehr mit der wirklichen Welt der Arbeit zu tun hat, ist für die heute Dreißig- bis Vierzigjährigen kein Grund zur Verzweiflung, sondern eher eine Bedingung für Risikokompetenz und Fehlerfreundlichkeit. Viele haben Bekanntschaft mit "Überbrückungsjobs" und "Armutspassagen" gemacht - und daraus die Erkenntnis gezogen, dass Lebenserfolg und Arbeitskarriere zeitweise auseinander fallen können. Wer vorankommen will, darf sich nicht auf Ausbildungsrichtlinien und Laufbahnversprechen verlassen, sondern muss die Verwertung seines Arbeitsvermögens selbst in die Hand nehmen.

Allerdings bestand für die Nachgeborenen die Gefahr, als Kritiker der Kritik zu verharren und sich endlos an den alternden Achtundsechzigern abzuarbeiten. Am Ende der achtziger Jahre drohte vor lauter Reflexivität die Bereitschaft zur Gegenwart verloren zu gehen. Zumal schon eine nächste Generation auftauchte, für die die postmodernen achtziger Jahre keinen historischen Bruch mehr bedeuteten.

Insofern war das Revolutionsjahr von 1989 ein Glück für die Post-Achtundsechziger. Mit der Wiederkehr der Geschichte war auch das Ende einer Geschichte besiegelt. Alle Alternativen zum ersten westlichen, kapitalistischen und individualistischen Weg in die Moderne hatten sich erübrigt, und trotzdem war über die Gegenwart nichts entschieden. Diese auswegslose Überantwortung ans Gegebene verlangte einen Wechsel der Haltung: Von einer Haltung der Kritik, die sich dem Ganzen gegenüberstellt, um sich selbst ins Ortlose zu retten, zu einer Haltung der Definition, die sich selbst exponiert, um die Dinge in Fluss zu bringen. Im ersten Fall dringt man in ein System ein, indem man den Zweck des Systems festzulegen wähnt, im zweiten verändert man ein System, indem man sein eigenes Ziel festlegt.

Deshalb handelt es sich bei der "Generation Berlin" nicht unbedingt um eine geschlossene Altersgruppe, eher um eine Gemeinschaft der Haltung, die sich einem Traditionalismus der Kritik entwinden will, ohne der puren Affirmation das Wort zu reden. Die Grundlage dafür bildet eine ungeheure transzendentale Nüchternheit, die keine Position außerhalb des Spiels von Macht, Wissen und Geld vorsieht. Wer mitspielen will, muss um Verbündete für seine Definition der Wirklichkeit werben, mit denen dann eine neue Kombination der vorhandenen Mittel und Möglichkeiten unter die Leute gebracht werden kann.

Dieser Wechsel der Haltungen berührt das Verständnis der Geschichte, den Begriff der Macht in der Politik und die Vorstellung sozialer Teilhabe. Die "Generation Berlin" ist die erste Generation der vergrößerten Bundesrepublik, die aus Sicht der Berliner Republik die Bonner Republik als ein abgeschlossenes Stück Geschichte betrachten kann. Die alte Bundesrepublik wird nach diesem Verständnis zu einem Pufferstaat, der eine zivilisatorische Distanz zur nationalsozialistischen Vergangenheit schafft. Daraus leitet sich für die "Generation Berlin" die Aufgabe ab, eine Berliner Republik jenseits vergangenheitspolitischer Alarmreflexe zu begründen. Nicht dass der melancholische Rückblick auf eine im ganzen gelungene Bonner Republik einen von der Last der nationalsozialistischen Vergangenheit befreien würde, nur hilft das Bewusstsein des Erbes wenig bei der Rechtfertigung notwendiger außen-, wirtschafts- oder sozialpolitischer Richtungsentscheidungen. Der Optionsraum der neuen Bundesrepublik kann vergangenheitspolitisch nicht mehr bewältigt, sondern muss zukunftspolitisch gestaltet werden.

Dabei empfinden sich die um 1960 Geborenen als Krisenkinder des Modells Deutschland. Als die Vertreter der "organisierten Interessen" noch völlig auf die Anrechtsordnung der "Arbeitnehmergesellschaft" konzentriert waren, haben sie sich bereits in den unübersichtlichen Zonen zwischen Beschäftigung und Nichtbeschäftigung bewegt. Daher stammt ihre besondere Sensibilität für die Wahrnehmung des wachsenden Missverhältnisses zwischen sozialen Rechten und individuellen Optionen. Wenn sich die Jungen heute gegen den Generationenvertrag in der Rentenversicherung wenden, weil sie den Eindruck haben, jetzt für die Versorgung der Alten mehr beitragen zu müssen, als sie jemals herausbekommen, dann ist das nur ein Beispiel für die Aushöhlung des stillen Gesellschaftsvertrags der Nachkriegszeit. Da stellt sich für die "Generation Berlin" schon die Frage nach dem Nutzen prinzipieller Anrechte, denen keine aktuellen Chancen mehr entsprechen.

Gleichzeitig lösen sich für die Kritiker der Kritik die festen Oppositionen in der politischen Sphäre auf. Entscheidungs- und kampforientierte Politikkonzepte, die von unvereinbaren Gegensätzen zwischen privaten Interessen und öffentlichen Gütern ausgehen, verenden in Nulloptionen und Rationalitätsfallen. Jenseits der konservativen Ironie von Unregierbarkeit und Unregulierbarkeit sind daher Ideen für eine Politik entstanden, die kooperative Vorteile nutzen will, ohne divergente Interessen zu leugnen. Macht verwirklicht sich nicht dadurch, dass man etwas gegen den Widerstand anderer durchsetzt, sondern dadurch, dass man andere dazu verleitet etwas zu tun, was sie sonst nicht getan hätten.

Was sich in der Vorstellungswelt der "Generation Berlin" herausbildet, ist der Leitbegriff des "unternehmerischen Einzelnen", der sich nicht an vorgegebene Standards hält, sondern eigene Kombinationen ausprobiert und auf dem Markt anbietet und in die Gesellschaft einbringt. Das Gefühl von Selbständigkeit und Selbstverantwortung ist wichtiger als angestrengte Selbstverwirklichung oder unbekümmerter Selbstgenuss. Deshalb sucht der "unternehmerische Einzelne" nicht primär seinen persönlichen Freiraum und seine privaten Ungestörtheit, sondern fühlt den Wunsch nach politischer Selbstbestimmung und sozialer Beteiligung. Nur verlässt er sich dabei weder auf das ausgewogene System des Parteienstaats, noch vertraut er auf die großen Versprechungen der Bewegungsgesellschaft. Der "unternehmerische Einzelne" orientiert sich jenseits der Alternative von Anpassung und Befreiung, wo sich der Raum für einen "positiven" Begriff der Freiheit öffnet. Der zielt auf die Vorstellung meiner selbst als eines denkenden, wollenden und werdenden Wesens, das nicht nur seine Innerlichkeit schätzt, sich aber auch nicht vom Beifall der anderen abhängig macht. Unternehmerisch wird der Einzelne vielmehr dadurch, dass er auf Gelegenheiten bezogen ist und sich in einem offenen Feld von Beziehungsmöglichkeiten bewegt.

Der Entwurf des "unternehmerischen Einzelnen" weist im übrigen auf die Vorstellungswelt des politischen Experimentalismus. Teilhabe wird dabei nicht von einer kulturellen Mission und einem übergeordneten Zweck gedacht, sondern von historischen Einigungsprozessen und kollektiven Akzeptanzformen. Der politische Experimentalismus zieht heute die Konsequenz aus den Lehren der achtziger Jahre: Dass der Staat als zentraler Akteur entzaubert ist, dass das moderne Schema getrennter Rationalitäten nur zur Vermehrung der Ausnahmen führt und dass langfristige Festlegungen aus lauter kurzfristigen Täuschungen bestehen. Experimentell ist eine Politik lokaler Verhandlungen, gemischter Aspekte und vorläufiger Versuche. Denn immer dann, wenn die Dinge des menschlichen Zusammenlebens zentral, reinlich und langfristig geregelt werden sollen, bleibt der "unternehmerische Einzelne" mit seinem Vorstellungsvermögen und seiner Verantwortungsbereitschaft auf der Strecke.

Es geht der "Generation Berlin" also um einen Neuanfang jenseits überkommener Konfrontationen. Nicht der dritte Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nicht die Entscheidung zwischen wohlfahrtsstaatlicher Einbettung und neoliberaler Entbettung des Einzelnen, nicht die Wahl zwischen bundesrepublikanischer Machtvergessenheit und großdeutschem Auftrumpfen sind das Problem, sondern die Definition neuer Unterscheidungen und anderer Entscheidungsszenarien, die eine Berliner von der Bonner Republik absetzen können.

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