Koloss auf tönernen Füßen

Der Sozialstaat lebt von der Solidaritätsbereitschaft der Mittelklassen. Wo sie verloren geht, schwindet die Legitimation. Doch noch ist keine Gruppierung in Sicht, die sozialmoralische Verpflichtungen in Deutschland neu begründen könnte

Die öffentliche Auseinandersetzung zwischen denen, die sich die Verteidigung des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaates auf ihre Fahnen geschrieben haben, und denjenigen, die nur in seiner Veränderung die Möglichkeit zu seiner Erhaltung sehen, ist eine Gespensterdebatte. Sie beschwört eine gesellschaftliche Kampffront, die so überhaupt nicht existiert. Es gibt praktisch niemanden, der den deutschen Sozialstaat, so wie er ist, für sich reklamiert, genauso wenig, wie nennenswerte Gruppierungen zu erkennen sind, die ihn abbauen oder abschaffen wollen. Der deutsche Sozialstaat stellt sich vielmehr als ein Koloss auf tönernen Füßen dar, von dem viele immer noch profitieren, an den aber keiner mehr glaubt.

 


Wir haben in Deutschland ein gutes Jahrzehnt verloren, um überhaupt zu begreifen, woher der beängstigende Legitimationsschwund unseres Sozialsystems rührt, für das wir so lange beneidet wurden. Damit geht eine Geschichte langer Dauer zu Ende, die mit Bismarck angefangen hat, im Nationalsozialismus erweitert und von Adenauer renoviert wurde und im Modell Deutschland seine Vollendung gefunden hat. Damit lässt sich jetzt kein Staat mehr machen.


Der deutsche Sozialstaat leidet heute unter drei grundlegenden Legitimationsproblemen, die deshalb zu seinem schleichenden Legitimationsverfall beitragen, weil ihnen bisher ein öffentlicher Ausdruck fehlt.


Das erste betrifft das Missverhältnis von Anrechten und Optionen. Nicht erst seit gestern ist von jüngeren Leuten zu hören: "Was nützt es mir eigentlich, wenn meine Rente sicher ist, ich aber nicht weiß, wie viel ich eigentlich bekomme, und was ich mir, für das, was ich dann bekomme, noch leisten kann?" Man begrüßt zwar, dass der Wohlfahrtsstaat Anrechte der Alterssicherung institutionalisiert, hegt aber Zweifel daran, was diese Garantien in Wirklichkeit wert sind.

Keine ausgleichende Gerechtigkeit

Dieser ganze Problemkreis der Diskrepanz von sozialen Rechten und individuellen Möglichkeiten wird bei uns unter der Überschrift der Generationengerechtigkeit diskutiert. Eine wachsende Zahl jüngerer Beitragszahler nimmt Abstand von einem wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystem, bei dem nur eines sicher ist: dass sie nie mehr das herausbekommen, was sie eingezahlt haben. So entsteht eine Idee von Renditegerechtigkeit von Ein- und Auszahlungen, die mit der Vorstellung einer organischen Solidarität zwischen den Altersgruppen bricht. Daraus ergeben sich Legitimationsprobleme neuer Art, die nicht einfach mit der Einforderung hergebrachter Obligationen zu lösen sind: Die Solidarität zwischen den Alten und den Jungen wird durch die Tatsache der diskrepanten Versorgungsbilanzen zwischen verschiedenen Generationen von Gleichaltrigen belastet. Wenn keine Aussichten auf eine ausgleichende Gerechtigkeit bestehen, warum sollte der Einzelne sich an einem System von Umlagen beteiligen, das ihn zum lebenslangen Nettozahler bei unsicheren Rückflüssen macht? Kann etwas gerecht sein, so lautet die Frage, das auf derart wackeligen Füßen steht?

 

 

Der zweite Punkt, der damit zusammenhängt, und der möglicherweise viel wichtiger ist, zielt auf das Missverhältnis von Aufwand und Ertrag. Wohlfahrtsstaaten, besonders der europäischen Art, werden von der Bereitschaft der Mittelklassen getragen, ihn zu finanzieren. Wenn aber diese tragenden Schichten zunehmend den Eindruck gewinnen, dass sie für ihre hohen Beiträge in die wohlfahrtsstaatlichen Systeme keine eigenen Vorteile mehr gewinnen, dann wird die Bereitschaft abnehmen, diesen Wohlfahrtsstaat aufrecht zu erhalten. Die mit den starken Schultern sind nur solange bereit, mehr zu wuchten als die mit den schwachen Schultern, wie sie sehen, dass sie selbst auch etwas davon haben.

Warum soll ich so viel Steuern zahlen?

Doch die Mehrheitsklasse in Deutschland hat ganz im Gegenteil heute das Gefühl, dass die öffentlichen Güter, für die der Wohlfahrtsstaat bisher aufgekommen ist, mehr und mehr zu privaten Gütern werden und individuelle Investitionen erfordern. Das betrifft in erste Linie die ihnen wichtigen Güter Bildung, Sicherheit und Gesundheit. Wenn man für die Ausbildung der eigenen Kinder privates Geld aufbringen muss, um sie auf eine gescheite Schule zu schicken, dann wird man natürlich nicht geneigter, an die Leistungsfähigkeit öffentlicher Institutionen zu glauben. Warum, so fragt man weiter, soll ich soviel Steuern bezahlen, wenn ich für die Sicherheit und Sauberkeit meiner nächsten Umwelt vermehrt selbst aufkommen muß? Ähnlich verhält es sich mit dem öffentlichen Gut der Gesundheit. Jedem sind Beispiele von Klassenmedizin bekannt, die bis weit in die Mittelklassen reichen. Hier vor allem gibt es deutliches Unbehagen, dieses dramatische Missverhältnis von Investitionen und Vorteilen weiter hinzunehmen.


Es ist ein Gebot politischer Klugheit, sich um diese latente Panik in den Mittelklassen zu kümmern. Schließlich heißen die drei Themen der neuen Populisten in Europa Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Noch hat es in Deutschland, wie das jüngste Schicksal der FDP beweist, damit nicht so richtig geklappt, weil mit antisemitischen Affekten bei uns nichts zu machen ist, aber das politische Kapital dieser Themen liegt buchstäblich auf der Straße.


Der dritte wichtige Punkt, der zwar schon länger gesehen wird, der aber mit der kleinen Revolution der Riester-Rente noch nicht abgedeckt ist, zielt auf das Missverhältnis von Lebensweisen und Versorgungsberechtigungen. Die neuen sozialen Tatsachen sind längst bekannt. Das so genannte Normalarbeitsverhältnis von qualifikationsadäquater, lebenslanger und vollzeitiger Beschäftigung ist mehr und mehr zu einer Fiktion geworden. In einer Längsschnittsbetrachtung gilt dieses Modell vielleicht noch für ein gutes Drittel der Erwerbstätigen. Wir haben es quer durch die gesellschaftlichen Klassen und Schichten mit der Erosionen des Normalarbeitsverhältnisses zu tun. Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Berufskarrieren sind nicht mehr auf Randbereiche der Erwerbsgesellschaft beschränkt. Die Leute experimentieren mit neuen Einkommensmischungen aus informeller Eigenarbeit, abhängiger Erwerbsarbeit und auch der autonomen Familien- und Hausarbeit. Was die einen aus Not machen, stellt für die anderen eine bewusste Wahl dar. Da spielen natürlich ganz unterschiedliche Lebensmodelle, Selbstverwirklichungsphantasien und nicht zuletzt materielle Zwänge eine Rolle. Nur entsprechen diese Veränderungen der Lebensweisen überhaupt gar nicht mehr den formellen Regelungen des Wohlfahrtsstaates, vor allem in Hinblick auf die Alterssicherung. Da entkoppeln sich institutionelle Lebenszuschnitte und individuelle Lebensweisen, und die daraus sich ergebenden Versorgungslücken sind sicherlich nicht, wie man in der emphatischen Phase der Grundeinkommensdiskussion glaubte, mit einem aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierten Garantieeinkommen zu lösen.

Was den Leuten auf den Nägeln brennt

Das sind die drei großen Problembereiche, die den Leuten auf den Nägeln brennen, aber ihrem Gefühl nach in der Öffentlichkeit und in der Politik nicht richtig aufgegriffen werden. Dies schwächt überall den Glauben an den Wohlfahrtsstaat und kann durchaus als Staatsversagen der Nachkriegsdemokratie skandalisiert werden.


Allerdings bereitet die politische Behandelbarkeit dieser Fragen einige Probleme. Wer kann dafür angesprochen werden? Und wem sind die Kosten einer vernünftigen Devolution des Wohlfahrtsstaats mit welcher Berechtigung aufzubürden? Dazu muss man sich klar machen, dass der Wohlfahrtsstaat - von seiner historischen Gewordenheit her betrachtet - weniger Projekt war als Effekt. Gerade in Deutschland haben konservative Architekten wie Bismarck und Adenauer genauso ihren Anteil daran wie die Sozialdemokratie, die angeleitet von bedeutenden Theoretikern des Sozialen Rechtsstaats wie Hermann Heller, Eduard Heimann oder Hans Achinger dem Ganzen ein universalistisches Fundament gegeben haben. Aber einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, politischen Partei oder sozialen Klasse, auch wenn Christ- oder Sozialdemokraten das gelegentlich behaupten, kann man diesen Prozess nicht zuschreiben.

Die Logik des Lastenausgleichs

Man muss schon die Gesellschaft als Ganzes in Betracht ziehen. Da zeigt sich im Blick besonders auf die westdeutsche Nachkriegsentwicklung, dass der deutsche Sozialstaat über Legitimationsressourcen eigener Art verfügt hat, die etwas mit dem wundergleichen Wiederaufstieg nach verlorenem Krieg und vollbrachtem Völkermord zu tun haben. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Westdeutschland basierte auf der Logik des Lastenausgleichs in der Kriegsfolgenbewältigung, wohinter sich die Kollektivverantwortung der von Christoph Kleßmann so genannten "Zusammenbruchsgesellschaft" verbarg. Die Westdeutschen fanden sich nach 1945 in einer Wiederaufbauverpflichtung zusammen, die die Wirtschaft, den Sozialstaat und die Mitbestimmung einschloss. Daraus ergaben sich gesamtgesellschaftliche Solidaritätsverpflichtungen, die über eine lange Nachkriegszeit gehalten haben, im Grunde bis zur Wiedervereinigung, die kein anderer als Helmut Kohl als Wiederkehr von 1945 ins Werk gesetzt hat.


Das ist jetzt vorbei. Die Wiederaufbauverpflichtung ist keine regenerierbare Legitimationsressource mehr, von der aus man den nötigen reformerischen Enthusiasmus für den Wohlfahrtsstaat entwickeln könnte. Es ist im Gegenteil eine generationell gestaffelte Absetzbewegung vom deutschen Sozialstaat zu erkennen, die unaufhaltsam und unumkehrbar zu sein scheint. Die Generation, die den deutschen Sozialstaat als ihre Errungenschaft ansieht und im Augenblick am besten dasteht, ist die unserer Turnschuh-Rentner. Gemeint sind damit diejenigen, die der Flakhelfer-Generation der um 1928 Geborenen angehören. Die erfreuen sich in ihrer Mehrheit guter Renten, haben oft noch Eigenheim- oder sonstige Immobilienrücklagen, sind in der Welt unterwegs und können sich generös gegenüber ihren Enkeln zeigen, was die Zahlen über erhebliche private Transfers in der Generationsfolge belegen. Da freut man sich und sagt sich insgeheim: So ein Rentner möchte ich auch gerne mal sein. Aber die mittlere Generation der heute Vierzigjährigen, die von diesen Eltern profitieren, weiß natürlich, dass diese glücklichen Verhältnisse für sie nicht mehr gelten werden.

Die Achtundsechziger als Profiteure

Diejenigen allerdings, die von den heute Vierzigjährigen sehr viel mehr beargwöhnt werden, sind jene, die der wirklichen Sozialstaatsgeneration der westdeutschen Nachkriegszeit angehören. Das ist natürlich die Generation der Achtundsechziger, die noch die Geschicke in unserem Land bestimmt. Diese um 1940 geborenen Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs sind die eigentlichen Profiteure des westdeutschen Wohlfahrtsstaates. Sie hatten gegenüber der Flakhelfer-Generation den zusätzlichen Vorteil, dass sie in die expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit hineingeboren worden sind, was ihnen enorme berufliche Chancen eröffnet hat. Für sie war der Wohlfahrtsstaat nicht nur ein Sicherungsinstitut, sondern auch gleichzeitig eine Beschäftigungs-maschine.


So jedenfalls sehen das die Angehörigen der defensiven Sozialstaatsgeneration, die in den siebziger Jahren politisch sozialisiert worden sind. Sie sind schon mit den "Grenzen des Wachstums" groß geworden, haben dann aber die unbeschwerten achtziger Jahre als ihre Zeit mit dem Punk und der Postmoderne erlebt. Daraus ergibt sich die merkwürdige Zwischenlage dieser Generation der um das Jahr 1960 Geborenen: dramatisiert in der frühen Jugend, dass alles zu Ende geht, und beruhigt in der späten Jugend, dass alles weitergeht.

Nach der Wiederaufbauverpflichtung

Denen folgt die "Generation Golf" der um 1975 Geborenen, die man eigentlich zu einer postsozialstaatlichen Generation erklären kann. Sie sind sowieso der Meinung, dass der Wohlfahrtsstaat, sowohl was ihre persönlichen Lebensmodelle als auch was seine Finanzierungsleistungen angeht, eine schlechte Karte darstellt. Das sind die Virtuosen des Wechsels zwischen dem jeweils Günstigsten. Aber nicht weil sie nichts anderes kennen würden als die egoistische Vorteilsnahme. Sondern weil ihnen hergebrachte Vorstellungen von Sozialverpflichtung wie Schutzbehauptungen von Sozialkartellen und Besitzstandskoalitionen erscheinen. Daher glauben sie, dass "exit" einfach ehrlicher und wirkungsvoller sei als "voice". Die große Frage ist, was nach dem Generationenbündnis des Wiederaufstiegs nach 1945 kommt: Auf welches sozialmoralische Band kann nach der Wiederaufbauverpflichtung zurückgegriffen werden?
Noch ist keine Gruppierung, Bewegung oder Partei in Sicht, die sich dieser Frage stellen und damit die Zukunft des Modells Deutschland zu ihrer Sache machen würde. Aber solange die Auseinandersetzung über den deutschen Sozialstaat auf einem Spielfeld stattfindet, auf dem sich großgruppenorganisierte Sozialstaatsverteidiger und neoliberale Sozialstaatsverächter als Kontrahenten gegenüberstehen, bleibt nur die Hoffnung auf eine mysteriöse Konjunkturbelebung, die aber keines der Probleme lösen wird, die unsere Zukunft verstellen.

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