Was in Schweden zerbrochen ist

Der nächste schwedische Premierminister ist Sozialdemokrat und heißt Stefan Löfven. Nach acht Jahren liberalkonservativer Vorherrschaft übernimmt er sein neues Amt in einer Zeit, in der immer mehr Schweden den Eindruck haben, ihre einst so vorbildliche Gesellschaft sei vom richtigen Kurs abgekommen

Schwedens neuer Premierminister heißt Stefan Löfven. Aber der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) hat die Reichstagswahl am 14. September 2014 nicht gewonnen. Sondern der Amtsinhaber Fredrik Reinfeldt hat sie verloren. Reinfeldts liberalkonservative Moderate Sammlungspartei kam jede vierte Stimme abhanden: Ihr Stimmenanteil sank von 30,6 Prozent 2010 auf nun 23,3 Prozent.

Die Sozialdemokraten hingegen kamen am Ende ungefähr auf das gleiche Ergebnis wie vor vier Jahren. Sie legten um 0,6 Punkte auf 31,3 Prozent zu, wobei sich dieser kleine Zuwachs noch als psychologisch wichtig erweisen könnte. Denn Stefan Löfven kann zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass er den negativen Trend seiner Partei bei den beiden vorangegangenen Parlamentswahlen gebrochen hat.

Gesiegt haben die Fremdenfeinde

Die großen Sieger des 14. Septembers sind aber die fremdenfeindlichen „Schwedendemokraten“ (SD). Vor allem diese Partei ist schuld daran, dass Fredrik Reinfeldt seine Macht verloren hat. Jeder dritte Wähler der Schwedendemokraten hatte bei der Parlamentswahl vor vier Jahren sein Kreuz bei den Moderaten gemacht. Dass die SD mit ihren Wurzeln in der Neonazi-Bewegung, die keinen einzigen Sitz im Parlament hatte, nun mit einem Stimmenanteil von 12,9 Prozent zur drittstärksten Kraft im Land geworden ist, gehört zu den großen politischen Erblasten der Amtszeit von Fredrik Reinfeldt. Wie konnte das nur passieren? Darüber wird in Schweden im Nachgang der Parlamentswahl intensiv debattiert.

Die Grüne Partei, die vor wenigen Jahren noch als die Zukunft der linken Mitte umjubelt wurde, schnitt mit 6,9 Prozent der Wählerstimmen überraschend schlecht ab. Noch vor nicht allzu langer Zeit glaubten viele Grüne, ihre Partei sei dazu bestimmt, den Sozialdemokraten die Rolle als wichtigste Mitte-links-Partei streitig zu machen. Aus heutiger Sicht wirken diese Ansprüche nahezu lächerlich. Im Vergleich zu damals tritt nun eine bescheidenere Grüne Partei in Koalitionsverhandlungen mit Stefan Löfven ein, um gemeinsam eine Minderheitsregierung zu bilden.

Ebenfalls enttäuscht waren die Anhänger der Linkspartei (Vänsterpartiet), die gerade 5,7 Prozent der Stimmen einfuhr. Und die neue Partei Feministische Initiative, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gut abgeschnitten hatte, zieht erst gar nicht in den Reichstag ein.

Nach den Europawahlen im Mai waren viele Beobachter davon ausgegangen, dass sich die schwedischen Wähler bei den Parlamentswahlen zwar nach links bewegen, die Sozialdemokraten aber hinter sich lassen und neueren und moderneren Parteien zulaufen würden. Dieser angebliche Trend hat sich nicht bestätigt. Neben den rechten Schwedendemokraten konnten nur Stefan Löfvens Sozialdemokraten Stimmenanteile hinzugewinnen.

Paradoxerweise ging es bei diesen Wahlen kaum um das Thema Einwanderung. In Umfragen, in denen die Bürger eine Rangfolge der aus ihrer Sicht wichtigsten politischen Herausforderungen angaben, schaffte es Immigration noch nicht einmal unter die ersten zehn Probleme. Nur für die Wählergruppe, die bei den Schwedendemokraten ihr Kreuz machte, war Einwanderung das mit Abstand wichtigste Thema. Für diese Wähler stellt besonders die große Anzahl von Asylsuchenden in Schweden ein Problem dar.

Aber anders als andere Anführer von Mitte-rechts-Parteien in Europa hat sich Fredrik Reinfeldt keinerlei ausländerfeindlicher Rhetorik bedient, sondern für eine offene und tolerante Gesellschaft geworben. Im Wahlkampf forderte er die Schweden auf, ihre „Herzen zu öffnen“ und Menschen, die vor Krieg und Unterdrückung geflohen sind, einen sicheren Hafen zu bieten. Für diese Äußerungen wurde Reinfeldt heftig kritisiert. Im linken politischen Lager argumentierten viele, Reinfeldt sei für den dramatischen Zulauf der Schwedendemokraten selbst verantwortlich, weil in seiner Amtszeit die Ungleichheit dramatisch zugenommen habe.

Absturz in die Ungleichheit

Tatsächlich ist die Ungleichheit in keinem anderen Land der OECD in den vergangenen 15 Jahren derartig rasant angestiegen wie in Schweden. Zugleich hat die Regierung Reinfeldt die Steuern gesenkt – mit der Folge, dass öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherungsnetze deutlich beschnitten wurden. Die Kritiker argumentieren, es helfe wenig, Fremdenfeindlichkeit einfach nur zu verdammen. Angesichts der wachsenden Ungleichheit müssten vielmehr die Gründe für Rassismus ins Blickfeld rücken.

Beispielsweise nehmen viele Gemeinden, in denen Reinfeldts Moderate das Sagen haben, keine Flüchtlinge auf. Deshalb landen die meisten Asylbewerber in sozialdemokratisch regierten Kommunen, die tendenziell ärmer sind und in denen mehr Arbeiter wohnen. So hat allein die außerhalb von Stockholm gelegene Stadt Södertälje mit ihren 80 000 Einwohnern mehr irakische Flüchtlinge aufgenommen als die Vereinigten Staaten und Kanada zusammen. Trotzdem hat Södertälje von der Regierung in Stockholm keine zusätzliche Unterstützung für Unterkünfte, Arbeitsplätze oder Schulen erhalten. Andererseits existiert keine direkte Korrelation zwischen denjenigen Gebieten, die viele Flüchtlinge aufnehmen und den Hochburgen der Schwedendemokraten. Vielmehr scheinen diese in abgelegeneren Teilen Schwedens besonders viel Zulauf zu verbuchen, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist.

Das für die Wähler mit Abstand wichtigste Thema war Bildung. Seit die OECD im Dezember ihre jüngste Pisa-Studie vorgelegt hat, erlebt Schweden seinen „Pisa-Schock“. Dem Bericht zufolge ließen in den vergangenen zehn Jahren in keinem anderen Land die Ergebnisse in Mathematik so abrupt nach wie in Schweden. Heute liegt das ehemals so stolze Bildungsland auf den Feldern Mathematik, Leseverständnis und Naturwissenschaften unterhalb des OECD-Durchschnitts. In der Rangliste liegen die schwedischen Schulen hinter den Vereinigten Staaten und Großbritannien.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird als diejenige Partei mit der besten Bildungspolitik wahrgenommen und hat davon bei den Wahlen wahrscheinlich profitiert. Das Bildungsthema ist eng verknüpft mit allgemeinen Hoffnungen vieler Wähler auf eine Wiederherstellung des öffentlichen Sektors.

Wie die Bildung zur Ware wurde

Denn in den vergangenen zwanzig Jahren ist die Anzahl der Privatschulen in Schweden explodiert. Heute besucht jedes zehnte schwedische Kind eine freie Schule, und jede fünfte dieser Schulen wird von gewinnorientierten Kapitalgesellschaften betrieben. Auch deshalb werden in Schweden gute Noten zunehmend inflationär gebraucht. Bildungsforscher meinen, dass viele Lehrer an Privatschulen ihren Schülern bessere Noten geben, als diese eigentlich verdienen, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ ihrer jeweiligen Schule zu erhöhen. Auch versuchen Schulen, Schüler mit kostenlosen iPads und Computern anzulocken und geben Geld für große Werbekampagnen aus. Das ist schon deshalb umstritten, weil sie dafür auch Steuermittel verwenden. Hinsichtlich der freien Schulen plädieren die Sozialdemokraten für strengere Regulierung, mehr Transparenz und für höhere pädagogische Qualität. Diese Forderungen werden nun wohl in die Tat umgesetzt.

Eine neue politische Landschaft

Der Krieg in der Ostukraine hat die schwedischen Parlamentswahlen zwar nicht direkt beeinflusst, könnte aber eine indirekte Rolle gespielt haben. Schweden liegt gegenüber den Baltischen Staaten auf der anderen Seite der Ostsee und sieht diese Region als sehr wichtig an. Der bisherige Außenminister Carl Bildt hat sich in Europa einen Namen als unverblümter Kritiker Wladimir Putins gemacht. Jedoch: Während Carl Bildt durch die Welt flog und vor der russischen Aggression warnte, senkte Fredrik Reinfeldt daheim fleißig die Verteidigungsausgaben. Bereits im Jahr 2010 hatte die Regierung wie angekündigt die Wehrpflicht abgeschafft. Drei Jahre später gab der schwedische Oberbefehlshaber zu, das Land könne sich nur eine Woche lang verteidigen. Kein Wunder, dass diese Politik unter traditionellen konservativen Wählern nicht besonders populär war.

Die wichtigste Frage während des Wahlkampfs war aber eher philosophischer Natur. Sie lautete nicht etwa „Kann sich Schweden verteidigen?“, sondern „Ist in Schweden etwas kaputtgegangen?“. Darauf liefen viele Debatten am Ende hinaus.

Der Unterschied zwischen Fredrik Reinfeldt und früheren politischen Anführern der rechten Mitte besteht darin, dass Reinfeldt Steuersenkungen nicht mit dem Ziel versprach, den schwedischen Sozialstaat abzubauen, sondern um Arbeitsplätze zu schaffen. Reinfeldt fand einen Weg, die Steuern zu senken, ohne als jemand zu gelten, der das schwedische Modell loswerden wollte. Aber je länger er im Amt war, desto mehr Wähler begannen ihm zu misstrauen.

Breit gemacht hat sich in Schweden das grundlegende Gefühl, im Land sei etwas verlorengegangen. Der Eindruck herrscht vor, die schwedische Gesellschaft bewege sich weg von ihren Wurzeln, dem berühmten nordischen Modell. Viele Wähler empfanden das so. Für die Sozialdemokraten bestand das Problem allerdings darin, dass nicht alle diese Wähler glaubten, schuld an der Malaise sei die wachsende Ungleichheit. Viele meinten, das Problem sei die Einwanderung.

Auf diese Weise ist eine neue politische Landschaft entstanden. Mit ihr muss Stefan Löfven als neuer Premierminister nun fertig werden.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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