Was heißt lebenslagenorientierte Politik?

Traditionelle Sozialpolitik grenzt verschiedene Lebensabschnitte streng voneinander ab. Im 21. Jahrhundert genügt das nicht. Gefragt ist eine Politik, die Menschen hilft, Lebensphasen miteinander zu verknüpfen

Der demografische Wandel bildet den zentralen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Referenzrahmen der nächsten Jahrzehnte. Laut Prognosen scheiden ab 2020 ungefähr doppelt so viele ältere Menschen ruhestandsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wie jüngere Personen auf den Arbeitsmarkt drängen. Daraus könnte ein gesteigerter Bedarf an Arbeitskräften resultieren. Der siebte Familienbericht der Bundesregierung fordert deshalb eine Politik, die die unterschiedlichen Lebensphasen von Bildung, Fürsorge, ökonomischer Erwerbsarbeit und Erholung nicht mehr starr voneinander abgrenzt. Vielmehr muss Sozialpolitik die Menschen angesichts ihrer zunehmend längeren Lebensläufe dabei unterstützen, diese Lebensphasen in bunter Abfolge miteinander zu verknüpfen.

Die aktuelle sozialpolitische Rhetorik betont Selbstverantwortung und Aktivität. Arbeitnehmer und Arbeitslose werden ermuntert, sich auf eine flexibilisierte Arbeitswelt einzustellen, kinderlose Paare an ihre gesellschaftliche Verantwortung erinnert oder von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut Betroffene auf ihre Pflicht zur persönlichen Initiative verwiesen. Motiviert sind diese Appelle von der Überzeugung, dass Menschen ihre Handlungspotenziale bisher nicht vollständig ausschöpfen und dass daran der traditionelle, zu sehr auf Fürsorge ausgerichtete Wohlfahrtsstaat eine Mitschuld trägt. Unter dem Motto „Fördern und Fordern“ soll die durch den sorgenden Staat selbst aufgestellte Armutsfalle beseitigt und die Zahl der Beschäftigten – auch angesichts einer drohenden Überlastung der sozialen Sicherungssysteme (besonders der Rentenversicherung) – gesteigert werden.

Angesichts der strukturellen Gegebenheiten der Arbeitswelt entsteht allerdings der Eindruck, dass die Forderung nach Aktivität und Eigeninitiative widersprüchliche Handlungsanforderungen an die Menschen stellt. Diesen Anforderungen können sie kaum gleichzeitig gerecht werden, so dass daraus eher Lähmungs- und Bedrohungsgefühle erwachsen als Perspektiven für selbstbestimmtes Handeln. An neuralgischen Punkten wie dem familiären Zusammenleben, der Betroffenheit von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut sowie beim Ausgleich zwischen den Generationen ist Sozialpolitik noch zu wenig in der Lage, Menschen in einer flexibilisierten und wettbewerbszentrierten Arbeitswelt, die nach wie vor den Dreh- und Angelpunkt individueller Lebensgestaltung bildet, adäquat zu unterstützen und zu begleiten. Gerade angesichts des demografischen Wandels muss eine konsequent an Lebenslagen orientierte Sozialpolitik Spielräume schaffen, die es den Menschen erlauben, sozioökonomische Veränderungen als Chance zu nutzen und ihren Lebenslauf als vielfältige Abfolge oder stabiles Nebeneinander unterschiedlicher biografischer Anforderungen aktiv zu gestalten.

Ungelernte Arbeitskraft verliert an Wert

Nicht nur der deutsche Arbeitsmarkt ist gekennzeichnet von der fortschreitenden Entwertung ungelernter Tätigkeiten und einer Zunahme von Qualifikationsanforderungen auch im Niedriglohnbereich. Mit Blick auf die arbeitsorganisatorische Ebene ist festzustellen, dass das Normalarbeitsverhältnis zwar nicht verschwindet, aber starke Konkurrenz bekommt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist zwischen 1992 und Juni 2008 von knapp 30 auf 27,5 Millionen gesunken, gleichzeitig stieg die Teilzeitquote zwischen 2001 und 2007 von 28,1 Prozent auf 33,6 Prozent an. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten lag um die Jahrtausendwende bei 4,1 Millionen und ist bis Juni 2008 auf 7 Millionen geklettert, von denen 2,2 Millionen ihrer geringfügigen Beschäftigung zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen.

Befristete Arbeit, unkalkulierbare Biografien

Auch die Leiharbeit nahm erheblich zu: Im Dezember 2007 standen bundesweit 721.000 Leiharbeitnehmer unter Vertrag – rund 260 Prozent mehr als im Dezember 1997. Der prozentuale Anteil befristeter Vertragsverhältnisse verdoppelte sich zwischen 1995 und 2006 auf knapp 15 Prozent. In befristeten Arbeitsverhältnissen befinden sich besonders niedrig und hoch Gebildete, bisweilen mit negativen Effekten für deren Erwerbskarriere insgesamt: Häufig schließen sich an eine befristete Beschäftigung weitere befristete Arbeitsverhältnisse an, wodurch sich das Risiko der Arbeitslosigkeit erhöht. Unternehmen neigen dazu, Bewerber in einem negativen Licht zu sehen, deren Lebensläufe durch mehrere befristete Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet sind. Vor allem die Berufsbiografien von jüngeren Arbeitskräften sind heute bereits deutlich dynamischer und unsicherer als noch vor wenigen Jahren, zuweilen durchbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit oder der Weiterqualifikation.

Zweifellos liegen in dieser Entwicklung nicht nur für jüngere, sondern auch für die wachsende Anzahl älterer Beschäftigter vielfältige Chancen. Doch tendenziell bilden sich im Sockel der Normalarbeitsverhältnisse Zonen prekärer Erwerbsarbeit heraus, mit entsprechenden negativen Folgen für die Kalkulierbarkeit des beruflichen Werdegangs und der materiellen Sicherung im Alter. In diesem Zusammenhang nehmen Druck und Statusängste zu, und bei den jüngeren Generationen mehren sich weithin Befürchtungen, niemals über einen prekären Erwerbsstatus hinauszugelangen. Auch bei Älteren war die Arbeitslosigkeit zwar in den vergangenen Jahren rückläufig, aber auch in dieser Gruppe hat sich der Anteil der prekär Beschäftigten überdurchschnittlich erhöht.
Parallel zu steigenden Unsicherheiten beim beruflichen und arbeitsrechtlichen Status verdichten sich im Arbeitsalltag die Aufgaben, deren Erledigung vielfach als ständiger Bewährungsprozess im Streben nach einem gesicherten Arbeitsverhältnis wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund bedeutet der politische Appell an Aktivität und Eigenverantwortung die Erwartung maximaler Anpassungsbereitschaft und hoher psychischer und örtlicher Beweglichkeit. Lokale Bindungen, Vertrauen in den erlernten Beruf oder persönliche Verpflichtungen entpuppen sich als Hindernisse für die berufliche Integration. Gefordert und belohnt werden kurze Zeitpläne, Risikobereitschaft und persönliche Unabhängigkeit. Wer sich diesen Wettbewerbsbedingungen nicht dauerhaft unterwerfen kann oder will, ist in Gefahr, am Arbeitsmarkt tiefgreifende Nachteile zu erleiden. Diese verdichteten Anforderungen des Arbeitsmarktes erschweren verlängerte Erwerbsbiografien ebenso wie die Lebenslagen junger Familien und Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen.

Lebensstau zwischen Ende 20 und Mitte 30

Bei ihrem Versuch, eine Balance zwischen Familien- und Erwerbsarbeit zu finden, müssen Männer und Frauen nach wie vor feststellen, dass die in der Arbeitswelt geforderte Währung aus Flexibilität, Mobilität und zeitlicher Verfügbarkeit mit den Bedürfnissen der Familie in Konflikt gerät. Kinder oder Pflegebedürftige erwarten Verlässlichkeit, Planbarkeit und Bindungsfähigkeit. Darüber hinaus fällt besonders bei Akademikerinnen und Akademikern aufgrund verlängerter Ausbildungszeiten die Familiengründungsphase mit den entscheidenden Jahren des beruflichen Statuserwerbs zusammen.

Diesen schwierigen Spagat zwischen Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeit versucht die Familienforschung mit dem anschaulichen Begriff der rush hour of life einzufangen: Ein Lebensstau im schmalen Zeitfenster zwischen Ende 20 und Mitte 30, der gerade vor den gewonnenen Jahren im Alter umso paradoxer wirkt. Der siebte Familienbericht der Bundesregierung konstatiert zu Recht, dass die monetären Instrumente des Sozialstaates wie Kindergeld, Freibeträge und Elterngeld nur in Ansätzen Abhilfe schaffen können. Eine lebenslagenorientierte Sozialpolitik muss Familien neben Geld auch Zeit und Infrastruktur zur Verfügung stellen. Das starre deutsche Lebenslaufregime des männlichen Normalverdieners als klassische Abfolge von Ausbildung, Berufstätigkeit und Rente (das ja auf dem Arbeitsmarkt ohnehin unter Druck gerät), darf familienpolitisch nicht länger die bestimmende Bezugsgröße sein. Auch während der Ausbildungsjahre muss es möglich werden, Kinder zu erziehen. Der Wiedereinstieg ins Berufsleben nach sorgebedingten Auszeiten sollte für Eltern nicht nur unproblematisch, sondern auch flexibel und bedarfsgerecht zu gestalten sein, um nicht zwangsläufig in eine berufliche Sackgasse aus Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung zu münden.

Arbeitskräfte als knappe Ressource

Das gleiche gilt für die steigende Anzahl von Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen. Auch ohne Kinder brauchen Menschen Optionszeiten, um Sorgetätigkeiten oder zivilgesellschaftlichem Engagement nachzugehen. In einer alternden Gesellschaft werden nicht nur Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt zur knappen Ressource, sondern auch private Pflegekräfte. Hier liegen die Chancen der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die es familienpolitisch zu nutzen gilt; Männern und Frauen muss eine Erwerbstätigkeit gemäß ihrer sozialen Verpflichtungen ermöglicht werden. Um qualifizierte Fachkräfte zu halten, müssen Arbeitgeber zukünftig auch denjenigen Perspektiven bieten, die nicht dem Ideal des allzeit verfügbaren Mitarbeiters entsprechen können oder wollen. Eine familienbewusste Personalpolitik, die für Beschäftigte mit Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen Lösungen bietet, wird somit im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte zu einem zentralen Faktor. Auch die kommunale Infrastruktur sollte zusätzlich zum Ausbau von Kindertageseinrichtungen und Tagespflege familienfreundlicher gestaltet werden – von Spielplatzangeboten und einer engagierten Jugendförderung bis hin zu barrierefreien Gebäuden und ambulanten Betreuungseinrichtungen für Senioren – um Menschen aller Generationen zu unterstützen und zu entlasten, die Fürsorge leisten.

Der Weg in die kommunale Bildungslandschaft

Eine umfassend an Lebenslagen orientierte Politik stellt auch eine frühe kognitive Förderung von Kindern sicher. Sie gestaltet Schulen so, dass Lernerfolge nicht von den zeitlichen, materiellen und sozialen Ressourcen der Elternhäuser abhängig bleiben. Innerschulische Entwicklungspfade sollten offen und durchlässig gehalten werden. Gerade im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, lebenslang lern- und entwicklungsbereit zu sein, brauchen Kinder im schulischen Kontext genügend Zeit, um ihre Fähigkeiten zu entfalten und eventuelle Defizite zu kompensieren.

Im kommunalen Raum muss ein kohärentes Gesamtsystem von Bildung, Erziehung und Betreuung Realität werden: eine kommunale Bildungslandschaft. Hierfür hat der Deutsche Verein bereits weit reichende Vorschläge unterbreitet. Eine solche kommunale Bildungslandschaft kann entstehen, wenn alle am Prozess der Bildung, Erziehung und Betreuung beteiligten Akteure – von den Familien über Betreuungseinrichtungen und Schulen bis hin zu Jugendhilfe und lokaler Wirtschaft – ihre Angebote miteinander verschränken und zu einem konsistenten Gesamtsystem verschmelzen. Die Schule darf hinsichtlich der Bildung und Förderung von Kindern nicht allein gelassen werden, denn die frühe Förderung ist der Schlüssel zu einer selbstbestimmten und zukunftsorientierten Lebensgestaltung.

Die in einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen finanziell geförderten Familienzentren sind ein Schritt in die richtige Richtung. Nach dem Vorbild der britischen Early Excellence Centres werden Kindertageseinrichtungen gezielt zu kommunalen Knotenpunkten der Kinderförderung und Elternbildung ausgebaut. Die Sicherung einer umfassenden kommunalen Bildungslandschaft, die den Bedürfnissen von Kindern und damit langfristig auch den Herausforderungen des demografischen Wandels gerecht werden kann, bildet die Basis einer an Lebenslagen orientierten sozialen Politik. Hier sind besonders die Bundesländer und die Kommunen in der Pflicht.

Eine weitere sozialpolitische Herausforderung entsteht dort, wo Menschen den Anforderungen fortschreitender Spezialisierung, projektförmiger Zusammenarbeit oder zunehmender Qualitätsstandards auf flexibilisierten und dynamisierten Arbeitsmärkten nicht gewachsen sind. Wo sie die damit einhergehenden Anforderungen als Bedrohung und Überforderung erleben oder aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen kaum noch Vermittlungschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Nicht selten geraten Betroffene wie Mitarbeiter der Arbeitsverwaltungen in einen zwar gesetzlich intendierten, jedoch entwürdigenden Prozess von Daueraktivierung und ziellosen Maßnahmenkarrieren.

Der Mangel entsteht bei den Fachkräften

Auf das Ausmaß dieses Problems deuten unter anderem die niedrigen Vermittlungsraten von Leistungsbeziehern nach dem SGB II in den ersten Arbeitsmarkt hin: Sie liegen bei unter 5 Prozent. Darüber hinaus sind sich Ministerien und Experten darüber im Klaren, dass neben den offiziellen Arbeitslosen eine annähernd ebenso hohe Zahl von Menschen zwar Arbeitslosengeld bezieht, in der Statistik aber nicht als arbeitslos geführt wird. Hierzu zählen beispielsweise Ein-Euro-Jobber, Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen oder Menschen, die über 58 Jahre alt sind.

Diese Situation wird sich auch durch den demografisch bedingten Mangel an Arbeitskräften nicht entschärfen. Denn aufgrund der konstanten Zahlen von Hochschulabsolventen einerseits und einem ausgeschöpften Arbeitsmarkt im Niedriglohnsektor andererseits entsteht der Mangel hauptsächlich im Segment der dual ausgebildeten Fachkräfte. Angesichts des stark segmentierten Arbeitsmarktes ist nicht davon auszugehen, dass Menschen mit Vermittlungshemmnissen dort ohne Schwierigkeiten Zugang finden werden.

Woran die Demografie nichts ändern wird

Wo trotz aller Bemühungen aus strukturellen oder persönlichen Gründen eine dauerhafte Vermittlung jenseits befristeter Maßnahmen unmöglich bleibt, stellt sich die Frage nach sinnvollen und Anerkennung verschaffenden Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlichen Leben jenseits einer Erwerbsarbeitsbeteiligung. Voraussetzung für eine solche politische Perspektive wäre zunächst ein Abschied von der alleinigen Fixierung auf Vermittlungszahlen in der Annahme, Vollbeschäftigung erreichen zu können. Es hieße selbstverständlich nicht, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt aus den Augen zu verlieren, sondern trüge zu einer Entlastung des gesamten Vermittlungsprozesses bei.

Eine an Lebenslagen orientierte Politik muss sich an dieser Stelle eingestehen, dass Arbeitslosigkeit eine strukturell bedingte und individuell erlebte Tatsache darstellt, zu deren Überwindung bisweilen weder die persönlichen Ressourcen der Betroffenen noch die amtlicherseits bereitgestellten Mechanismen eines zweiten oder dritten Arbeitsmarktes ausreichen. Daran wird auch der demografische Wandel nicht viel ändern. Diese Erkenntnis könnte nicht nur das individuelle Empfinden von Aussichtslosigkeit reduzieren, sondern würde auch einen ernsthaften Weg eröffnen, über die (Neu-)Gestaltung des lokalen Zusammenlebens in einer alternden Gesellschaft nachzudenken. Ein Zusammenleben, das Raum bietet für gemeinschaftliche Tätigkeiten in der Pflege, der Seniorenbetreuung oder zur Aufrechterhaltung kommunaler Infrastrukturen.

Erfahrung als wertvolle Ressource

Dies bedeutet nicht zu akzeptieren, dass Menschen beispielsweise allein aufgrund ihres Alters gezielt von Unternehmen aus dem Arbeitsprozess aussortiert werden, unterstützt durch Regelungen zu Altersteilzeit und vorgezogenem Ruhestand. Diese Praxis steht nicht nur in einem paradoxen Verhältnis zum Appell an Aktivität und Eigeninitiative, sondern zieht auch fatale Folgen für das System der umlagefinanzierten kollektiven Altersvorsorge nach sich. Vielmehr zeigen die Berechnungen zur demografischen Entwicklung deutlich, dass es in den kommenden beiden Jahrzehnten gelingen muss, das gegenwärtige durchschnittliche Renteneintrittsalter von 63 Jahren weiter nach hinten zu verschieben. Langfristig wird es nicht allein eine Frage der sozialen Verantwortung der Arbeitgeber bleiben, älteren Arbeitnehmern länger einen adäquaten und ihrer Lebens- und Leistungssituation angemessenen Arbeitsplatz zu bieten. Vielmehr könnte sich deren Sachkenntnis schon bald zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil entwickeln. Anstatt ältere Mitarbeiter also leichtfertig aus dem Arbeitsmarkt herauszubefördern, sollte ihre Erfahrung als wertvolle Ressource genutzt werden. Sonst wird es mit den bisherigen Kürzungen für die mittleren und jüngeren Generationen nicht getan sein.

Außerdem schließt sich bei der solidarischen Altersversorgung der Kreis zur oben angesprochenen schwierigen Vereinbarkeit von Kinderfürsorge und Erwerbsarbeit, die nicht nur Auswirkungen auf die Lebenssituation potenzieller junger Eltern hat, sondern gleichzeitig auf das Niveau ihrer Absicherung im Alter. Wenn in den kommenden Jahrzehnten nicht deutlich mehr Kinder geboren werden, werden der weiter ansteigende Altersdurchschnitt und die sinkenden Bevölkerungszahlen die Aussichten auf eine verlässliche materielle Absicherung des Alters verdüstern; zukünftige Rentnergenerationen haben trotz höherer Beiträge deutlich niedrigere Zahlungen zu erwarten, zumal sich die Lebensphase des Ruhestands weiter verlängern wird.

Das „produktive Alter“ gesellschaftlich nutzen

Es kommt auf die kulturelle Definition dieser gewonnenen Jahre an, also der Lebensperiode zwischen dem Austritt aus dem Erwerbsleben und der Hochaltrigkeit. In dieser Phase des „produktiven“ Alters sind Senioren zunehmend bereit, soziale Unterstützungsaufgaben wahrzunehmen, die gerade junge Eltern und pflegende Angehörige in der oben beschriebenen verdichteten Lebensphase der Familiengründung benötigen. Die Zeitknappheit der mittleren Generation in der rush hour of life ließe sich so durch das zivilgesellschaftliche Engagement von Senioren entzerren, die ihrerseits vom Austausch mit Kindern oder Pflegebedürftigen bereichert werden. Ob sich die vom Bund neu geschaffenen Mehrgenerationenhäuser als dauerhafte und belastbare Vernetzungsinstitutionen zwischen den Generationen etablieren können, wird sich erweisen müssen. Eine an Lebenslagen orientierte Politik setzt somit einen erweiterten Arbeitsbegriff voraus, der auch jenseits der aktiven Erwerbsjahre die ehrenamtliche und familiale Sorge für andere als produktive und gesellschaftlich unerlässliche Arbeit anerkennt.

Nun sind politische Gestaltungsaufgaben eine Sache, sie können aber nicht im luftleeren Raum stattfinden. Die hier umrissene lebenslagenorientierte Weiterentwicklung sozialer Politik kann vor dem Hintergrund des demografischen Wandels nur im intensiven Dialog zwischen dem Staat und den beteiligten Interessengruppen gelingen. Die Entscheidungsfindung der Legislative und die Auslegungspraxis der Exekutive profitieren von den vielfältigen Informationen und der Aushandlungsmacht organisierter Interessen. Sozialstaatliche Umbauprozesse bedürfen einer auf Kooperation und gegenseitiger Anerkennung beruhenden politischen Kultur. Erst dadurch werden sie langfristig konsensfähig. Es muss eine Selbstverständlichkeit bleiben, weit reichende sozialpolitische Entscheidungen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu fällen. Der abstrakte Bezugspunkt des „Gemeinwohls“ bezeichnet letztlich nichts anderes als einen dauernden Dialog und das ständige Ringen um die angemessenen Formen zukünftigen Zusammenlebens in einer alternden Gesellschaft. Dieser Aufgabe müssen wir uns vor dem Hintergrund der oben erwähnten kritischen Schnittstellen zwischen Lebenslagen und sozialpolitischen Arrangements mutig stellen.

Familiäre Pflichten sind kein Makel

Der demografische Wandel erfordert somit auch einen Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen, im Zuge dessen familiäre Verpflichtungen aller Generationen (sei es die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen) nicht mehr als Makel oder Beeinträchtigung beruflicher Verfügbarkeit wahrgenommen werden, sondern als unverzichtbare Leistungen zur Generierung von Humanvermögen und zur Sicherung des Gemeinwesens. Gleichzeitig muss das Bewusstsein wachsen, dass es eine öffentliche Aufgabe bleibt, Kindern ein Bildungssystem bereitzustellen, das in der Lage ist, notwendige Qualifikationen unabhängig von der sozialen Herkunft verlässlich zu vermitteln. Weiterhin bedarf es des Schutzes gemeinschaftlicher Netzwerke vor den Konkurrenzverhältnissen des Arbeitsmarktes. Die Anerkennung einer Person und der Schutz des Selbstbildes dürfen nicht von ihrer Integration in den Arbeitsmarkt abhängen. Darüber hinaus darf die biografische Phase des Alterns nach Ende der Erwerbsarbeit vor dem Hintergrund der demografischen Probleme der umlagefinanzierten Rentenversicherung nicht in einen Strudel der Abwertung geraten.

zurück zur Person