Was für ein Europa wollen Europas Sozialdemokraten?

»Mehr Europa« lautet eine gängige sozialdemokratische Forderung. Was damit gemeint ist, bleibt oft unklar. Die Arbeit an einem gemeinsamen europäischen Grundsatzprogramm bietet die Chance zu größerer Klarheit - und die könnte auch den einzelnen sozialdemokratischen Parteien nützen

Die europäische Sozialdemokratie ist in der Defensive. Die zur Jahrhundertwende noch überwiegend in sattem Rot gefärbte politische Landkarte Europas ist schrittweise geschwärzt worden. In den 27 EU-Staaten sind Sozialdemokraten inzwischen nur noch an 8 Regierungen beteiligt. Auch die Europawahlen von 2009 waren ein schwerer Schlag: Die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament wurde radikal verkleinert; nur sechs Mitglieder der Kommission gehören jetzt noch der linken Parteifamilie an. Die Zeit scheint vorbei, in der Sozialdemokraten in ganz Europa taktgebend waren, die Diskurse bestimmten und beherrschten. Sie ging endgültig zu Ende mit Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch die Sozialdemokratie nicht kommen sah und gegen die erst viel zu spät Schutzwälle in Form von vor allem staatlichen Finanzspritzen errichtet werden sollten. Die Finanzkrise mutierte zunächst zur Wirtschaftskrise und dann zu einer Krise der europäischen Staatshaushalte, in deren Folge Europa mit einem Austeritätsregime überzogen wurde.

In vielen Ländern ist die soziale Demokratie nicht mehr mit der politischen Bewegung der Sozialdemokratie deckungsgleich. Die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa stehen vor denselben Herausforderungen: Sie müssen auf die Auflösung klassischer Wähler- und Mitgliederstrukturen reagieren und zugleich dem Druck neuer rechtspopulistischer Bewegungen, weichgespülter Konservativer und Parteien links der Sozialdemokratie begegnen. Es ist dringend nötig, den an seine Grenzen gestoßenen „Dritten Weg“ durch eine neue sozialdemokratische Erzählung abzulösen. Bis zum Ausbruch der Krise hatte „New Labour“ in vielen Sozialdemokratien Europas den Zeitgeist bestimmt. Allzu unkritisch waren Leitbilder wie „Individualisierung“, „Markt“ und „konditionierte Solidarität“ übernommen worden. Als der Ernstfall eintrat, hat die Wählerschaft diesen Kurs nicht länger goutiert. Die Suche nach einem neuen sozialdemokratischen Leitbild ist im vollen Gange. Diese notwendige Neuaufstellung auf nationaler Ebene fällt zusammen mit der Formulierung einer adäquaten Antwort auf die gewachsenen transnationalen Herausforderungen.

Schonungslos hat die Krise in der Währungsunion die strukturellen Schwachstellen und Mängel des ökonomischen Integrationsprozesses der EU aufgedeckt. Der lang gehegte, doch in politischer Verantwortung kaum verwirklichte sozialdemokratische Wunsch einer veritablen sozialen Dimension gleichen Umfangs wie die weit fortgeschrittene Wirtschaftsintegration hat sich nicht erfüllt. Stattdessen werden in der EU heute die unzureichende politische Koordinierung, die extremen wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die Verfestigung des Wettbewerbs der Mitgliedsstaaten um die beste Adaption ihrer Sozialsysteme an das Marktgeschehen sichtbar. Diese Mängel zeugen von der Notwendigkeit eines neuen politischen Ansatzes zur Überwindung der sozioökonomischen Heterogenitäten in Europa.

Die Größe der EU und ihre wachsende Bedeutung und Mitsprache in den verschiedenen Politikbereichen der Mitgliedsstaaten erlaubt es nicht länger, Fragen zur Zukunft des Staatenverbunds zu tabuisieren, zu ignorieren oder weiterhin auf die Kraft der Integration der kleinen Schritte zu vertrauen. Die Bürger Europas verlangen von den politischen Akteuren Auskunft darüber, wohin die Reise geht.

Andere Länder, andere Sitten

Im Zeitalter der Globalisierung, der Transnationalisierung ökonomischer und politischer Risiken sind die Regulierung und soziale Ausgestaltung des Kapitalismus jenseits des Nationalstaats im europäischen Kontext unabdingbar. Sie stellen das zentrale Aufgabenfeld für die Sozialdemokratie dar. Diesem Gestaltungsauftrag können sich die europäischen Sozialdemokratien nicht entziehen. Seine Einlösung ist zugleich zukunftsweisend für die EU.

Jedoch stehen verschiedene Faktoren der Formulierung eines gemeinsamen europapolitischen Leitbilds der Sozialdemokratie entgegen. Das Problem ist weniger die mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit eines kohärenten und koordinierten Vorgehens. Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) arbeitet ebenso wie die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament seit Jahren an Initiativen zur Betonung der Gemeinsamkeiten und zur Herstellung abgestimmter Positionen. Dass alle Mitgliedsparteien der SPE zu den Wahlen des Europäischen Parlaments 2009 ein gemeinsames Manifest mittrugen, war Ausdruck eines zunehmend integrierten Prozesses, der im Jahr 2009 erstmals mehr hervorbrachte als den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die Hürden für eine europapolitische Strategie aus einem Guss haben ihre Ursache in den teilweise divergierenden gewachsenen Strukturen der Mitgliedsparteien und ihrer spezifischen Umgebung. Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas haben unterschiedliche Profile. Nicht nur ihre jeweiligen Entstehungsgeschichten, Mitgliederstrukturen und Organisationsprinzipien, sondern auch ihre Einbettung in die jeweilige politische Kultur, in das Wahlsystem und den öffentlichen Diskurs variieren erheblich. So agieren die Parteien in voneinander abgegrenzten „Welten“ des Wohlfahrtsstaatskapitalismus. Unterschiedliche wirtschaftliche Produktionsmodelle und sozialstaatliche Organisationsprinzipien erfordern von der Sozialdemokratie auf die einzelnen Wohlfahrtswelten zugeschnittene, spezifische Antworten. Ebenso hegen die Parteien unterschiedliche normative Erwartungen im Hinblick auf ein Europäisches Sozialmodell sowie auf die Finalität der Europäischen Union. Während die einen eine föderale politische Union anstreben, beurteilen die anderen die zunehmende Europäisierung zentraler Politikbereiche kritisch bis abwehrend.

Doch damit nicht genug: Die Krise der Wirtschafts- und Währungsunion befördert in allen Gesellschaftsschichten die Skepsis gegenüber den Errungenschaften der europäischen Integration. Die EU kämpft mit der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz der Gemeinschaft im Inneren. Das vermeintlich ferne Brüssel erscheint vielen Bürgern als undemokratisch oder gar als trojanisches Pferd der marktradikalen Globalisierung. Europaskepsis ist heute weit verbreitet; viele sehen ihr Heil wieder im Nationalstaat. Europa ist schon lange kein politisches Gewinnerthema mehr. Als Friedensprojekt: längst etabliert. Als Wirtschaftsraum: an innere Grenzen stoßend. Als Stimme in der Welt: in Entwicklung. Als Wohlstandsversprechen: auf halbem Weg stecken geblieben. „Ach, Europa!“ Indes bietet die Renaissance des Nationalstaats für die handfesten Probleme in einer Welt mit neuen internationalen Machtstrukturen und wechselseitigen Abhängigkeiten keine Lösungen.

Ein Minimalkompromiss wäre zu wenig

In dieser Situation ist es die Aufgabe der Sozialdemokratie, den abwehrenden Diskurs zu durchbrechen und für „mehr Europa“ einzutreten – aus Einsicht in die Zusammenhänge und aus Verantwortung für die Zukunft. Freilich darf damit keine blinde Europa-Euphorie verbunden sein. Gerade die Krise in der Währungsunion zeigt, dass allzu oft unvollständige, nicht zu Ende gedachte Konstrukte auf die europäische Ebene durchgewunken wurden. Die Sozialdemokratie sollte stärker als bisher die Richtung bestimmen, in die sich die europäische Integration bewegt: Erstens müssen die Bürger demokratische Fortschritte in den staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensräumen der Gemeinschaft spüren können. Zweitens sollten wirksame ökonomische Kooperationsstrukturen vereinbart werden, die Nachhaltigkeit, Fortschritt und soziales Wachstum fördern sowie für eine gemeinschaftliche Balance und Regulierung der Wirtschafts- und Finanzsektoren Sorge tragen. Drittens muss die Europäische Union sozialpolitische Verantwortung und innereuropäische Solidarität gleichrangig zum Binnenmarktprinzip gewährleisten. Und viertens sollte sie das auf gemeinsamen Prinzipien und Werten basierende Profil der EU bei der Bewältigung ihrer globalen Aufgaben ins Werk setzen. Trotz der unterschiedlichen Perspektiven, Ansprüche und Wünsche für die Zukunft der Gemeinschaft in ihren Reihen kann Europas Sozialdemokraten auf diese Weise ein Beitrag zur Politisierung Europas gelingen.

Das in der SPE bereits angestoßene Projekt eines gemeinsamen Grundsatzprogramms der sozialdemokratischen Parteien Europas greift das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer verbindenden „Erzählung“ auf. Dieses Narrativ muss Rücksicht nehmen auf die existierenden Differenzen. Was genau meint die SPD, wenn sie eine politische Union und ein föderales Europa fordert und den Terminus der „Vereinigten Staaten von Europa“ in Erinnerung ruft? Was heißt es, wenn die französische PS über die Staatswerdung der EU nachdenkt, die Labour-Party in Großbritannien oder die SAP in Schweden aber die Souveränität der Mitgliedstaaten betonen? Die sozialdemokratische Europaerzählung muss – bei aller Vielfalt von Ansätzen, Situationen und Ansprüchen – einen roten Faden aufweisen, dem alle folgen können, der aber zugleich auf ein ambitioniertes Ziel zuläuft. Dabei besteht die Gefahr, einen bloßen Minimalkompromiss zu formulieren. Das wäre zu wenig. Es muss vielmehr um das ambitionierte Projekt gehen, grundsätzliche gemeinsame Überzeugungen und politische Perspektiven zum sozialen und demokratischen Europa der Zukunft zu bündeln. Solch ein europäisches Grundsatzprogramm wird nur dann überzeugen, wenn es abseits des politischen Tagesgeschäfts entsteht, längerfristige Ziele in den Blick nimmt und Konflikte nicht kaschiert, sondern nationale und parteispezifische Traditionen mit den gemeinsamen Überzeugungen und Grundsätzen austariert.

Ohne Selbstverständigung keine Erfolge

Als hilfreich könnte es sich dabei erweisen, dass die früher scharfe Trennung in skandinavische, konservative, liberale und rudimentäre Welten des Wohlfahrtsstaates innerhalb Europas im Schwinden begriffen ist. Zudem lässt sich ein Set übereinstimmender ökonomischer, sozialer und politischer Strukturmerkmale erkennen, mit denen sich die EU-Staaten – in ihrer Gesamtheit – von anderen Wirtschaftsräumen absetzen. Vor allem im Vergleich zum American Business Model oder Entwicklungen in Japan und Korea ließen sich dazu zählen: ein entwickelter und interventionsfähiger Staat; ein auf Steuern oder Beiträgen basierendes Sozialversicherungssystem; aktiv handlungsfähige Gewerkschaften mit gesellschaftspolitischem Gestaltungsanspruch; ein öffentliches Bewusstsein über die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit zur Erhaltung des sozialen Zusammenhalts; eine politische Kultur, in der Parteien aus der sozialdemokratischen Bewegung ihren Platz haben; ein Rechtssystem, das soziale Grundrechte und wirtschaftsdemokratische Elemente verankert; sowie eine Tradition längerfristig orientierter Unternehmensführung und gesellschaftlicher Verantwortung von Privateigentum.

Nur vereint wird die Sozialdemokratie in Europa ihre Chance wahrnehmen können, den selbst formulierten Anspruch zur Gestaltung von Europäisierung und Globalisierung einzulösen. Mit dem Projekt eines gemeinsamen Grundsatzprogramms wird hierfür ein europäisches Fundament gegossen, das sich auch auf die Positionierung und Profilierung in den jeweiligen nationalen Politikarenen positiv auswirken dürfte: Ja, unser Europa! «

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