Was fehlt, ist der Wille

In unserer krisengeschüttelten Zeit ist das Thema Offshore allgegenwärtig geworden. Vermögende Menschen verbergen viele Billionen ihres Geldes ebenso steuerfrei wie illegal in Verdunklungsoasen. Doch Regierungen und internationale Finanzorganisationen bleiben tatenlos. Warum eigentlich?

Den Begriff „Offshore“ hörte ich zum ersten Mal im Jahr 1992. Ich war damals Mitglied von AIESEC, einer internationalen Vereinigung junger Studenten der Wirtschaftswissenschaften, und wir hatten einen Referenten zu diesem Thema eingeladen. Der Dozent erklärte uns, dass nur eine sehr kleine Gruppe Superreicher ihre Vermögen in Steueroasen schafft. Spätestens ein Jahrzehnt später war klar, dass sich das Phänomen in Wirklichkeit längst zu einer Hydra ausgewachsen hatte. Unbestreitbar wirkte sich die Verlagerung von Kapital ins Ausland beträchtlich auf die Finanzierungssalden großer wie kleiner Staaten aus. Trotzdem galten Steuerparadiese weiterhin als abseitiges Thema. Selbst wer das Problem aus rein wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive behandeln wollte, musste sich umständlich rechtfertigen, kein Spinner, politischer Extremist oder Verschwörungstheoretiker zu sein.

Heute sind die führenden internationalen Zeitungen randvoll mit Geschichten über Offshore-Vermögen. In Frankreich fällt der ultrareichen Erbin eines Kosmetikkonzerns plötzlich auf, dass sich die Hälfte ihres Vermögens in der Schweiz befindet. Ein weltbekannter Schauspieler entscheidet sich dafür, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen, um den vom französischen Präsidenten geplanten höheren Steuern auf Spitzeneinkommen zu entgehen. Ein deutsches Landessteueramt kauft im Ausland gestohlene CDs mit Daten deutscher Steuerhinterzieher. Der Bundesfinanzminister streitet mit Vertretern anderer EU-Mitgliedsstaaten über die Frage, ob und wie Steuerdaten ausgetauscht werden können. Einem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten wird vorgeworfen, er habe sein Vermögen im Ausland gebunkert. Der Vorsitzende einer großen britischen Partei ist Steuerbürger einer „Kronbesitzung“, die im Wesentlichen als Steueroase fungiert. Aus Wut über Steuervermeidung werden in Großbritannien die Fenster großer globaler Konzerne zertrümmert. Derweil laden das britische Oberhaus und das französische Parlament Firmenchefs zu Anhörungen ein: Sie wollen herausfinden, warum deren Unternehmen jahrzehntelang expandieren konnten, aber offiziell weiterhin Verluste einfuhren. Zypern wird unterstellt, jahrzehntelang Mittel aus anderen Volkswirtschaften abgeschöpft zu haben. Die EU wiederum zwingt reiche Kontoinhaber – viele von ihnen russische Oligarchen –, eine Krisensteuer zu entrichten. Der ehemalige griechische Premierminister sagt öffentlich, Griechenland wären seine Reformmaßnahmen erspart geblieben, wäre die Geldverlagerung ins Ausland gestoppt worden. Später wird ihm vorgeworfen, dass sich seine eigene Mutter auf einer Liste von Steuerhinterziehern befinde, die der ehemalige französische Finanzminister der griechischen Regierung übergibt. Das Dokument, gestohlen aus der Filiale einer Schweizer Bank, enthält die Namen Tausender mutmaßlicher Steuerhinterzieher.

Kurzum, in unserer krisengeschüttelten Zeit ist das Thema Offshore plötzlich allgegenwärtig. Nun könnte man meinen, dass die Regierungen und die wichtigen internationalen Finanzorganisation einen großen Teil ihrer Zeit damit zubringen, Offshoring zurückzudrängen und Steueroasen zu bekämpfen. Weit gefehlt. Die am häufigsten zitierte Studie über die globalen Auswirkungen von Offshore-Finanzen mit dem Titel The Price of Offshore Revisited aus dem Jahr 2012 kommt nicht etwa von der amerikanischen Regierung, der OECD, der EU oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Nein, sie stammt vom Tax Justice Network (TJN), einer angesehenen internationalen Nichtregierungsorganisation, die sich auf Steueroasen spezialisiert hat. Die Organisation wird von einem ehemaligen Offshore-Banker und einem ehemaligen McKinsey Chefökonomen geführt.

Der größte Investor in Indien ist Mauritius

Das TJN schätzt, dass vermögende Privatpersonen (die internationalen Konzerne ausgenommen) im Jahr 2010 rund 32 Billionen Dollar quasi steuerfrei in Verdunklungsoasen auf der ganzen Welt investiert hatten. Diese Summe entspricht ungefähr dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von Japan und den Vereinigten Staaten zusammen. Eine Untersuchung des amerikanischen Kongresses kommt zu dem Ergebnis, dass praktisch alle großen transnationalen Konzerne von aufwendigen Offshore-Konstruktionen Gebrauch machen. Viele von ihnen tun das in den Vereinigten Staaten selbst: Bundesstaaten wie Delaware oder South Dakota haben Modelle mit extrem niedrigen Steuersätzen entwickelt, um Firmen anzulocken. Zudem brachten große Unternehmensinsolvenzen aufwendige Offshore-Konstruktionen ans Tageslicht. Ein Beispiel ist die Pleite des Energiekonzerns Enron.

Aufgrund von Begriffen wie „Offshore“ und „Steuerparadies“ glaubt die Öffentlichkeit, das meiste Geld liege auf weit entfernten tropischen Inseln wie den Bermudas, Nauru oder den Cayman Islands. Dem widerspricht der renommierte Offshore-Experte und Autor des Bestsellers Treasure Islands, Nicholas Shaxson. Ihm zufolge sind die wichtigsten Offshore-Gebiete keineswegs nur esoterische Miniländer, die wir sonst nur aus Reisemagazinen kennen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Kleinstaaten spielen natürlich ihre eigene Rolle. Mauritius ist der größte ausländische Investor in Indien, Hong Kong in China, Zypern in Russland. Von Präsident Barack Obama stammt der berühmte Satz, in einem einzigen Gebäude auf den Cayman Islands namens Ugland House seien 12 000 Firmen registriert. Der Leiter der Finanzaufsichtsbehörde der Cayman-Inseln Anthony Travers soll darauf gesagt haben, unter dem Dach eines Hauses in Wilmington, der Hauptstadt von Delaware, seien 217 000 Unternehmen gemeldet.

Er legt den Finger in die Wunde: Zwei Drittel der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt, die sich auf der Fortune-Liste befinden, haben ihren Firmensitz in Delaware. Ebenso wie 90 Prozent der Firmen, die im Jahr 2007 neu an die Börse gegangen sind. Auch andere Industrienationen sind in die Welt des Offshoring verstrickt, darunter die Schweiz, Zypern, Luxemburg, Malta, Irland, Lettland und – vor allem – Großbritannien. Britische Kronbesitzungen wie Guernsey, Jersey, Gibraltar und Belize bilden, eng verwoben mit der City of London, ein komplexes Spinnennetz aus niedrigen Steuersätzen und strengen Bankgeheimnissen. Viele dieser Länder sind vollwertige EU-Mitgliedsstaaten mit Stimmrecht im Europäischen Rat. Es ist daher keine Überraschung, dass sich die EU im Kampf gegen Offshore-Vermögen als unwirksam erwiesen hat.

Kritikern von Steueroasen wird häufig entgegengehalten, das Kapital fließe deshalb ins Ausland, weil es in den Herkunftsländern zu hoch besteuert werde. Wenn die Regierungen wettbewerbsfähige Steuersysteme schafften, könnten sie auch mehr Steuern einbehalten. Diese Argumentation ist falsch. Kein Steuersystem ist in der Lage, mit Gebieten Schritt zu halten, in denen nahezu völlige Steuerfreiheit herrscht. Und kein westliches Land könnte seine Ausgaben finanzieren, wollte es mit Steuersätzen von 0,4 Prozent konkurrieren.

Wenn die schwarze Liste ein weißes Blatt ist

Auffällig ist, wie wenig Interesse internationale Finanzorganisationen an den Offshore-Finanzen haben – obwohl sie für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in der Eurozone möglicherweise wichtiger sind als jeder andere Faktor. Zwischen dem ersten Krisenjahr 2009 und 2012 stiegen die Staatsschuldenquoten – also die Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) – in den meisten Mitgliedsstaaten der EU an, so auch in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, Portugal oder Irland. Seltsamerweise erhöhten sich in Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien und Portugal bis 2011 (für 2012 liegen noch keine Zahlen vor) zudem die privaten Schulden im Verhältnis zum BIP, obwohl der Staat ja große Mengen der privaten Schulden absorbiert hatte. Somit ist ziemlich offensichtlich, dass das homöopathische Mittel der Sparpolitik nicht funktioniert. Die Verluste an öffentlichen Geldern durch die Krise wären mehr als ausgeglichen worden, hätten die Staaten die Kapitalverlagerungen ins Ausland eingedämmt.

Aber auch jetzt gilt: Es handelt sich hierbei um ein entscheidendes Mittel, um in der Eurozone und darüber hinaus wieder für finanzielle Stabilität zu sorgen. Zu den größten Offshore-Verlierern gehören laut Schätzungen des TJN Polen und Ungarn. Allein Ungarn sind seit den achtziger Jahren durch Steueroasen Einnahmen entgangen, die sich auf das zweieinhalbfache der enormen Staatsverschuldung belaufen. Kein Zufall, dass das Land seit zwei Jahrzehnten fortwährend um Stabilität ringt.

Die Verlagerung von Kapital in Steuerparadiese ist ein weltweites Problem. Das TJN schätzt, dass auf jeden Dollar Entwicklungshilfe nach Afrika zehn Dollar kommen, die die lokalen Eliten in westliche Steueroasen transferieren. Bekanntlich existieren in respektierten Staaten der ersten Welt Geheimkonten von Leuten wie Husni Mubarak, russischen Oligarchen und Massenmördern aus der ganzen Welt.

Das TJN legt seine Methode zur Schätzung von Größe und Auswirkungen der Vermögensverlagerungen offen. Zudem gibt das Netzwerk einen Überblick über Forschungsergebnisse anderer Organisationen, die sich mit dem Thema beschäftigen: Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich besitzt einige einschlägige Daten, da das Offshoring meist nicht über zwielichtige Finanzklitschen in gescheiterten Staaten abläuft, sondern über die bekannten, weltweit operierenden Großbanken. Die einzige Schätzung des IWF ist hingegen eine Angabe aus dem Jahr 2000, der keine klare Methodik zugrunde liegt. Die OECD schätzte die Offshore-Vermögen Anfang 2009 auf 11 Billionen Dollar, aber ebenfalls ohne klare Methode. Ende 2009 ging die Organisation wieder dazu über, lediglich die Schätzungen anderer zu zitieren. In dem Jahr war die schwarze OECD-Liste der Steuerparadiese ein weißes Blatt! Die Offshore-Gebiete hatten Abkommen über den Austausch von Steuerdaten unterschrieben – und waren im Gegenzug von der schwarzen OECD-Liste gestrichen wurden. Diese mit großer Umsicht ausgearbeiteten Abkommen schreiben vor, dass die Steuerbehörden nur dann Daten von den „kooperierenden“ Gebieten erhalten, wenn sie genau angeben können, welche Daten sie suchen. Kein Wunder, dass keine effektiven Informationen ausgetauscht wurden. Aber die schwarze Liste wurde bereinigt.

Fachleute sind sich einig, dass es den Regierungen und wichtigsten internationalen Organisationen nicht an Mitteln fehlt, das Offshoring unter Kontrolle zu bringen. Was ihnen fehlt, ist der Wille dazu.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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