Was die Welt zusammenhält

Ulrich Menzel vermisst auf über 1200 Seiten nicht weniger als die Vergangenheit und Zukunft unseres Globus

Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel hat sich einiges vorgenommen. In seinem Opus Magnum über die Ordnung in der Staatenwelt will er nichts Geringeres aufzeigen, als „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und der Suhrkamp Verlag, in dem der gut 1200 Seiten starke Band erschienen ist, verspricht dem Leser ein „Standardwerk über die Vergangenheit und Zukunft unseres Globus“. Entsprechend hoch sind die Erwartungen. Und sie werden nicht enttäuscht, wenngleich die Lektüre aufgrund zahlreicher Fallstudien, einem hohen Grad an Differenzierung und der einen oder anderen Wiederholung bisweilen kräftezehrend ist.

Belohnt wird man mit einem Erkenntnisgewinn über das Funktionieren der internationalen Staatenordnung, der über die mitunter starren Schemata der Theorien in den Internationalen Beziehungen hinausreicht. Denn wie so oft erweist sich die Wirklichkeit als ein gutes Stück komplexer, als typologische Unterscheidungen es nahelegen – das zeigt der Abgleich, den Menzel zwischen seinen konzeptionellen Kategorien Imperium und Hegemonie und den historischen Entwicklungen zwölf großer Mächte in den vergangenen 1 000 Jahren vornimmt.

Die Hierarchie der Staatenwelt

In Ermangelung eines Weltstaates basiert die internationale beziehungsweise neuerdings globale Ordnung auf Hierarchie. Diese „Hierarchie der Staatenwelt“, so Menzel, wird seit über einem Jahrtausend von wechselnden großen Mächten geprägt, die entweder als Imperium oder als Hegemon die Geschicke der Welt bestimmt haben und weiterhin bestimmen. Während aber die Macht des Imperiums primär auf militärischer Überlegenheit gründet, erweist sich die Vormachtstellung von Hegemonialmächten als deutlich umfassender und damit stabiler. Sie basiert neben der militärischen Dominanz zugleich auch auf wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlich-technischer und kultureller Stärke.

Dazu kommt, dass im Fall hegemonialer Macht der private Akteur – etwa in Form von Unternehmen – im Vordergrund steht, bei Imperien hingegen der Staat selbst beziehungsweise die Armee der dominierende Faktor ist. Anders als bei Imperien, die sich über Zwang und Gewalt legitimieren, beruht die Stabilität des Hegemons auf Akzeptanz, sowohl seitens der eigenen Bevölkerung wie auch der übrigen Staatenwelt, zumal die damit verbundenen Vorteile die Nachteile der Abhängigkeit überwiegen, etwa bei der Gewährleistung von Sicherheit oder den Möglichkeiten wirtschaftlicher Entfaltung.

Beispielhaft für eine solche Verflechtung sind die engen Beziehungen zwischen dem Hegemon USA und den Staaten des westlichen Europas seit Ende des Zweiten Weltkrieges, die mit Beilegung des Ost-West-Konfliktes auch auf Mittel- und weite Teile Osteuropas übertragen wurden – wobei die Amerikaner, das nur am Rande, es zunehmend leid sind, die Kosten für die internationale Sicherheit größtenteils alleine stemmen zu müssen.

Allerdings lässt sich die Unterscheidung zwischen Hegemon und Imperium nicht immer trennscharf vornehmen; die Übergänge sind fließend und Mischformen der Normallfall. Das ist der zentrale Befund, den Menzel im Hauptteil seines Buches, einer eingehenden Schilderung der historischen Entwicklung großer Mächte von der chinesischen Song-Dynastie (960–1204) bis hin zum britischen Empire (1692–1919) und der ersten wirklich global agierenden Macht, den Vereinigten Staaten (seit 1898), eindrucksvoll darlegt.

Von einer typologischen Dichotomie kann demnach in der Praxis keine Rede sein. Stattdessen wiesen (und weisen) vermeintlich typische Hegemonialmächte wie Großbritannien oder die USA immer auch imperiale Züge auf. Das zeigten das militärische Vorgehen der Amerikaner im Irak und in Afghanistan sowie das britische Auftreten in Indien oder während des Burenkrieges. Und umgekehrt verfügten scheinbar klassische Imperien wie das Mongolenreich, dessen Dominanz auf der Überlegenheit seiner Reiterheere beruhte, stets auch über hegemoniale Komponenten, beispielsweise wenn es darum ging, mit der Sicherung des Fernhandels ein Gut zur Verfügung zu stellen, von dem auch alle anderen Mächte profitierten.

Wenn allerdings Hegemonien auf imperiale Instrumente zurückgreifen – sprich: auf (militärischen) Zwang –, dann sei dies stets auch ein Indiz für deren Schwäche, da offenkundig die „natürliche“ Führerschaft des Hegemons nicht mehr von allen akzeptiert werde.

Ein besonderes Augenmerk legt Menzel darum auf die Frage nach den Bedingungen für den Aufstieg und Niedergang großer Mächte. Darüber ist in den vergangenen Jahren bereits einiges Bemerkenswerte geschrieben worden. Als ein entscheidendes Merkmal des Aufstiegs definiert Menzel – und zwar übereinstimmend für alle untersuchten Fälle – die Fähigkeit zu Innovationsleistungen, die sich qualitativ deutlich von denen konkurrierender Mächte abheben.

Aufstieg und Niedergang

Diese Innovationen seien mitunter so tiefgreifend gewesen, dass man sie nachträglich als „Revolutionen“ bezeichnet habe: zum Beispiel die „Kavallerierevolution“ der Mongolen als Voraussetzung für die Eroberung großer Landmassen; die „kommerzielle Revolution“ der oberitalienischen Fernhandelsstädte Genua und Venedig; oder die „konstitutionelle“ und später „industrielle Revolution“, deren Ursprünge beide Male in Großbritannien lagen. Die „digitale Revolution“, losgetreten in den USA im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, dürfte ebenfalls in diese Reihe gehören, auch wenn Menzel sie nicht gesondert erwähnt.

Im Umkehrschluss haben die Mächte an Vormachtstellung eingebüßt, deren Innovationsfähigkeit nachgelassen hat (das „Skleroseargument“ ist laut Menzel besonders bei wohlhabenden Gesellschaften nicht von der Hand zu weisen) beziehungsweise deren technische, wirtschaftliche, politische und nicht zuletzt militärische Fähigkeiten von anderen Staaten überflügelt worden sind. So war der Abstieg Venedigs im 15. Jahrhundert nicht zuletzt der mangelnden Innovationsfähigkeit im Schiffbau geschuldet, wodurch den Venezianern – anders als den Konkurrenten aus Portugal und später den Niederlanden – die wichtigen Handelspassagen nach Indien und Amerika verschlossen blieben.

Begleitet wurde der Verlust an Innovationskraft oft von einer territorialen Überdehnung des Staatsgebietes, was zur Folge hatte, dass sowohl die Verwaltung als auch die Sicherung der Peripherieregionen nicht mehr reibungslos zu bewerkstelligen war. Das Ende des osmanischen Reiches in Südosteuropa – aber auch anderswo – ist ein Beispiel dafür, wie eine Zentralgewalt dem Ansturm äußerer Kräfte auf Dauer nicht standhalten konnte.

Wie das »Spiel« weitergeht

Anders als vom Verlag auf dem Buchrücken angekündigt, fällt der Ausblick in die Zukunft eher knapp und zudem auch recht konventionell aus. Menzel geht davon aus, dass uns die Pax Americana, also die globale Vormachstellung und damit Ordnungsfunktion der Vereinigten Staaten, noch für einige Zeit erhalten bleiben wird. Zwar hätten die kriegerischen Verstrickungen im Mittleren Osten durchaus imperiale Züge aufgewiesen, gleichwohl seien die militärische und technologische Dominanz des Landes weiterhin unangefochten, von der weltweiten kulturellen Hegemonie des american way of life ganz zu schweigen.

Dennoch steht für Menzel außer Frage, dass das „Spiel“ der aufeinanderfolgenden großen Mächte, die das Weltgeschehen dominieren und gestalten, weitergehen wird. Aussichtsreichster Nachfolgekandidat der Vereinigten Staaten ist demnach China, das, sollte es in absehbarer Zeit zu einem „hegemonialen Ausscheidungskampf“ kommen (Menzel nennt die Jahreszahl 2035, was zu früh angesetzt sein dürfte), allenfalls in Indien einen ebenbürtigen Herausforderer finden dürfte.

Europa? Wird ein historischer Statist

Und Europa? Der „alte Kontinent“ spielt in Menzels Buch allenfalls noch die Rolle eines historischen Statisten. Als zentraler politischer Akteur auf globaler Ebene wird er in absehbarer Zeit kaum mehr in Erscheinung treten. Weder ist Europa militärisch in der Lage, einen gestalterischen Beitrag zur Lösung weltweiter Krisen zu leisten, noch springen einem wesentliche technologische Innovationen ins Auge, die in den vergangenen Jahrzehnten aus Europa heraus generiert worden wären. Sicherheitspolitisch ist die Abhängigkeit von den Fähigkeiten Amerikas ungebrochen; wirtschaftspolitisch wächst die Anbindung an China rasant.

Positiv formuliert ließe sich daraus der Anspruch ableiten, eine wichtige vermittelnde Instanz im sich abzeichnenden Wettstreit zwischen dem amerikanischen und chinesischen „Weltsystem“ einzunehmen. Damit das gelingt, müsste aber erst einmal sichergestellt werden, dass es in Zukunft überhaupt noch ein geeintes Europa gibt, das diese Aufgabe mit einer Stimme wahrnehmen kann.

Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt: Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, Berlin: Suhrkamp 2015, 1229 Seiten, 49,95 Euro

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