Warum die Revolution vermutlich ausfällt

Robert Menasse tut Europa mit seinem Pamphlet keinen Gefallen

Eigentlich wollte Robert Menasse ja einen Roman schreiben. Dieser sollte in Brüssel spielen, die Hauptfigur sollte ein Beamter der Europäischen Kommission sein. Dafür reiste er im Jahr 2010 nach Brüssel, nahm sich eine Wohnung, akkreditierte sich als Journalist und begab sich unter die Bürokraten, Politiker und Lobbyisten „Europas“. Herausgekommen ist schließlich kein Roman, sondern eine rund 100 Seiten schmale Streitschrift. Menasse argumentiert darin für ein geeintes Europa und gegen die Partikularinteressen der Nationalstaaten. Dagegen ist nichts einzuwenden; das Problem ist jedoch, dass Menasse – unter konsequenter Ausblendung der politischen Realitäten – ein Europa entwirft, das sich über weite Strecken als anti-demokratisches Elitenprojekt herausstellt.

Menasse formuliert pointiert, man könnte auch sagen: holzschnittartig. Auf der einen Seite stehen die Guten, die Beamten der Europäischen Kommission. Sie sind die echten Europäer: gebildet, hochqualifiziert, polyglott, flexibel und zu alledem noch unkorrumpierbar der europäischen Sache verpflichtet. Selbst für den dahinter stehenden Brüsseler Bürokratieapparat findet Menasse warme Worte: „transparent“, „schlank“, „sparsam“ und obendrein für das Gemeinwesen ungemein „billig“! Dieser Elite der europäischen Bürokratie, der nur die Besten der Besten angehören (schließlich durchlaufen sie einen „komplizierten dreistufigen Concours“, bei dem, zumindest in Menasses Welt, Parteien- und Länderproporz keine Rolle spielen), stehen kleingeistige „Provinzpolitiker“ und mächtige Beamtenapparate in den EU-Mitgliedsstaaten gegenüber, die, da stets nur auf den nächsten Wahltermin schielend, ausschließlich nationale Eigeninteressen verfolgen und so dem Ideal eines geeinten Europas diametral entgegenwirken. Der Prototyp eines solchen taktierenden „Provinzpolitikers“ ist in Menasses Augen Angela Merkel, was man unter anderem an deren kleinlicher und anti-europäischer Positionierung bei der Rettung Griechenlands erkennen könne. Ein Weltstaatsmann wie Robert Menasse, davon darf ausgegangen werden, hätte hier zum ganz großen Wurf ausgeholt – an dem er den Leser im Detail dann aber leider doch nicht teilhaben lassen will.

Ausgerechnet Kohl als großes Vorbild

Regelrecht skurril wird es schließlich, wenn Menasse Merkel ausgerechnet Helmut Kohl als Positivbeispiel und Vorzeigeeuropäer gegenüberstellt. Zeigen doch gerade die aktuellen Ereignisse und allen voran die Krise in Griechenland, dass es nicht zuletzt ganz grundlegende handwerkliche Fehler waren, die maßgeblich für die jüngsten Fehlentwicklungen in der Europäischen Union mitverantwortlich sind. Dies gilt besonders für die Währungsunion, deren Verwirklichung getrieben war vom Wunsch nach immer mehr Europa – ein Wunsch übrigens, der insbesondere bei Kohl stets aufs Engste an nationalstaatliche Interessen geknüpft war, Stichwort: Deutsche Einheit.

Doch damit nicht genug. Hand in Hand mit den dunklen Mächten der – das nur nebenbei: demokratisch gewählten! – Politiker in den EU-Staaten gehen die nationalen Medien, die von Menasse als willfährige Erfüllungsgehilfen der Politik dargestellt werden. Gegen die subtil organisierte öffentliche Hetze komme selbst der gebildete Bürger nicht mehr an, was in der Folge dazu führe, dass die „Demokratie gemeingefährlich“ werde.

Menasses Vorschlag zur Lösung des Problems: Anstelle nicht-funktionierender nationalstaatlicher Demokratien, die die „Demokratisierung der EU verhindern“, sei die „schrittweise Annäherung an eine wirklich europäische Demokratie“ angezeigt. Worauf eine solche „wirklich europäische Demokratie“ jedoch aufbauen soll, wenn von einer gemeinsamen europäischen Identität der Bewohner Europas (noch) keine Rede sein kann und obendrein das nationalstaatliche Demokratiemodell als diskreditiert sowie als „ein Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert“ angesehen wird, bleibt – wie so vieles andere auch – offen. Menasse selbst räumt gegen Ende seines Essays ein, er wisse auch nicht, „wie das absolut Neue, eine nachnationale Demokratie, aussehen wird“.

Zweifellos ist Robert Menasse einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Und natürlich kann man sich darüber freuen, dass ein prominenter Intellektueller wie er die Frage nach der Zukunft Europas nicht allein den Ökonomen und Finanzwissenschaftlern überlassen will, wie das in den vergangenen Monaten meist der Fall war. Und auch gegen die Vision einer „nachnationalen Demokratie“ in Europa, die nicht länger an die Idee des Nationalstaats geknüpft sein muss, ist nichts einzuwenden. Vielmehr stellt der Weg hin zu dieser postnationalen Demokratie, der Menasse vorschwebt, ein Problem dar.

Weniger Demokratie? Keine gute Idee

Der Titel Der europäische Landbote ist eine Anlehnung an Büchners Der Hessische Landbote, mit dem 1834 die Bewohner des Großherzogtums Hessen von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt werden sollten. Die Revolution muss wahrscheinlich ausfallen. Denn leider hat sich Menasse mit seinem vermeintlich pro-europäischen Pamphlet verrannt. Mehr noch, er hat der europäischen Sache einen regelrechten Bärendienst erwiesen. Denn so viel ist klar: Die Demokratisierung des Friedens- und Freiheitsprojekts Europäische Union kann nicht über den Umweg eines – wie auch immer gearteten beziehungsweise zeitlich begrenzten – Rückbaus demokratischer Errungenschaften in den Mitgliedsstaaten erfolgen.

Robert Menasse, Der europäische Landbote: Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2012, 112 Seiten, 12,50 Euro

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