Vorwärts zur Agenda 2020!

Im Entwurf ihres neuen Grundsatzprogramms greift die SPD mit der Globalisierung, der Zukunft der Marktwirtschaft und der Reform des Sozialstaats die richtigen Themen auf. Aber die Partei muss auch die Kraft zum Reformieren mobilisieren

Als die SPD Anfang des Jahres 2006 die Leitlinien für ein neues Grundsatzprogramm vorlegte, war kaum absehbar, dass Deutschland sich eineinhalb Jahre später in einem robusten Aufschwung befinden würde – mit sprudelnden Steuerquellen, der Aussicht auf einen mittelfristig ausgeglichenen Haushalt und deutlichen Erfolgen am Arbeitsmarkt. Ist Deutschland also doch kein „Sanierungsfall“?

 

Ökonomen wissen, dass dieser Schluss voreilig wäre: Konjunkturell ist die Dynamik beträchtlich, aber strukturell ist noch viel zu tun: Das über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg gemessene Potenzialwachstum ist mit 1,5 bis 1,75 Prozent nach wie vor zu gering, um den Wohlstand in Deutschland dauerhaft zu sichern. Genau darin aber liegt die Verantwortung der Politik. Auf die Frage, wie sie ihr gerecht werden will, sollten Grundsatzprogramme Antworten geben.

 

Während die öffentliche Debatte um den Bremer Entwurf des neuen SPD-Programms etwas abgeklungen ist, geht die interne Arbeit der Programmkommission bis Mitte September in die entscheidende Phase. Aus Sicht der Wirtschaft sollte die Partei die Chance nutzen, einzelne Aussagen noch einmal zu überprüfen. Die Grundlage dafür ist gut – zentrale Aussagen des Programmentwurfs treffen den Kern. Nicht immer werden daraus allerdings die richtigen Schlüsse gezogen, bisweilen kommt es gar zu Widersprüchen.

 

Beispiel Globalisierung: „Die Globalisierung schafft Wachstum und Zukunftsperspektiven für die Menschen in reichen und armen Ländern“, heißt es im Bremer Entwurf, und weiter: „Deutschland gehört zu den Gewinnern der Globalisierung.“ Es wäre folgerichtig, auch die globalen Finanzmärkte als Element einer modernen Wirtschaftsordnung anzuerkennen, stattdessen schlagen die Verfasser des Entwurfs mit der Warnung vor einem „globalisierten Kapitalismus“ alte ideologische Schlachten.

 

Tatsächlich wäre die erfolgreiche Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ohne international agierende Finanzinvestoren so nicht möglich gewesen. Vielmehr haben diese – abgesehen von negativen Einzelfällen, die nicht verschwiegen werden sollen – dazu beigetragen, dass deutsche Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern konnten und gegenüber der weltweiten Konkurrenz heute wieder besser aufgestellt sind.

 

Sogar Andrea Nahles lobt die Agenda 2010

 

Beispiel Wirtschaftspolitik: „Wir müssen die Soziale Marktwirtschaft modernisieren, um sie zu erhalten“, erklärt die SPD zu ihrer Maxime – und knüpft damit programmatisch an die „Agenda 2010“ an. Deren positive Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung anzuerkennen, fordert inzwischen auch die designierte stellvertretende Parteivorsitzende Andrea Nahles.

 

Die Mehrheit der Deutschen sowie die Mehrheit der SPD-Anhänger ist überzeugt, dass den Reformschritten der „Agenda 2010“ weitere folgen müssen. Wie eine aktuelle Umfrage des Bankenverbandes zeigt, halten 84 Prozent der Bundesbürger die Reformen der letzten Jahre bei Gesundheit, Rente, Arbeitsmarkt und Steuern noch nicht für ausreichend. Unter den Bürgern mit einer Wahlpräferenz für die SPD sind 83 Prozent dieser Auffassung.

 

Die SPD sollte sich deshalb fragen: Warum nicht in die Offensive gehen? Warum nicht im neuen Grundsatzprogramm und dann zur Wahl 2009 mit einer „Agenda 2020“ antreten? Dies würde über die Partei hinaus signalisieren, dass die SPD schon einige Weichen richtig gestellt hat, damit zum gegenwärtigen Aufschwung beigetragen hat – und nun daran anknüpfen will. Ganz nach dem Motto: „Die Zukunft lässt sich auch mit sozialdemokratischer Politik gestalten.“

 

Das wäre eine in die Zukunft gerichtete Strategie. Maßnahmen wie Mindestlöhne, eine staatliche Industriepolitik oder die Instrumentalisierung der Europäischen Zentralbank, die ihre Zinspolitik auf Kosten der Preisstabilität ganz auf Wachstum und Beschäftigung ausrichten soll, würden ihr hingegen zuwider laufen. Leider findet sich all das aber im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms.

 

Es ist irreführend, den Staat im Sinne einer „strategischen und ökologischen Industriepolitik“ für einen „Pionier wirtschaftlichen Handelns“ zu halten. Warum sollte er einen Wissensvorsprung gegenüber privaten Unternehmen besitzen? Die Erfahrung zeigt, dass falsch verstandene Industriepolitik teuer ist und zu ineffizienten Strukturen führt, die Innovationen eher hemmen als fördern. Jeder Versuch, Deutschland durch die Protektion „nationaler Champions“ gegen die Globalisierung abzuschirmen, wäre zum Scheitern verurteilt. So würde nur der Wettbewerb behindert – die Stärkung des Standorts Deutschland verlangt genau das Gegenteil.

 

Was noch nicht so gut gelungen ist

 

Damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt, müssen die Systeme der sozialen Sicherung auf eine tragfähige Basis gestellt werden. Die SPD-Führung setzt dabei auf das neue Konzept des „vorsorgenden Sozialstaates“, das im Programmentwurf eine prominente Rolle einnimmt. Dieser Ansatz, richtig verstanden im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe, verdient Unterstützung. Und er deckt sich mit der Auffassung potenzieller SPD-Wähler: In der Umfrage des Bankenverbandes meinten 82 Prozent der Bürger mit einer Wahlpräferenz für die SPD, „die Menschen sollten sich nicht so sehr auf den Staat verlassen, sondern ihre Probleme stärker selbst in Angriff nehmen“. Zwei von drei SPD-Anhängern sehen in erster Linie den Einzelnen – und nicht den Staat – in der Pflicht, wenn es darum geht, den Wohlstand zu sichern.

 

Umso bedenklicher ist, dass es der SPD-Führung offensichtlich noch nicht gelungen ist, der Parteibasis das Konzept des vorsorgenden Sozialstaates nahezubringen – das hat die Mitgliederbefragung im Frühjahr gezeigt. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

 

Um das Leitbild des vorsorgenden Staates mit Leben zu füllen, setzt die SPD besonders auf die Familien-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Es verwundert nicht, dass die Partei versucht, gerade in diesen Bereichen sozialdemokratische Politik zu definieren und sich gegenüber den anderen Parteien zu profilieren. Ohne Zweifel wäre auf diesen wichtigen Politikfeldern ein fruchtbarer Wettbewerb tauglicher Lösungsansätze wünschenswert.

 

Doch ist die SPD auf dem richtigen Weg, wenn sie im Programmentwurf neuen Versorgungsansprüchen der Bürger das Wort redet? Ist es verantwortlich, die gesetzliche Krankenversicherung über einen „wachsenden und gesicherten Steueranteil“ zu finanzieren? Dies dürfte dazu verleiten, unpopuläre Strukturreformen zu umgehen und die entstehenden Defizite einfach vom Steuerzahler ausgleichen zu lassen. Ist die Forderung nach „gebührenfreier Ganztagsbetreuung für alle Kinder von Anfang an“ allein schon gute Politik? Zumindest darf man hier konkrete Finanzierungsvorschläge erwarten.

 

Besser, man trägt den Realitäten Rechnung

 

Es liegt also noch ein gutes Stück Arbeit vor der Programmkommission der Partei, die sich 144 Jahre nach ihrer Gründung das achte Grundsatzprogramm geben wird. Hilft dabei der Blick zurück? Ja und nein: Ja, weil er jenseits mancher Sonntagsfrage Selbstvertrauen gibt; als Regierungspartei im Bund hat die SPD durchaus richtige Akzente gesetzt, und daran sollte sie anschließen. Nein, weil die Rückschau auch zu Nostalgie verleitet. Dies aber ist keine Lösung für die SPD.

 

In der Ausgabe 3/2007 der Berliner Republik hat Tobias Dürr die SPD dazu aufgerufen, sie möge Tatkraft beweisen statt zu lamentieren; sie möge „erst richtig anfangen“ – und zwar damit, die Grundlagen für eine dynamische Gesellschaft zu legen. Dürr hat Recht: Die Zukunft der SPD liegt in einer gesunden Mischung aus Selbstvertrauen und Realitätssinn. Dies wiederum bringt Kurt Beck auf den Punkt: „Eine Politik, die sich nicht an den Realitäten orientiert“, so der Parteivorsitzende, „ist eine zutiefst unsoziale Politik. Erst leiden die Schwächsten in der Gesellschaft, als Nächstes leiden die in der Mitte.“ Und beide Gruppen, das sei hinzugefügt, sind dann weniger geneigt, ihre Stimme einer Volkspartei zu geben. Besser also, man trägt den Realitäten Rechnung.

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