Vor der Erneuerung

Frankreich wählt am 5. Mai einen neuen Präsidenten, kurz darauf ein neues Parlament. Aber was bedeuten die Abstimmungen der Franzosen für uns? Dort wie hier geht es darum, gesellschaftliche Mehrheiten für nötige Veränderungen zu gewinnen

Frankreich wählt am 5. Mai einen neuen Präsidenten und vier Wochen später ein neues Parlament. Dieser doppelte Urnengang unserer Nachbarn ist, ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl, auch aus deutscher Sicht spannend - aus mehreren Gründen: Zum einen geht es um die Frage, mit welchen Konzepten und Positionen die neue französische Führung in die schwierigen Reformdebatten in Europa gehen wird, und inwiefern die seit geraumer Zeit brachliegende deutsch-französischer Problemlösungsfähigkeit wieder neuen Elan erhalten kann - allerdings wären ähnliche, nicht minder kritische Fragen auch an die deutsche Seite zu stellen.

Zum anderen geht es bei den bevorstehenden Wahlen um die künftigen wirtschafts- und sozialpolitischen Weichenstellungen in unserem wichtigsten Partnerland. In der engen Haftungsgemeinschaft einer Wirtschafts- und Währungsunion haben wir daran mehr als nur ein höfliches, unverbindliches Interesse: Die Fähigkeit oder das Unvermögen des Partners, seine Probleme zu lösen, wirken sich in der Wirtschafts- und Währungsunion direkt auch auf unsere eigene wirtschaftliche Zukunft aus - und umgekehrt.

Dieses vitale Eigeninteresse am Wohlergehen des Nachbarn wird, drittens, dadurch verstärkt, dass Franzosen und Deutsche sich überwiegend mit denselben Herausforderungen konfrontiert sehen. In beiden Ländern geht es um die Rückkehr auf einen dauerhaften Wachstumspfad, um die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, um die Reform des Sozialstaates, aber auch um die Neubestimmung staatlichen Handelns. Diesseits und jenseits des Rheins geht es darum, das Wirtschafts- und Sozialmodells durch dessen Anpassung an teilweise radikal veränderte Rahmenbedingungen zu bewahren. Auf dem Prüfstand steht nicht weniger als die Reformfähigkeit von Politik und Gesellschaft. Da zudem die Bilanz zweier linker Regierungen zur Überprüfung ansteht, die fast zeitgleich seit 1997 und 1998 in der Verantwortung stehen, gewinnt der Blick auf die französische Wahl zusätzlich an Reiz - ja, er fordert zu Vergleichen und Analogien geradezu auf.

Oberflächlich eine klassische Richtungswahl

Zunächst einmal ist der bevorstehende doppelte Urnengang eine klassische Richtungswahl. Aller Voraussicht nach werden die Franzosen in der Stichwahl am 5.Mai zwischen dem bürgerlich-konservativen Amtsinhaber Jacques Chirac und dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin zu entscheiden haben.

Die Linke gegen die Rechte: Das ist die Regel in einem Land, dessen politische Kultur, begünstigt auch durch das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen, von Bipolarität bestimmt wird. Dabei haben sich die einst beträchtlichen sachlichen Differenzen zwischen der Linken und der Rechten längst abgemildert - so sehr, dass drei von vier Franzosen laut einer Umfrage Ende Februar keine inhaltlichen Unterschiede zwischen Jospin und Chirac erkennen können.

Das liegt auch an einer gewissen Banalisierung des politischen Machtwechsels. Seit 1981 haben die Franzosen mit schöner Regelmäßigkeit die jeweils amtierende Regierung abgewählt. Dabei hatten die Linken, anders als in Deutschland, die besseren Karten: Seit 1981 sind sie insgesamt 15 Jahre lang in der Regierungsverantwortung gewesen, die Rechte brachte es auf sechs Jahre.

Die Lager sind zersplittert

Unter der Oberfläche des klassischen Richtungswahlkampfes verbergen sich heute andere, nicht minder spannende Auseinandersetzungen. Denn das linke und das rechte Lager sind in zahlreiche eigenständige und mehr oder minder rivalisierende Parteien zergliedert. De facto sind alle Regierungen in Frankreich Koalitionen, wobei die jeweiligen Partner durch die Polarisierung des Mehrheitswahlrechtes fester aneinander gekettet sind als in Deutschland. Das gilt für die Regierung der "pluralen Linken" Lionel Jospins (Sozialisten, Kommunisten, Grüne, Radikalliberale), aber auch für die gemäßigte Rechte (Postgaullisten, Zentrum, Liberale, Souveränisten). Vor allem für die kleinen Gruppierungen ist der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl die Gelegenheit - oft ihre einzige -, ihr politisches Gewicht zu messen, um es bei eventuellen Koalitionsverhandlungen in die Waagschale werfen zu können.

Deshalb treten sie alle an: Vom Kommunisten Robert Hue über den Grünen Noel Mamère, den europafreundlichen Zentrumspolitiker Francois Bayrou, den Souveränisten Charles Pasqua bis zum Marktliberalen Alain Madelin. Dazu kommen noch die extreme Linke, deren Dauerkandidatin Arlette Laguiller mit erstaunlichen 7 Prozent in den Prognosen gehandelt wird, und der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen, dessen Stern allerdings im Sinken begriffen ist. Schließlich präsentiert sich mit Jean-Pierre Chevènement ein früherer Minister Jospins, dessen jenseits von Links und Rechts angesiedelter Diskurs über die Autorität des Staates und der nationalen Souveräntität an de Gaulle anzuknüpfen versucht.

Die Kohabitation ist der Normalfall

Die französische Doppelwahl hat auch verfassungspolitische Bedeutung. Da Frankreich eine doppelköpfige Exekutive besitzt - den direkt vom Volk gewählten Präsidenten und den auf die parlamentarische Mehrheit gestützten Premierminister -, kommt es darauf an, ob die jeweiligen Mehrheiten übereinstimmen. Dies war lange Zeit der Regelfall, aber insgesamt dreimal haben die Franzosen sich anders entschieden und die Rechte und die Linke zu einer konflikthaften Zusammenarbeit gezwungen: 1986 bis 1988 und wiederum 1993 bis 1995 musste François Mitterrand mit einer rechten Regierung zusammenarbeiten. Und 1997 sah sich Präsident Jacques Chirac nach den von ihm selbst ausgelösten Neuwahlen einer linken Mehrheit gegenüber und musste der Regierung Jospin das Feld überlassen.

Diese "Kohabitationen" zwischen einem Präsidenten, der starke Befugnisse in der Außen-, Sicherheits-, Verfassungs- und Europapolitik behält, und einer Regierung, die sich auf eine parlamentarische Gesetzgebungsmehrheit stützen kann, haben besser funktioniert als befürchtet, wenn sie auch vor allem im Vorfeld von Wahlen zu problematischen Verhärtungen und Blockierungen neigen. Die Wähler jedenfalls scheinen sich an der "Kohabitation" nicht sonderlich zu stören. Sie haben darin bislang stets die willkommene Gelegenheit zur Begrenzung politischer Macht gesehen. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass nach der Entscheidung am 5. Mai bei den anschließenden planmäßigen Parlamentswahlen die Linke und die Rechte wiederum zur Zusammenarbeit gezwungen werden. Dies würde eine starke Aufwertung der Rolle des Premierministers bedeuten, zumal die Amtszeit des Präsidenten künftig nur noch fünf Jahre betragen wird.

Weder Chirac noch Jospin sind bekennende Europäer. Beide stehen in der politischen Tradition des Republikanismus, der die demokratische politische Willensbildung an den nationalen Rahmen gebunden sieht und sich mit der Vorstellung einer europäischen Mehrebenenpolitik mit geteilter Souveränität nur schwer anfreunden kann. Dazu kommt, dass sowohl Chirac wie Jospin auf starke europaskeptische Kräfte in ihren eigenen Lagern Rücksicht nehmen müssen. So dürfte - ganz unabhängig vom Ausgang der Wahl - die französische Haltung auch weiterhin gekennzeichnet sein von einer nicht widerspruchsfreien Mischung aus nationalem Reden und europäischem Handeln, aus ehrgeizigen Zielbestimmungen für ein starkes Europa und geringer Bereitschaft zu weitgehenden institutionelle Reformen oder der pragmatischen Öffnung für weitere Integrationsschritte. Ob so eine richtungsweisende Politik möglich wird, erscheint fraglich. Dass die gegenwärtigen europapolitischen Signale aus Berlin und den Bundesländern derzeit nicht überzeugender sind, macht die Aussichten für deutsch-französische Initiativen, die den Herausforderungen angemessen wären, nicht eben besser.

Die Staatswirtschaft ist passé

Ähnlich ambivalent sind die Perspektiven in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Frankreich hat in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten einen geradezu rasanten Wandel erfahren, in dessen Verlauf das tradierte staatszentrierte Wirtschaftsmodell abgestreift wurde: Zahlreiche Privatisierungen, umfangreiche Liberalisierungen und Deregulierungen im Zuge des Binnenmarktes sowie eine marktwirtschaftliche Orientierung der Wirtschaftspolitik haben Frankreichs Wirtschaft dynamisiert und nach außen geöffnet. Sie ist erfolgreicher, aber auch abhängiger geworden. 40 Prozent des Börsenkapitals der größten französischen Unternehmen ist mittlerweile in den Händen ausländischer Anleger - ein Öffnungsgrad, der neue Anpassungszwänge mit sich bringt. Weil dieser Strukturwandel bis Mitte der neunziger Jahre vor allem auf Kosten der Beschäftigung und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes ging, war er von Ängsten, Kontroversen und harten sozialen Auseinandersetzungen begleitet.

Die Stimmung ist ambivalent

Es ist bezeichnend für Jacques Chirac, dass er sich angesichts einer solchen ambivalenten Seelenlage nicht scheute, den Präsidentschaftswahlkampf 1995 mit linken Themen wie der Frage nach dem sozialen Zusammenhalt zu führen - und zu gewinnen. Seine populistischen Versprechen hielten allerdings nur einen Sommer, machten einer orthodox-konservativen Politik Platz und endeten mit den landesweiten Dezemberstreiks 1995 in einem Fiasko. Vor allem diese Erfahrung ist mit dafür verantwortlich, dass Chirac als wetterwendisch und wenig verlässlich gilt. Deshalb auch sind seine diesjährigen Wahlversprechen - massive Steuersenkungen, Abbau der Bürokratie, Erhalt der sozialen Sicherung, Einstieg in eine kapitalgedeckte, durch Arbeitnehmersparen aufgebaute dritte Säule der Rentenversicherung - mit einiger Skepsis aufgenommen worden. Ungeachtet dessen ist Chiracs Diskurs moderat und nimmt wie Jospin Rücksicht auf die ambivalente Stimmungslage einer Bevölkerung, die die internationale Öffnung der Wirtschaft und die Globalisierung akzeptiert, gleichzeitig aber die Steuerungsfähigkeit des Staates und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts einfordert.

Lionel Jospin kann demgegenüber auf eine insgesamt erfolgreiche Bilanz als Regierungschef verweisen. Es ist zweifellos sein Verdienst, nach seinem Amtsantritt 1997 mit einer klugen Politik des Ausgleichs die marode Stimmung im Land nachhaltig verbessert zu haben. Er hat bewiesen, dass trotz enger Handlungsspielräume - etwa infolge der Maastricht-Kriterien - eine Politik für Wachstum und Beschäftigung möglich ist. Es ist Jospin gelungen, einen Wachstumszyklus einzuleiten, der die französische Wirtschaft - trotz aller Bremsspuren - seit dem vergangenen Jahr dynamisiert hat. Zwei Millionen neue Arbeitsplätze sind geschaffen worden.

Frankreich ist zum Synonym einer vergleichsweise erfolgreichen, dynamischen Wirtschaft geworden - Ergebnis einer Politik des linken Pragmatismus, die einerseits tradierte Elemente (gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Woche; öffentlich finanzierte Arbeitsplätze für Jugendliche) enthält, andererseits mit einer forcierten Privatisierung, einer Politik der Senkung der Arbeitskosten vor allem im Niedriglohnsektor und dem vorsichtigen Einstieg in flexiblere Arbeitszeitregelungen aber auch modernistische Akzente gesetzt hat. Ironischerweise erntete Jospin zudem die Früchte der erwähnten Liberalisierung und Öffnung, als deren Ergebnis die französische Wirtschaft in vieler Hinsicht beweglicher und offener geworden ist - übrigens auch als die deutsche.

Führende Sozialisten fordern mehr Markt

Jospins Problem ist nun aber, dass er keinen reinen Bilanzwahlkampf führen kann, zumal sich die Arbeitsmarktdaten seit einem Jahr auch in Frankreich verschlechtert haben. Zudem sind die Rezepte der Vergangenheit nicht unbedingt Garantien für den Erfolg von morgen. Führende Sozialisten wie Finanzminister Laurent Fabius oder sein Vorgänger Dominique Strauss-Kahn setzen sich für die weitere marktwirtschaftliche Öffnung ein: etwa die Kapitalöffnung staatlicher Unternehmen wie EDF oder France Télécom, die Bildung französischer Pensionsfonds durch die Förderung des Arbeitnehmersparens und eine Reform der Arbeitsmarktpolitik. Jospin aber scheut sich, einen offenen sozialliberalen Diskurs zu führen, der seiner politischen Praxis entspräche - nicht unverständlich in einem Land, das eine starke antiliberale Tradition besitzt und noch immer dazu neigt, ideologische Grundsatzdiskussionen zu führen. Jospins Projekt für Frankreich gewinnt damit nicht eben an Klarheit.

Wie macht man Mut zur Veränderung?

Ähnlich wie Deutschland steht Frankreich vor der Notwendigkeit einer umfassenden wirtschaftlich-gesellschaftlichen Erneuerung. Die Neubestimmung der jeweiligen Rolle von Staat, Markt und Zivilgesellschaft ist längst nicht abgeschlossen - wobei sich die notorische Schwäche der Verbände und die Unfähigkeit der Sozialpartner zu einem konstruktiven sozialen Dialog als zusätzliche Hürden erweisen. Der Konflikt um eine Lösung des Korsika-Problems deutet darüber hinaus auf die offene Reformbaustelle namens Dezentralisierung hin. Auch hier ist die Balance zwischen Zentralstaat, Regionen und Departements noch lange nicht gefunden. Schließlich stehen wichtige, auch von Jospin bislang verschobene Reformen an: in der Rentenversicherung, aber auch im Bereich des Sozialstaats, der Modernisierung der Verwaltung oder der Anpassung der öffentlichen Dienstleistungen an den europäischen Wettbewerb.

Wie überwindet man die zahlreich vorhandenen Reformblockaden? Wie kann man Mut zur Veränderung machen? Wie lassen sich Mehrheiten für überfällige Modernisierungen organisieren? Antworten darauf sind ungleich schwerer zu finden als Wahlen zu gewinnen - eine Erfahrung, die nicht nur Jospin und Chirac gemacht haben.

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