Von Unternehmern ohneGeld

Ingo Niermann hat Geschichten vom Scheitern genialer Geschäftsideen protokolliert

Irgendwie erinnert der Titel Minusvisionen an die verblassende Lyrik der Neuen Deutschen Welle und weckt Assoziationen bizarrer neonfarbener Plastiklandschaften. Gleichzeitig flammt dabei das untrügliche Gefühl auf, dass der Titel den Blick auf etwas Aufrührerisches eröffnen wird. Und in der Tat, was Ingo Niermann mit Minusvisionen etikettiert, enttäuscht keine dieser Erwartungen. Seine Minusvisionen beschreiben Zyklen, deren Geburtsstunde scheinbar geniale Geschäftsideen sind, die dann allerdings dem Alltag und/oder dem Anspruch ihres jeweiligen Initiators nicht standhalten können und mehr oder weniger sang- und klanglos wieder in der Versenkung verschwinden. Das Erstaunliche an diesem vermeintlich unsinnigen Prozess ist die Tatsache, dass jedes Scheitern - und sei es noch so unbarmherzig - der unmittelbare Ursprung einer neuerlich genialen Idee ist, die sodann dem Schicksal ihrer Vorgängerin folgt.

Zielsicher in die JVA Plötzensee

Die von Niermann protokollierten Minusvisionen berichten von Existenzgründern, die ihrer Intuition folgend konsequent Träume verwirklichen, die aus einem sehr subjektiven Lebensgefühl erwachsen sind. Andreas Klöckner beispielsweise hat zwei große Leidenschaften: Männer und Kochen, unglücklicherweise in dieser Reihenfolge und leider untrennbar miteinander verbunden. Lena Braun hingegen pflegt eine diffuse Sehnsucht nach einer höheren menschlichen Lebensform im Einklang mit den bildenden Künsten - dies freilich, ohne sich den Charakter zu sehr durch die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts verderben zu wollen. Oder Michael Losberg, dessen Gründungsidee schlicht in schnödem Anlagebetrug besteht, den er zwar par excellence beherrscht, der ihn aber dennoch - wenngleich auf Umwegen - zielsicher für längere Zeit in die JVA Plötzensee befördert.

Auf den ersten Blick scheint Losbergs Weg nicht wirklich ins Schema der übrigen Minusvisionen zu passen, doch dieser Eindruck relativiert sich bei genauerem Hinsehen. Denn Ingo Niermann lässt hier nicht jene Existenzgründer zu Wort kommen, die sich in grauem Alltag mit zähen Marktanalysen quälen, kleinliche Businesspläne erstellen, den morastigen Bürokratiedschungel durchwaten oder zermürbenden Existenzängsten ausgesetzt sind. Hier sind auch nicht jene Existenzgründungen mit sicherem Netz und doppeltem Boden beschrieben, die unter der Bezeichnung Ich-AG subventioniert den Gefahren und Unwegsamkeiten des Alltags trotzen. Nein, hier kommen vielmehr jene zu Wort, die sich aus tiefster Überzeugung und einer damit untrennbar verbundenen Leidenschaft in Abgründe stürzen. Sich in Abgründe stürzen, ohne auch nur einen blassen Schimmer davon zu haben, ob der Abgrund den Titel "Innovativste Existenzgründung des Jahres" bereithält, ob womöglich die gesamte Familie in den finanziellen Ruin gerissen wird, oder am Ende doch nur eine durchschnittlich langweilige, alltäglich-spießige Geschäftsidee geboren wurde.

Manche Geschichten sind tief beeindruckend, wie die von Andrea Steinhilber, die das hoch verschuldete Sägewerk ihres Vaters übernimmt, obwohl sie als angehende Philosophin nicht unbedingt dazu prädestiniert erscheint. Andere Geschichten wiederum verwundern, überzeichnen, verlieren sich in Selbstherrlichkeit oder verharren umgekehrt in Selbstmitleid. Dabei ist es Ingo Niermann auf sensible Weise gelungen, seinen Gesprächspartnern den notwendigen Raum zu lassen, Skurriles und Absurdes in der Verkleidung des vermeintlich Alltäglichen vorzuführen. Beim Leser stellt sich dabei jenes unmittelbare Gefühl eines wechselhaften Sommertages ein, an dem man mit Spannung erwartet, was das Leben noch so alles zu bieten hat.

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