Von Skandinavien lernen, heißt nicht siegen lernen

Bei unseren nördlichen Nachbarn ist vieles anders, aber nicht alles besser

Politiker argumentieren gerne mit leuchtenden Vorbildern. SPD-Politiker, vor allem in Schleswig-Holstein, haben dafür Nordeuropa entdeckt. Ob im Kieler Landtag debattiert wird oder sich Sozialdemokraten auf
dem Parteitag um eine Kandidatur bewerben: Das nordische Paradies dient immer wieder als Letztbegründung für angeblich notwendige Reformen. Beispiele dafür finden sich in nahezu allen Politikfeldern. Ob es um die erweiterte Mitbestimmung für Studenten an Hochschulen, ein allgemeines Akteneinsichtsrecht für alle Bürger, die elektronische Fußfessel für Straftäter oder die Technologieförderung geht - von Nordeuropa lernen, heißt für Sozialdemokraten siegen lernen!


Dem muss energisch widersprochen werden. Nordeuropa ist zwar anders, aber nicht pauschal besser als Deutschland. Es ist nicht sozial gerechter. Es ist auch nicht liberaler und seine Wirtschaft ist relativ gesehen nicht leistungsfähiger.


Ursächlich für das schiefe Idealbild ist die politische Übereinstimmung der in der SPD zur Zeit vorherrschenden 68er Generation mit der schwedischen Staatsdoktrin vom Volksheim. Ein Blick in die Biografien mancher 68er zeigt zudem, dass sie zur Blütezeit des schwedischen Reformeifers Anfang der 70er Jahre als Austauschstudenten oder Betriebspraktikanten das Land erlebt haben. "Und sie tanzte nur einen Sommer" - romantische Verklärung eigener Jugenderlebnisse gepaart mit politischer Ideologie ist eine Mischung, die überzeugt und gegen
Argumente fast immun macht.


Schon in formaler Hinsicht geht die sozialdemokratische Vision vom Paradies im Norden ins Leere. Man spricht zwar von den skandinavischen Nachbarn, meint aber die Schweden. Dänen, Norweger und vor allem Finnen müssten diese Vereinnahmung eigentlich als Affront werten, denn nur auf den ersten Blick herrscht im Norden Gleichklang. Eine Staatsdoktrin, wie die des schwedischen Volksheims, gibt es in keinem der anderen Länder. Auch findet sich in Norwegen, Dänemark oder Finnland keine ausgeprägte sozialdemokratische Vormacht, die
mit der in Schweden vergleichbar wäre. Entsprechend sind die Unterschiede auf vielen Politikfeldern.


Besonders krass fällt der Vergleich mit Finnland aus, das sich am allerwenigsten als Muster eignet. Ein Beispiel: Als die SPD kürzlich im Kieler Landtag für die erweiterte Mitbestimmung von Studenten an den Hochschulen mit dem Hinweis warb, man müsse sich doch nur mal bei den nordischen Nachbarn umsehen, war dies die halbe Wahrheit. In Finnland findet als Hochschul-Autonomie bis heute die Professoren-Universität mit lediglich symbolischer Studenten-Mitbestimmung statt. Ein anderes Beispiel: Gern preisen Sozialdemokarten hierzulande die multikulturelle Gesellschaft des Nordens. Für die offizielle schwedische Einwanderungspolitik mag das Bild von Offenheit und Toleranz vielleicht noch zutreffen. Finnland dagegen wird international für seine restriktive Ausländerpolitik regelmäßig abgemahnt. Selbst in Notsituationen lässt Helsinki besonders für farbige Flüchtlinge den Schlagbaum unten.
Trotz solch gravierender Unterschiede beziehen Sozialdemokraten ihre Argumentation immer wieder auf Nordeuropa, statt nur auf Schweden. Man fragt sich, warum? Offensichtlich soll damit dem liebsten Argument bürgerlicher Kreise entgegengewirkt werden, wonach das schwedische Volksheim als Gesellschaftsmodell genauso gescheitert sei wie der real existierende Sozialismus. Verglichen mit dem sozialistischen Schweden sind Norwegen, Dänemark und vor allem Finnland aus bürgerlicher Perspektive unverdächtig und eignen sich daher hervorragend, um der sozialdemokratischen Letztbegründung den Anschein von Objektivität zu verleihen.


Doch selbst wenn man die Betrachtung auf Schweden reduziert, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass das Königreich für deutsche Sozialdemokarten eigentlich kein gutes Beispiel abgeben kann.


Besonders kritisch zu betrachten ist dabei ausgerechnet der Bereich der sozialen Gerechtigkeit. Was im Ausland kaum bekannt ist und in Schweden selbst gern übertüncht wird: Schweden ist eine Klassengesellschaft. Einem breiten, aber zum Teil hochverschuldeten, unter der Steuerlast ächzenden Mittelstand steht eine kleine, sehr reiche, wirtschaftlich bestimmende Oberschicht gegenüber. Über sogenannte Mehrstimmrechte kontrollieren die Holdings einiger weniger Familien weite Teile der schwedischen Großindustrie. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Investor AB der Familie Wallenberg, die unter anderem bei der großen SE-Banken (seit kurzem auch Eigentümerin der deutschen BfG) das Sagen hat. Nennenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Bonnier-Familie, die weite Teile der Medien kontrolliert.


Über die Schwächen des schwedischen Sozialstaates, beispielsweise in der Gesundheitsfürsorge, ist jahrelang bereits viel diskutiert worden. Seit kurzem gewinnt noch ein weiterer Problembereich verstärkt an Bedeutung, der aus nahe liegenden Gründen von der schwedischen Staatspropaganda lange unter der Decke gehalten wurde:

Rechtsradikalismus, der inzwischen in Rechtsterrorismus ausgeartet ist.
Schon in den dreißiger und vierziger Jahren waren rechtes Gedankengut und Rassismus im sozialdemokratisch regierten Schweden verbreitet. Sogar an der renommierten Universität Uppsala betätigten sich Rassenforscher. Erst vor einem Jahr rang sich der schwedische Staat dazu durch, Entschädigungen an die Opfer von Zwangssterilisationen zu bezahlen.


Nicht zuletzt als eine Folge der offensiven Einwanderungspolitik, die mehr auf multikulturelle Vielfalt denn auf Integration und Assimilation gesetzt hat, treibt der Rechtsextremismus seit einigen Jahren gefährliche Blüten. So wurden in den letzten Jahren vier Polizisten und ein Gewerkschaftler von Rechtsterroristen ermordet. Ein Journalist und sein Sohn wurden bei einem Bombenanschlag schwer verletzt. Verurteilungen scheiterten, weil offensichtlich eingeschüchterte Zeugen in letzter Minute ihre Aussagen zurückzogen. Der Staat scheint entweder selbst bereits unterwandert oder so ohnmächtig zu sein, dass sich die Presse des Landes im Herbst 1999 zu einer mutigen Aktion genötigt sah. Am gleichen Tag veröffentlichten die vier größten Zeitungen des Landes auf bis zu sechzig Seiten die Namen und Bilder von 68 Personen aus allen gesellschaftlichen Schichten, die der Zugehörigkeit zu rechtsextremen Organisationen überführt worden sind oder auch nur verdächtigt werden. "Diese Leute gefährden unseren Staat" lautete die Überschrift.


Es ist Zeit, dass das vor allem bei deutschen Sozialdemokarten vorherrschende Schweden-Bild von einer heilen, toleranten und zukunftsorientierten Gesellschaft revidiert wird. In einzelnen Teilbereichen mag Schweden vielleicht gute Beispiele für Problemlösungen bieten. Als sozialdemokratisches Heile-Welt-Paradies, Letztbegründung für weite Teile der Politik, taugt es dagegen nicht.

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