Von Harry Potter lernen

Die Zuwanderungsdebatte aus der Steinzeit in die Neuzeit bringen

Meine Herren, bei uns ist man im Gegensatz zu anderen Ländern, die froh sind, wenn sie in jeder Beziehung tüchtige Ausländer als Bürger erwerben können (...) von einem außerordentlichen Mißtrauen gegen die Aufnahme von Ausländern beherrscht und legt dieser Frage eine ganz kolossale Wichtigkeit bei." (Abgeordneter Otto Landsberg (SPD) 1912 im Reichstag)

"Deutschland ist tatsächlich heute in großem Maße auf die Zuwanderung fremder Bevölkerungskräfte angewiesen, wir wissen das alle aus den Statistiken." (Abgeordneter Andreas Blunck (Fortschrittliche Volkspartei) 1913 im Reichstag)

In den Harry Potter-Romanen der britischen Autorin J.K. Rowling haben die meisten der handelnden Personen so viel Angst vor einem gewissen Lord Voldemort, dass sie sich nicht trauen, seinen Namen auszusprechen. Die
einzigen, die es tun, sind der junge Zauberlehrling Potter und der alte Oberzauberer Dumbledore, der beständig darauf hinweist, dass man seine Ängste nie überwinden werde, solange man sie nicht einmal zu bezeichnen wage.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die deutsche Migrations-Debatte lange Zeit um die Frage kreiste, ob man Deutschland als Einwanderungsland bezeichnen kann. Sachlich gab es für diese Begriffskontroverse keinen Grund. Ein Land, in dem jeder zehnte Einwohner zumindest formal ein Ausländer ist, ist unzweifelhaft von Einwanderung (mit)geprägt.

Die Scheu, Offenkundiges beim Namen zu nennen, ist ein deutliches Angstindiz. Der Lord Voldemort unserer Gesellschaft sieht so aus: Zuwanderung als potenzielle Bedrohung des eigenen Status und - mehr noch - der eigenen Identität. Dass es ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland noch immer an einem Konsens darüber mangelt, was diese Identität eigentlich ausmacht, verschärft das Problem.

Die Umstände der vom CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz entfachten Debatte über eine "deutsche Leitkultur" illustrieren dies: Verstellt(e) beim Thema Zuwanderung die Scheu vor der Benennung von Tatsachen den Weg zu einem realitätsnahen Handeln, so wurde in Sachen "Leitkultur" zunächst ein Begriff in den Raum gestellt, von dem niemand so richtig sagen kann, was er eigentlich beinhaltet - von der Äußerung eines Dominanzanspruchs einmal abgesehen. Man könnte es beschmunzeln, wäre damit nicht die Suggestion einer Homogenität der deutschen Gesellschaft verbunden. Solch unklare Beiträge tragen nicht zur nötigen Versachlichung der schon viel zu lange irrational geführten Debatte bei.


Wenn nach Umfragen eine Mehrheit einerseits Rechtsradikalismus ablehnt und andererseits einer Kernthese rechtsradikalen Denkens - es gebe zu viele Ausländer in Deutschland - zustimmt, dann spiegelt sich darin eine Haltung wider, die an die Zuwanderungsdebatte eine hohe Anforderung stellt. Es müssen sowohl Konzepte für die Zukunft entwickelt als auch jahrzehntelange Versäumnisse wettgemacht werden. Neben der Erarbeitung guter Ideen für eine Regelung von Zuwanderung und Integration - beides gehört zusammen - muss die Notwendigkeit solcher Regelungen vermittelt werden. Wer nicht zur Überwindung einer tendenziell skeptischen Haltung gegenüber Migranten beiträgt, ist für daraus resultierende Konflikte mitverantwortlich.

Aus diesem Grund ist schon die Tatsache selbst, dass sich inzwischen eine beinahe unübersichtliche Zahl von Kommissionen mit der Erarbeitung von Positionen und Konzepten für die Migrationspolitik befasst, als positiv zu bewerten. Die Kommissionen machen sowohl für die Binnendiskussion als auch in ihrer Außenwirkung Erörterungsbedarf deutlich und leisten einen wichtigen Beitrag, dem lange nicht Benannten einen Namen zu geben.

Der Hinweis, dass demographische Entwicklung und ökonomische Erfordernisse Zuwanderung zu einer Notwendigkeit machen, wird alleine nicht reichen. Zwar wird das Betonen von materiellen Vorteilen für die Aufnahmegesellschaft Zuwanderungsakzeptanz steigern - aber beließe man es bei diesem Aspekt, liefe man Gefahr, Fehler aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland zu wiederholen. Eine überwiegend instrumentelle Sicht darf nicht das Verhältnis zu den Einwanderern bestimmen.

Das Bild vom Migranten, der heute kommt und morgen (oder in einigen Jahren) geht und in der Zwischenzeit das Bruttosozialprodukt steigert, ist noch immer die Folie vieler Debattenbeiträge. So sehr die "Green Card"-Inititative der Bundesregierung schon allein deshalb richtig ist, weil sie beweist, dass ein angstbesetztes Thema politisch sehr wohl mit Vernunft und ohne nachhaltige Wähler-Verschreckung behandelbar ist, so kam sie doch nicht ohne den Hinweis auf eine zeitliche Befristung der Arbeitsverträge mit den Angeworbenen aus. Immerhin hat sie das Niveau der Zuwanderungsdebatte gewissermaßen von der Steinzeit ins Mittelalter gehoben. Ein weiterer qualitativer Sprung in die Neuzeit steht noch aus: nämlich offensiv daran zu arbeiten, daß Zuwanderung seitens der einheimischen Bevölkerung nicht nur geduldet, sondern akzeptiert wird. Zuwanderung dient nicht nur als Beitrag zur Belebung der Wirtschaft, sondern muß auch als Gewinn für das soziale Gemeinwesen verstanden werden.

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