Vom Nutzen der EU-Skepsis für Europas Integration

Keine Angst vor harten Debatten: Erst öffentlich ausgetragener Streit schafft die Fundamente für eine politisch tragfähige europäische Identität

Ist es angemessen und legitim, die Politik der europäischen Integration öffentlich zu kritisieren? Muss als Anti-Europäer gelten, wer bestimmten Brüsseler Entscheidungen oder Akteuren mit Skepsis gegenüber steht? Beide Fragen sind auch deshalb von Belang, weil große Teile der deutschen Bevölkerung als „Europa-Skeptiker“ eingestuft werden können: Seit 1992 waren laut den jährlichen Umfragen des Eurobarometer mindestens etwa 10 Prozent der Bevölkerung der Meinung, die EU-Mitgliedschaft sei eine „schlechte Sache“. Ein weit größerer Bevölkerungsanteil von etwa 35 bis 45 Prozent – je nach Erhebungsjahr – sieht in der EU-Mitgliedschaft keinen konkreten Nutzen. Offensichtlich ist das Argument vieler EU-Gegner, die politischen Eliten seien in europäischen Fragen von den Haltungen der Bevölkerung weit entfernt, nicht ganz von der Hand zu weisen. Klar ist auch, dass die etablierten Parteien mit diesen Einstellungen irgendwie umgehen müssen.

Aber lässt sich bei EU-Skepsis oder EU-Kritik wirklich von einer pauschalen Haltung sprechen? Für frühere Phasen der europäischen Integration mag das zutreffen, als grundsätzlich um eine europäische Außenpolitik oder um die Einführung einer gemeinsamen Währung gestritten wurde. Schließlich ging es um Entscheidungen über Wegmarken, bei denen Fragen des Souveränitätserhalts oder der Souveränitätsverschiebung im Mittelpunkt standen. In Deutschland selbst waren die Gewichte einigermaßen klar verteilt, denn durch das Erbe des Nationalsozialismus, die darauffolgende Westintegration sowie die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft bestand kein Spielraum für eine dezidiert souveränitätsorientierte Politik. Im europäischen Ausland, zum Beispiel in Frankreich unter Charles de Gaulle oder in Großbritannien unter Margaret Thatcher, wurden integrationsskeptische Haltungen dagegen durchaus gepflegt. Allerdings wurde der Nationalstaat nicht einfach dumpf höher bewertet als internationale Kooperation. Sondern auch die frühen EU-Skeptiker gingen davon aus, dass sich bestimmte internationale Herausforderungen besser auf der europäischen Ebene als allein im nationalen Kontext bewältigen ließen, etwa wenn es um die ökonomische Arbeitsteilung ging mit dem Ziel, höheren Wohlstand zu erreichen. Allerdings seien diese Vorteile mit spezifischen Nachteilen zu bilanzieren.

Erstens, so de Gaulle wie Thatcher, seien Völker und Nationen auf dem europäischen Kontinent ihren nationalen Traditionen verhaftet, die nicht ohne negative Konsequenzen in ein europäisches Ersatzleitbild zu überführen seien. Zweitens, so vor allem Thatcher, bestünde die Gefahr demokratischer „Entleerung“, wenn ein politisches Zentrum in Brüssel die politischen Geschäfte in Europa übernehme. Und drittens, so wiederum de Gaulle, seien die durch Integration entstehenden ökonomischen Nachteile für einzelne Bevölkerungsteile unter keinen Umständen zu ignorieren. Alle drei Argumentationsstränge finden sich bis heute in politischen und wissenschaftlichen Debatten; sie stellen gewissermaßen das Grundgerüst der EU-Kritik dar.

Nationale Traditionen. Das wichtigste Argument der an Traditionen orientierten EU-Skeptiker lautet üblicherweise, nur nationale Identitäten besäßen eine hinreichend hohe Kohäsionskraft, um auch bei schwierigen politischen Entscheidungen ein Mindestmaß an Legitimität zu sichern. Die europäische Identität sei zwar möglicherweise in Grundzügen vorhanden. Doch es mangele an einer gemeinsamen Sprache und an gemeinsamen Kommunikationsräumen. Außerdem gebe es antagonistische Geschichtserfahrungen.

Für die Jüngeren ist Europa selbstverständlich

Anzumerken ist allerdings, dass die Offenheit für Europa und die Akzeptanz der EU in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen recht unterschiedlich verteilt sind. Seit langem ist bekannt, dass Jüngere und Gebildete überdurchschnittlich viel Umgang mit Bürgern aus dem europäischen Ausland pflegen – und sogar für einen erstaunlich hohen Anteil von Eheschließungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher EU-Staaten sorgen. Sozialwissenschaftler nehmen diese Entwicklung als einen Beleg dafür, dass Identitäten prinzipiell konstruiert sind. Was für die Herausbildung der deutschen Identität im 19. Jahrhundert galt, könnte demnach auch für die EU möglich sein: eine graduell eintretende Kongruenz zwischen kulturellen und politischen Grenzen. Aus dieser Perspektive muss als vergangenheitsbezogen und rückwärtsgewandt gelten, wer vorbehaltlos darauf besteht, bestimmte nationale Identitäten seien höherwertiger als andere. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Vergangenheit lassen sich solche Argumentationslinien in Deutschland jedoch lediglich am äußersten rechten Rand beobachten. Dort laufen sie nicht auf EU-Skepsis hinaus, also auf qualifizierte Kritik an Teilaspekten der Integration, sondern auf deren generelle Ablehnung. Relevant bleibt die Position dennoch, denn in manchen Mitgliedsstaaten wie in Polen oder Großbritannien ist sie für die Europapolitik großer (und mitunter regierender) Parteien charakteristisch.

Der alte Nationalstaat taugt nicht mehr

Demokratische „Entleerung“. In Bezug auf die Demokratiequalität der EU gibt es viele Einwände. Natürlich hat die europäische Integration den Spielraum nationaler Parlamente dramatisch eingeschränkt, so dass nationale Wahlen kaum noch als große Richtungsentscheidungen begriffen werden können. Zu viele Befugnisse sind in den Brüsseler Entscheidungsraum abgewandert, und falls im deutschen Parlament doch über sie abgestimmt wird, dann nur im Sinne einer reaktiven Entscheidung „Ja oder Nein“.

Die Konfiguration der EU erschwert ein weiteres Kernelement der liberalen Demokratie, die Kontrolle der Regierenden durch die Regierten. Die Legitimationsketten sind lang und kompliziert, und die Transparenz europäischer Entscheidungen ist aufgrund des hochkomplexen Gesamtsystems ebenfalls eingeschränkt. Nach umstrittenen Entscheidungen ist es schwer, Verantwortlichkeiten zu identifizieren. Mehr noch: Die EU-Kommission als Ausgangsort der allermeisten europäischen Entscheidungen ist für die Wähler kaum zu belangen. Sie kann vielleicht bei individuellen Verfehlungen unter Druck der Öffentlichkeit geraten, üblicherweise aber nicht wegen politischer Fehleinschätzungen. Gleichzeitig nimmt die Kommission immer wieder für sich in Anspruch, mit Initiativen auch dort tätig zu werden, wo Politikfelder laut Vertragslage (noch) zu einem guten Teil den Nationalstaaten vorbehalten bleiben.

Die demokratische Praxis der europäischen Politik liefert somit genügend Anhaltspunkte für skeptische Einschätzungen. Allerdings ist das nationale Demokratiemodell keine Lösung. Zu Margaret Thatchers Zeiten mag in den nationalen Regierungssystemen ein höheres Maß an Transparenz, Partizipationsmöglichkeiten und Kontrolle existiert haben. Nur haben die Transnationalisierung von Gesellschaften sowie die Globalisierung der Wirtschaft in den vergangenen dreißig Jahren dramatisch zugenommen und die Steuerungsfähigkeit nationaler Regierungen systematisch beschnitten. Die bedingungslosen Verteidiger des national-liberalen Demokratieparadigmas orientieren sich an einem Idealtyp aus der Vergangenheit. Dadurch werden die in der liberalen Demokratiekonzeption verankerten Prinzipien – Volkssouveränität, Offenheit für Partizipation, Kontrolle der Regierenden – natürlich nicht obsolet. Die Frage lautet nur, wie sie unter neuen Bedingungen verwirklicht werden können.

Ökonomische Nachteile. Mit seiner „Politik des leeren Stuhls“ wollte Charles de Gaulle in den sechziger Jahren die Fähigkeit erhalten, den französischen Agrarsektor auch weiter vor den Auswirkungen der Markterweiterung zu schützen. Heute taucht dieses Argument im Arsenal von EU-Skeptikern in einer verallgemeinerten Form auf. Kritiker wie der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf weisen darauf hin, dass die politische Sphäre insgesamt nur noch sehr eingeschränkt in der Lage ist, Individuen und Gruppen vor schädlichen Auswirkungen des Marktes zu schützen. Die EU-Skepsis erwächst demnach aus dem Versäumnis der europäischen Politik, ökonomische Akteure mit (zwangsläufig) fehlendem Gemeinwohlinteresse adäquat einzuhegen. Eingeschlossen wird in diese Kritik übrigens in zunehmendem Maße der Europäische Gerichtshof, der immer wieder die Marktöffnung herausstreicht, sich für die daraus entstehenden sozialen Folgen dann aber nicht zuständig sieht.

Weiter „Vertiefen“? Lieber nicht

Anders als bei den ersten beiden Strängen von EU-Skepsis besteht der Kern der Kritik hier nicht in einem „zu viel“ an Europa, sondern in einem „zu wenig“: Die Schaffung des gemeinsamen Marktes ohne Binnenschranken erfordere stärkere – und nicht schwächere – europäische Institutionen, wenn negative Konsequenzen für die Wohlfahrtsstaaten ausgeglichen werden sollen. Dabei muss beachtet werden: Eine weitere Vertiefung der europäischen Politik ist, jedenfalls zum gegebenen Zeitpunkt, im Grunde illusorisch. Die letzten Vertragsveränderungen liefen trotz enormen logistischen und intellektuellen Aufwands auf lediglich bescheidene Integrationsschritte hinaus und mussten erst die Hürde mehrerer gescheiterter EU-Referenden nehmen. Im Übrigen wird das in den neunziger Jahren vorgezeichnete Programm der „Vertiefung“ der EU von den Kritikern selbst mit einem großen Fragezeichen versehen – mit dem Argument, die europäische Identität sei nicht belastbar genug für politische Entscheidungen, die eine Umverteilung nach sich ziehen. An dieser Stelle berühren sich zwei Stränge der EU-Skepsis.

Lange haben die Europa-Befürworter auf EU-Skepsis reagiert, indem sie die Hoffnungen auf die nächste Runde der Vertragsveränderungen richteten. Dies erscheint heute kaum noch möglich. Einerseits hat die Hängepartie um die EU-Verfassung und den Lissabonner Vertrag zu einer weit verbreiteten Abneigung gegen weitere ratifizierungsbedürftige Akte geführt. Andererseits hat die EU-Skepsis – wie gezeigt – erheblich an Breite und Intensität gewonnen. Wenn sie in einigen Ländern höher ist als die EU-Akzeptanz, haben wir ein ernsthaftes Legitimationsproblem.

Eu-Skepsis als Phänomen der Mitte

Heute kritisieren nicht mehr nur Nationalisten oder Isolationisten aus Polen und Großbritannien die EU. Die Kritik kommt aus vielen mehrheitsfähigen Lagern, von gemäßigten Konservativen (Identitätsargument) ebenso wie von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien (Sozialstaatsargument). Auch lassen sich in der Wissenschaft mehrere relevante Strömungen mit EU-skeptischer Tendenz nennen: ordnungspolitisch denkende Wirtschaftswissenschaftler, an nationalen Verfassungen orientierte Staatsrechtler, dem Wohlfahrtsstaat zugetane Politikwissenschaftler. Das Phänomen der EU-Skepsis ist von den Rändern der europäischen Gesellschaften in deren Mitte gewandert.

Gleichzeitig haben sich damit die Themen, um die im Zusammenhang mit der EU gestritten wird, deutlich erweitert und diversifiziert. Ging es früher um Entscheidungen über Wegmarken, sind heute unterschiedliche Gruppen und Milieus in ganz unterschiedlicher Weise betroffen. Somit ist die EU-Skepsis mittlerweile überwiegend auf konkrete Inhalte oder Prozeduren ausgerichtet. Eher selten geht es um ein generelles Missverhältnis zwischen den Erwartungen der Bürger und dem Potenzial der europäischen Politik, diese Erwartungen zu erfüllen. Beispielsweise können sich die Verfechter nationaler Traditionen nur auf Teile der Bevölkerung(en) berufen. Ihnen stehen andere Bevölkerungsteile gegenüber, die die europäische Ordnung in der gegenwärtigen Form akzeptieren. Ebenso wenig trifft zu, dass die gesamte Bevölkerung die Auswirkungen der Integration auf die Wohlfahrtsstaaten mit Sorge sieht. Bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen interpretieren den Abbau von Handelshemmnissen als insgesamt vorteilhaft für die europäische und nationale Wirtschaftsentwicklung.

Letztlich gründet die EU-Skepsis in innereuropäischen Bruchlinien. Die EU, ihre Akteure und ihre Institutionen geraten ins Fadenkreuz widerstreitender Interessen, wenn sie gewünschte Politikergebnisse nicht gewährleisten können. Europa hat sich von einem Gegenstand zu einer Plattform politischer Auseinandersetzungen entwickelt. Genau deshalb erscheint es wenig sinnvoll, EU-skeptische Positionen und Akteure generell als anti-europäisch zu geißeln. EU-Skepsis ist keine Gefahr, sondern eine Chance für den europäischen Integrationsprozess. Erst öffentlicher Streit schafft die Fundamente für eine politisch tragfähige europäische Identität. Und nur mit einer wenigstens teilweise europäisch codierten Identität können sich demokratische Institutionen in einem quasi-staatlichen Verbund entwickeln. Wichtige Grundlagen einer legitimierbaren europäischen Politik hängen also davon ab, als Ergebnis innereuropäischen Streits überhaupt erst zu entstehen.

Vielleicht haben sich die Akteure in den europäischen Institutionen zu lange der Illusion hingegeben, als eine Art Schiedsrichter über alle Formen des politischen Streits auftreten zu können. Zwischenstaatliche Kompromissbildung und technokratische Steuerungsleistungen waren dabei die wichtigsten Instrumente. Für die Ausbildung einer europäischen res publica, die sich über die Ziele ihres politischen Handelns immer neu verständigen muss, wird das allerdings nicht reichen. Vielmehr muss die Europäische Union eine Arena werden, in der gesellschaftliche Konflikte politisch sichtbar ausgetragen und damit entscheidbar werden. Wie in nationalen Demokratien können die Repräsentanten europäischer Institutionen nicht darauf hoffen, von den Verlierern solcher Konflikte gefeiert zu werden. Indem sie aber vermeintlich EU-skeptische Positionen aufnehmen, leisten sie ihren eigenen Beitrag zu Integration und Europäisierung. EU-Skepsis sollte nicht kritisch beäugt, sondern als regulärer Bestandteil der europäischen Politik verstanden werden. «

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