Vom großen Märchen zur konkreten Strategie

zu Benjamin Seifert, Es ist Zeit für eine große Geschichte, Berliner Republik 5/2010

Benjamin Seifert nennt die Bildungspolitik in einem Atemzug mit Gesellschaftspolitik insgesamt. Bildungspolitik ist für ihn nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die freie Entfaltung und gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen, sondern zugleich der beste Weg für mehr Chancengleichheit und mehr Solidarität in unserer Gesellschaft. Bildungspolitik sei darüber hinaus die langfristig entscheidende Bedingung für wirtschaftliches Wachstum, für Beschäftigung und soziale Sicherheit.

Die SPD hat die Verbindung von Bildungs- und Gesellschaftspolitik seit den sechziger Jahren propagiert und Bildungsreformen eingeleitet. Damals hatte sie erkannt, dass in Deutschland vorrangig die Strukturen des Bildungswesens reformiert werden müssen. Aufgrund der bildungspolitischen Konfrontation ab Mitte der siebziger Jahre und der dadurch gefährdeten Wahlaussichten bemühten sich die Parteispitzen in Bund und Ländern aber um ein Ende der Strukturdebatte.

Inzwischen gewinnen SPD und Grüne jedoch auch mit der Forderung nach Strukturreformen wieder Landtagswahlen. Und deren Verwirklichung scheint SPD und Grünen weder bei den anstehenden Wahlen in den drei Stadtstaaten noch in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein zu schaden. Selbst der Hamburger Volksentscheid wirkt sich anscheinend nicht negativ auf die Wählergunst der Grünen aus.

Das jetzt vom SPD-Parteivorstand vorgelegte „Fortschrittsprogramm“ wird der Bedeutung der Bildungspolitik nicht einmal ansatzweise gerecht und weicht notwendigen Schulstrukturreformen aus. Benjamin Seifert hat Recht, wenn er das konzeptionelle bildungspolitische Defizit der Bundes-SPD geißelt. Seifert fordert eine „große Geschichte“, die ein Bildungskonzept aus gesellschaftspolitischer Sicht umfasst. Viele SPD-Bildungspolitiker haben es in der Vergangenheit nicht vermocht, diesen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Bildungspolitik zu vermitteln. Ihr größter Fehler allerdings war, dass sie keine Strategie entwickelt und kommuniziert haben, wie sie ihre Ziele erreichen wollen. Auch deshalb waren die sozialdemokratischen Parteispitzen in Bund und Ländern lange nicht zu Strukturreformen im Bildungssektor bereit.

Bei den konkreten Konzeptionen und Strategien bleibt Benjamin Seifert im Allgemeinen. Dabei zeigen uns internationale Studien die Schwächen des deutschen Bildungswesens auf und geben Auskunft über die Strukturen, mit denen bildungspolitisch führende Länder ihre Erfolge erzielen. Zu den Schwächen des deutschen Bildungswesens gehören die starke sonderpädagogische, soziale und ethnische Auslese sowie die geringe Abiturienten- und die mittelmäßige Akademikerquote. In Irland und Finnland erlangen inzwischen fast alle Jugendlichen die Hochschulreife. Und in Neuseeland und Irland erzielen mindestens 70 Prozent eines Jahrganges einen akademischen Abschluss. Je mehr Jugendliche zu höheren Abschlüssen geführt werden, umso geringer ist die Auslese aufgrund von Behinderungen oder einer bestimmten sozialen oder ethnischen Herkunft. Zugleich geht die breite Förderung nicht zulasten des Leistungsniveaus.

Ihre Erfolge erzielten diese Staaten, indem sie die Förderschulen auslaufen ließen und eine integrierte Sekundarstufe I wie Sekundarstufe II schufen. Über die Integration der Sekundarstufe II wird in Deutschland kaum nachgedacht, obwohl dort die schärfste Selektion stattfindet – nach besuchter Schulform, nach Schulabschlüssen sowie nach sozialem und ethnischem Hintergrund.

Wie die Klagen der Wirtschaft über die Leistungen vieler Schulabgänger zeigen, ist zudem unser Übergangssystem ineffektiv. Heutzutage beginnen die Jugendlichen ihre duale Berufsausbildung durchschnittlich erst im Alter von gut 19 Jahren. An die Stelle des existierenden Übergangssystems könnte eine gemeinsame berufs- und hochschulpropädeutische Oberstufe treten. Ihr sollten die duale Berufsausbildung und das Studium folgen. Gerade Sozialdemokraten muss klar sein: Quantitative und strukturelle Reformen sind eine zentrale Voraussetzung, um bessere individuelle Entfaltung, mehr Chancen- und Teilhabegleichheit und stärkere Solidarität zu organisieren – nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in der Gesellschaft.

Um die genannten Ziele zu erreichen, setzt sich Benjamin Seifert für eine Föderalismusreform ein. Er kritisiert die schulpolitische Zersplitterung zwischen den Ländern und hält spätestens nach dem Hamburger Volksentscheid alle Strukturreformen auf Länderebene für gescheitert. Doch Seifert ignoriert geflissentlich, dass seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie so viele Bildungsreformen begonnen wurden wie zurzeit. Auch verkennt er die kaum überwindbaren Widerstände gegen eine Föderalismusreform. Außerdem: Solange die bildungspolitischen Positionen der Parteien so weit auseinander liegen, wäre die Folge einer solchen Großreform bildungspolitischer Stillstand. Zwar ist die Kompromissbereitschaft der Parteien in manchen Ländern gestiegen, doch reicht sie für bundesweite Reformen auf Ebene der Schulen nicht aus. Nein, die SPD sollte die bildungspolitische Strukturdebatte nicht mit jahrelangen Debatten über eine Föderalismusreform überlagern. Allerdings sollte sie als Bundespartei alles daran setzen, das Kooperationsverbot wieder aus dem Grundgesetz zu streichen. Aber trotz dieses Verbotes gibt es für den Bund weiterhin Mittel und Wege, die Bildungspolitik zu beeinflussen – über den Umweg anderer Politikfelder. Dazu zählt der aktuelle Vorstoß der SPD, im Rahmen der neu zu gestaltenden Sozialhilfe schulische Sozialpädagogen zu fördern. Auch könnte der Bund, wenn Büchereien und Jugendzentren zu schließen drohen, Investitionen zur Zusammenlegung dieser Einrichtungen mit Schulen fördern.

Unabhängig von den geringen Einflüssen des Bundes auf die Schulpolitik hat der Parteivorstand der SPD eine dringende Koordinierungsaufgabe – das gilt noch mehr für die Strategie als für die Konzeption. Zwar zeichnet sich in den westdeutschen Ländern ein Trend zugunsten einer Zweigliedrigkeit mit Gymnasium und einer Gemeinschaftsschule (Oberschule) ab, die zur Hochschulreife führt. Diese Zweigliedrigkeit wird entweder direkt eingeführt oder kommt durch den Ausbau der Gemeinschaftsschule zustande. Doch ist die SPD nicht in allen ostdeutschen Ländern bereit, die Mittelschule in der dortigen Zweigliedrigkeit mit dem Gymnasium zu einer Gemeinschaftsschule weiterzuentwickeln. Im Westen wiederum besteht die SPD, ungeachtet des Hamburger Desasters, in einigen Ländern weiter auf eine Verlängerung der Grundschule. Mit dieser unrealistischen Strategie gefährdet sie ihre Wahlchancen und potenzielle Regierungserfolge. Auch in den vergangenen Landtagswahlkämpfen war die Strategie oft verschwommen, teilweise widersprüchlich – und dies dürfte der Partei am Wahltag nicht gerade genützt haben. Um ihrer Glaubwürdigkeit und ihres Profils willen sollte die Bundes-SPD dringend wieder eine bildungspolitische Kommission gründen. «

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