Verschenkte Potenziale

Alle reden vom Fachkräftemangel, doch eine riesige gesellschaftliche Gruppe wird dabei viel zu wenig thematisiert: Rund 5,6 Millionen Frauen zwischen 25 und 59 Jahren sind nicht erwerbstätig. Das kann sich Deutschland nicht mehr leisten - weder ökonomisch noch moralisch

Wir debattieren über Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit. Wir thematisieren den Fachkräftemangel, aus guten Gründen. Wir diskutieren über erhöhte Zuwanderungsquoten gut ausgebildeter Menschen. Doch wer spricht über Nichterwerbstätigkeit? Und speziell über nicht erwerbstätige Frauen? Rund 5,6 Millionen dieser „Schattenfrauen“ leben in Deutschland. Dies entspricht einem Anteil von 28 Prozent aller Frauen im Alter zwischen 25 und 59 Jahren. Die große Mehrheit von ihnen möchte arbeiten gehen, doch nur 1,8 Millionen sind arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldet. 

Viele dieser Frauen wären ebenfalls gern erwerbstätig, können es aber nicht sein. Sie werden für Kinderbetreuung oder Pflege im eigenen Haushalt gebraucht. Bei manchen spielt die Gesundheit nicht mehr mit. Einigen ist der Einstieg ins Berufsleben noch nie gelungen, da ihnen eine gute Ausbildung fehlt. Eine große Zahl von Frauen hat jahrelang erfolglos nach einem Job gesucht, der sich mit ihrem Familienleben vereinbaren lässt – und sich mittlerweile frustriert ins Private zurückgezogen. Besonders erschreckend ist, dass auch junge und gut ausgebildete Frauen häufig nicht berufstätig sind. Obgleich deren Erwerbswunsch sehr stark ausgeprägt ist (90 Prozent von ihnen wollen ihr eigenes Geld verdienen), scheitert das Vorhaben oft an der fehlenden Kinderbetreuung.

Nur 13 Prozent aller Frauen kehren ins Erwerbsleben zurück   

Der Beruf tut das Seine. Gerade so genannte Frauenberufe lassen sich oft schwer mit Kindern verbinden. Pflegeberufe und viele andere Dienstleistungstätigkeiten verlangen Arbeitszeiten, die weder mit den Öffnungszeiten von Krippen und Kindergärten noch mit den Unterrichtszeiten in Schulen harmonieren. Andere Berufe sind noch immer altersgebunden: Sie stehen jungen Frauen offen, ältere werden ausgeschlossen.

Die Rückkehr ins Erwerbsleben gelingt nur wenigen Frauen, gerade einmal 13 Prozent. Wenn sie jung und gut qualifiziert sind, zuvor einen anspruchsvollen Beruf ausgeübt haben, so glückt ihnen der Wiedereinstieg am ehesten. Jedoch kehrt fast keine Frau in eine Vollzeitbeschäftigung zurück. Ein gutes Einkommen und eine berufliche Karriere bleiben ihnen dadurch meist verschlossen. Alle sagen: Die Rückkehr ist ein langwieriger Prozess. Dies gilt auch für die Frauen selbst. In einer Lebensphase, in der die familiären Pflichten deutlich geringer geworden sind und einer Erwerbstätigkeit „an sich“ oft wenig entgegensteht, fühlen sich viele Frauen so richtig außen vor. Sie sind verunsichert: Werde ich im Arbeitsmarkt überhaupt noch gewollt und gebraucht? Ihr Defizit heißt jetzt Alter, nicht mehr Familie. Oft trauen sich Frauen eine Erwerbsarbeit nicht mehr zu. Von den rasanten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben sie gehört. Was die Arbeitgeber aber genau von ihnen erwarten, das wissen die wenigsten Frauen. Sie waren zu lange draußen. 

 Mütter in Finnland, Schweden, Dänemark oder Frankreich dagegen sind von Anfang an integriert. Die Sozialpolitik dieser Länder zielt darauf, dass die Frauen sich eigenständig finanziell absichern und daher ihre Erwerbsarbeit nur kurz unterbrechen. Wohlgemerkt: Diese Länder halten die Frauen nicht dazu an, auf eine Unterbrechung zu verzichten. Im Gegenteil ermöglichen es gerade Länder mit einem universellen Recht auf staatlich finanzierte Betreuung auch sehr kleiner Kinder den Eltern, in den ersten Lebensjahren des Kindes Eltern- und Betreuungsgeld zu beziehen. Es geht nicht um direkte oder indirekte Familienleistungen, es geht immer um beides. 

Zwar sind auch in diesen Ländern meist die Mütter für die Kinder zuständig. Dennoch verteilen sich Arbeitszeiten und Betreuungszeiten ausgewogener zwischen den Partnern. Trotz einer hohen Erwerbsquote von Müttern mit kleinen Kindern arbeiten nur wenige Frauen in Teilzeit. Entsprechend sind die Unterschiede zwischen den Arbeitszeiten von Frauen und Männern und damit die Lohnabstände deutlich geringer als in Deutschland. Und weil beide Elternteile Geld verdienen, liegen die Einkommen von Paaren mit Kindern und Paaren ohne Kinder auf einem vergleichbaren Niveau. 

Das Stichwort heißt Prävention
Was also ist in Deutschland zu tun? Wir müssen darauf achten, dass sich gerade die jungen, gut ausgebildeten Frauen nicht noch weiter vom Arbeitsmarkt entfernen. Wir brauchen diese Frauen schon heute. Die älteren Frauen müssen wir heranführen und qualifizieren. Wir brauchen auch sie. Das Stichwort ist Prävention. Es ist nicht originell, es ist nicht innovativ, aber es ist wirksam und geht alle an – die Frauen, die Familien, die Betriebe und die Politik. Wir müssen alles daran setzen, dass sich eine Erwerbsunterbrechung erst gar nicht in die Länge zieht. 

Wir wissen: Die große Mehrheit von Frauen und Männern möchte eine Familie gründen und erwerbstätig sein. Doch besonders Mütter müssen Acht geben, an ihre Zukunft denken und diese selbst in die Hand nehmen. Sie müssen Hilfe aktiv einfordern, auch von ihren Partnern. Je ungleicher Hausarbeit und Erwerbsarbeit zwischen ihnen verteilt sind, umso ungleicher werden die Handlungsmöglichkeiten im weiteren Lebensverlauf sein. Ihre Bedenken sollten die Frauen möglichst beiseite schieben. Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass sich die Erwerbstätigkeit von Müttern nachteilig auf die Entwicklung ihrer Kinder auswirkt. Dagegen zeigen Befragungen eindeutig, dass erwerbstätige Mütter insgesamt zufriedener sind als nicht erwerbstätige Mütter. 

Hier müssen Betriebe ansetzen: Wollen sie Frauen halten, müssen sie Mütter gewinnen. Schon beim Einstellungsgespräch sollten klare Worte fallen, mit denen diese Perspektive ermöglicht wird. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer ist Chefsache. Der Betrieb hält den Kontakt zu den Müttern und Vätern, während diese sich in Mutterschutz oder Elternzeit befinden, und unterstützt die Betreuung der Kinder. Konferenzen werden zu familienfreundlichen Zeiten abgehalten. Kinder werden nicht versteckt, sie werden gezeigt und in jeder Hinsicht „mitgenommen“. Auch bei der Auswahl von Bewerbern können Betriebe ansetzen. Diese sollte sich gerade bei Müttern nicht nur auf Zertifikate stützen. Die Lebensphase selbst ist in den Blick zu nehmen, das Potenzial, die Breite der eingebrachten Kompetenzen sind mit entscheidend. Und die deutschen Arbeitgeber müssen Weiterbildung vermehrt als eine Zukunftsinvestition verstehen. Weiterbildungsphasen sollten systematisch auf betrieblicher Ebene vorgesehen und in der Lebensplanung angelegt sein. Es muss zur Regel werden, dass man Auszeiten für Weiterbildung nehmen kann. Weiterbildungsmaßnahmen sollten zum zentralen Bestandteil von Tarifabschlüssen der Sozialpartner werden. 

Die Politik muss endlich Politik machen

Die Politik muss endlich Politik betreiben. Sie kennt die Zahlen, sie weiß um die Entwicklungen. Wir brauchen und wir warten auf klare und ungebrochene Leitlinien. Man kann nicht lange Unterbrechungen positiv würdigen und gleichzeitig das Unterhaltsrecht auf die eigenständige Sicherung ausrichten. Wir müssen die Herausforderungen noch stärker ressortübergreifend angehen. Die dringend notwendige flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen ist nicht nur als ureigene Aufgabe des Familienressorts zu behandeln und dort auszufinanzieren – genauso geht es bei dem Thema um Bildung, Arbeit und soziale Sicherung. In der Bildungspolitik widersetzt man sich langsam dem Föderalismus und betont, dass es um übergeordnete, nationale Interessen geht, die einen einheitlichen, länderübergreifenden Rahmen erzwingen. Eine gute Kinderbetreuung liegt ebenfalls im nationalen Interesse und braucht ein bundesweites Format. 

Die Politik muss endlich Politik betreiben. Sie kennt die Zahlen, sie weiß um die Entwicklungen. Wir brauchen und wir warten auf klare und ungebrochene Leitlinien. Man kann nicht lange Unterbrechungen positiv würdigen und gleichzeitig das Unterhaltsrecht auf die eigenständige Sicherung ausrichten. Wir müssen die Herausforderungen noch stärker ressortübergreifend angehen. Die dringend notwendige flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen ist nicht nur als ureigene Aufgabe des Familienressorts zu behandeln und dort auszufinanzieren – genauso geht es bei dem Thema um Bildung, Arbeit und soziale Sicherung. In der Bildungspolitik widersetzt man sich langsam dem Föderalismus und betont, dass es um übergeordnete, nationale Interessen geht, die einen einheitlichen, länderübergreifenden Rahmen erzwingen. Eine gute Kinderbetreuung liegt ebenfalls im nationalen Interesse und braucht ein bundesweites Format.  

Wir müssen uns von der Fiktion einer ununterbrochenen Beschäftigung lösen   

Auch sollten wir daran arbeiten, die Lebensverläufe neu zu gestalten. Dazu müssen wir die Arbeitszeitkonten weiterentwickeln, so dass Frauen nicht ein Leben lang auf Teilzeit festgelegt bleiben. Während der Erziehung und Pflege könnten dann beide Partner die Arbeitszeit verringern, um diese Zeiten später nachzuarbeiten. Die Regelungen für das Elterngeld sollten beweglicher und dehnbarer werden. Auch hier hilft ein Blick über die Grenzen: In Schweden kann das Elterngeld noch im ersten oder zweiten Schuljahr der Kinder abgerufen werden. Wir müssen uns von der Fiktion einer ununterbrochenen Beschäftigung lösen. Vielmehr geht es darum, dass Frauen und Männer ihre Erwerbsverläufe immer wieder unterbrechen können – für die Erziehung, für die Pflege, für die Weiterbildung. Gleichzeitig müssen wir vermeiden, dass diese Auszeiten zu lange andauern und alleine Frauen sie nehmen. 

In den vergangenen Monaten ist die Einführung einer Frauenquote salonfähig geworden. Man spricht darüber und der Widerstand dagegen bröckelt. Die beharrliche Vorstellung, gute Leistungen würden von alleine erkannt, gefördert und produktiv genutzt, hat ein Ende. Auch Frauen geben ihren Widerstand auf und sehen, dass sie nur über eine Quote in Führungspositionen vordringen und erst dort zeigen können, dass ihre Leistungen keiner Quote bedürfen. 

Gleicher Lohn für vergleichbare Arbeit

 Solche Diskussionen um Anschubquoten sind zweifelsohne auch für nicht erwerbstätige Frauen ein Signal. Frauen zeigen sich schon vor der Erwerbsunterbrechung alarmiert und frustriert von den unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich Frauen und Männern bieten. „Die Leistung von Frauen wird anders beurteilt als die Leistung von Männern“, sagen 90 Prozent der unter 30-jährigen Frauen, und 82 Prozent der gleichaltrigen befragten Männer stimmen dem zu. Über die Zeit wächst die Unzufriedenheit deutlich. Klare Zeichen auf dem Arbeitsmarkt sind nötig: hin zu gleichem Lohn für vergleichbare Arbeit und hin zu gleichen Aufstiegschancen für Frauen und Männer. Diese Signale können das Ihrige dazu beitragen, um Frauen im Arbeitsmarkt zu halten oder nach einer Unterbrechung schnell zurückkehren zu lassen. «

Die Thesen dieses Beitrags führt die Autorin in ihrem neuen Buch weiter aus: Jutta Allmendinger, Verschenkte Potenziale? Lebensverläufe nicht erwerbstätiger Frauen, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2010, 198 Seiten, 16,95 Euro

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