Vernetzung und Deutungshoheit

Nicht schön, aber wahr: Was direkt von der SPD kommt, nehmen viele Menschen einfach nicht mehr zur Kenntnis. Um Offenheit für Ideen sozialer Demokratie zu schaffen, werden heute sozialdemokratische Think Tanks neuen Typs gebraucht

Die Kartografen aus den ganz frühen Zeiten der Globalisierung konnten das Neue in ihrem Weltbild noch nicht verarbeiten und überspielten ihr mangelndes Wissen mit Warnungen an die Adresse der potenziellen Entdecker und Erdumrunder: „Here be dragons“, trugen sie dort ein, wo das Unbekannte hauste.

Ausbrüche aus einem vorherrschenden Welt- und Selbstbild wie zu Beginn der europäischen Neuzeit gehen mit Erschütterungen einher, deren Wucht man gar nicht übertreiben kann. In der domestizierenden Begrifflichkeit unserer Tage wird das als „Wandel von Strukturen“ bezeichnet. Doch „Strukturwandel“ setzt voraus, dass auch nach dem Wandel noch eine Struktur existiert. Der gegenwärtige soziale und politische Epochenbruch sieht aber aus der Nähe eher nach umfassender Entstrukturierung aus. Wir wissen nicht, was kommt, während wir spüren, was wegrutscht. In dieser Lage sind heute die Volksparteien, die ideologisch und organisatorisch wie die alten Kartenmacher vor der neuen Welt stehen und wohl sehen, dass etwas nicht mehr stimmt, aber davor warnen, die überkommenen Leitbilder und Grenzlinien preiszugeben.

 

Die SPD im zähen Stellungskampf

 

Die Krise ist bekannt. Wie in einem Fortsetzungsroman beschreiben Kommentatoren die schwindende Organisationskraft, die ausgezehrte Artikulationsmacht, den ermatteten politischen Glanz ehemals heroischer Parteien. Die Parteien selbst – und an ihrer Spitze die Sozialdemokratie – beharren dagegen im zähen Stellungskampf auf einem alten Organisationsstolz. Sie führen eine eigene historische Vernunft ins Feld, die zu Recht darauf verweist, was für die freie Gesellschaft auf dem Spiel steht, sollte die Ära der großen Mitgliederparteien wirklich enden.

 

Kraftvolle demokratische Praxis – aber wie?

 

Das Bauprinzip des Obrigkeitsstaates lautete: Das Privileg politischer Organisation liegt bei der Oberschicht. Am Anfang der Demokratie als einer allgemeinen sozialen Praxis stand die Anfechtung dieses Monopols. Die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gingen zum ersten Mal überhaupt daran, auch die unteren Bevölkerungsschichten dauerhaft zu organisieren, zu emanzipieren und mit – zunächst begrenzter und unterdrückter, aber stetig wachsender – politischer Einflussmacht auszustatten. Was anfangs in Vereinen, Assoziationen und berufsbündischen Strukturen vonstatten ging, sammelte sich schließlich in politischen Parteien. Und daraufhin dauerte es noch einmal lange, bis das politische Entscheidungs- und Repräsentationsmonopol der Männer durch die Frauenbewegung erfolgreich aufgebrochen wurde.

Das demokratische Prinzip einer Gesellschaft, die keine Klassengesellschaft mehr sein will, erfordert idealtypisch die allgemeine, gleiche, von Besitz, Herkunft oder Geschlecht unabhängige Chance, sich politisch Gehör zu verschaffen. Die Parteien haben diese Chancen gemehrt und mit Hoffnungen auf ein besseres Leben aufgeladen. Noch immer hat das Wort von der „Solidarität als Handlungsmacht“ einen gesellschaftlich respektablen Klang, doch der soziale Resonanzraum für solche Pathosformeln löst sich zusehends auf. Große politische Verbände verlieren die sie tragenden sozialräumlichen Milieus durch den raschen Abbruch von Berufsstrukturen, durch die vielfache Mobilität der Menschen, die Internationalisierung und Individualisierung ihrer Haltungen und Interessen.

Diesem Verlust entspricht ein kultureller Gewinn, denn zugleich verliert auch der starre Kollektivismus mit seinen dogmatischen Ideologien an Boden. Aber dies bedeutet eben nicht, dass die Ungleichheiten unter den zunehmend individualisierten Bürgern verschwinden. Der „flexible Mensch“, den Richard Sennet porträtiert, hat alte Abhängigkeiten gegen neue Risiken getauscht. Die Gegensätze haben wieder zugenommen und lassen sich nach Einkommen, Vermögen, Bildung, Gesundheit, Wohnort und nach dem Grad persönlicher Verunsicherung messen, der in einer modernen Selbstdarstellungsökonomie zu einem mächtigen Sozialindikator geworden ist.

Im Unterschied zur alten Klassengesellschaft, die den Stolz der gleich Unterprivilegierten als politischen Antrieb kannte, fehlt es heute den Flexiblen am Bewusstsein verbindender Interessen und an Anlässen, diese Interessen zu definieren. In dieser Situation wäre es an der Zeit, neue Antworten auf die Frage nach politischer Organisation zu formulieren, die nach wie vor entscheidend für kraftvolle demokratische Praxis ist.

 

Auf dem Markt der Ideen tobt der Kampf

 

Wird es gelingen, eine zeitgemäße Form politischer Organisation zu entwickeln, die neue soziale Spaltungen von Macht und Ohnmacht überbrückt? Zu beobachten ist einerseits eine verbitterte Abkehr der Arbeitslosen und der bildungsarmen Schichten von den etablierten politischen Eliten, andererseits ein elitärer Rückzug der Globalisierungsgewinner in exklusive Zirkel, Clubs und kommerziell ausgerichtete Beraterkreise. Werden die klassischen Volksparteien zerrissen zwischen Populismus und Politberatertum?

Interessanter als die Quantifizierung des Organisationsgrades der Parteien – also Mitgliederstatistik und Funktionärskörper – ist die Qualifizierung ihrer ideenpolitischen und meinungsbildenden Überzeugungsstärke. Auf dem „Markt der Ideen“ tobt der Kulturkampf. Früher haben sich Leitmedien, Parteien, Regierung und Verbände diesen Markt aufgeteilt. Die Lager waren meist klar.

Heute drängen Think Tanks nach amerikanischem und britischem Vorbild auf den Meinungsmarkt: In der Rechtsform gemeinnütziger Vereine und Stiftungen treten sie zwischen wissenschaftliche Beratung und politische Institutionen. Sie haben die geschlossene politische Agenda von Lobbygruppen, legen aber Wert auf das Image der Wissenschaftlichkeit, verfolgen eine aggressive Kampagnenstrategie in den Medien und verfügen meist über exklusive Kontakte in Regierung und Parteien. Hier wird politische Artikulationsmacht aufgebaut, die in Konkurrenz zu den Parteien tritt und die Parteiführungen als zu beeinflussende Zielgruppe definiert – besonders bei den Themen Marktwirtschaft, Wettbewerb, Steuern und Sozialstaat.

 

Hat die SPD Ideen zu bieten?

 

Ein viel zitiertes Beispiel ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, finanziert vom Dachverband der Metallindustrie, einem Ableger des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, das wiederum von Arbeitergeber- und Wirtschaftsverbänden getragen wird. Ein anderes, lehrreiches Beispiel: das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, von Kurt Biedenkopf noch als CDU-Generalsekretär 1977 gegründet, und mit Meinhard Miegel, damals Abteilungsleiter für Politik und Information in der Bundesgeschäftsstelle der CDU, einflussreich geworden. Klar ist: CDU und FDP, die in den siebziger Jahren gegen die kränkende kulturelle Hegemonie der Linken mit einer offensiv ausgreifenden „Ideologiepolitik“ (Hermann Lübbe) neuen konservativen Typs antraten, sind in das heutige Netzwerk wirksamer Meinungsmacher weit besser eingebunden als die SPD.

In der Diskussion um die Kraft der Sozialdemokratie, gesellschaftspolitische Richtungsentscheidungen zu beeinflussen, lautet eine gängige, aber verharmlosende Formulierung: „Erreichen wir die Menschen noch?“ Eigentlich müsste es heißen: „Hat die Sozialdemokratie Ideen zu bieten, die ihre Existenz als Partei rechtfertigen?“ Keine demokratische Partei kann sich als Selbstzweck betrachten. Sie kann auch nicht deshalb neue Mitglieder werben wollen, weil sie einfach ihre „Größe“ halten muss. Zuerst kommen die Ziele, dann der Wunsch, zur Erreichung dieser Ziele möglichst viele Mitstreiter zu gewinnen.

 

Präsenz in den Konflikten der Gegenwart

 

Der Nukleus jeder Partei ist ihr Leitbild zur Gestaltung unserer Zeit. Und authentisch verbunden mit diesem Leitbild braucht es Personen, die Ausstrahlungskraft besitzen, weil sie rhetorisches Talent und strategisches Geschick mit innerer Wertüberzeugung verbinden. Dabei besteht ein Primat der Ideen und der Personen. Das ist keine Rangabwertung der Organisation, sondern eine Erklärung, wie sie zu Kräften kommen kann. Ideen, Persönlichkeiten und Präsenz in den Konflikten der Zeit – das hilft.

Politische Ideen und Persönlichkeiten fallen nicht wie die Sterntaler vom Himmel. Sie profilieren sich in der ungebremsten Konfrontation mit den Widersprüchen und Konflikten der gesellschaftlichen Basis. Man braucht kein Wahrsager zu sein, um vorherzusehen: Die Zukunft der Arbeit, der sozialen und der ökologischen Sicherheit, der Bildungszugänge und Bildungsrenditen, die überragende soziale Frage gleicher Freiheit, des Versprechens sozialen Aufstiegs durch Leistung und Solidarität, also die egalitäre europäische Variante des pursuit of happiness – das sind die programmatischen Prüfsteine der Sozialdemokratie. Keiner dieser Punkte lässt sich noch in Heimarbeit erledigen, weil alle diese Fragen in den ungeschützten, unübersichtlichen Raum eines penetranten technischen Fortschritts in der Globalökonomie gestellt sind. Dort hausen aber keine „Drachen“, gegen die man sich verschanzen könnte, es herrschen Verhältnisse der Ungleichheit, denen man sich intellektuell aussetzen muss, um sie zu verändern. Irgendwann muss man ins Wasser steigen, um schwimmen zu lernen.

Die viel zu oft gebrauchte Floskel „Ist mit uns nicht zu machen ...“ hilft nicht weiter. Würde sie einmal ein Jahr lang nicht verwendet, es wäre ein Beitrag zur politischen Kultur. Wer die Dinge wieder in Bewegung bringen will, muss aufhören, sie immer nur „abwehren“ zu wollen. Die Vorwärtsstrategie heißt: Teambildung mit Talenten, mit den kreativen Leuten einer ideellen Gesamtlinken, die, was ihre Lagersozialisation angeht, die heutigen „vaterlandslosen Gesellen“ repräsentiert. Die Sozialdemokratie kann ihre Stärke nicht durch esoterische Beschwörungen finden, sie muss aus der Haut fahren, und zwar kräftig. Das bedeutet, über die Grenzen der Partei hinaus Kontakte zu stärken und Allianzen aufzubauen. Wissenschaft, Medien (alte wie neue) und internationale Beziehungen sind die wichtigsten kommunikativen Kontinente, die es neu zu entdecken gilt.

 

Wie die FES ihre Wirkung erhöhen könnte

 

Deprimierend aber wahr ist: Botschaften, die direkt von der SPD kommen, werden von vielen Menschen einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen. Wahr ist auch: Um unverbrauchte Ideen zu entwickeln, ist gerade in der Anfangsphase viel Freiheit und große Unabhängigkeit nötig. Nicht jede gedankliche Regung darf gleich in die etablierten Linien gepresst werden. Um einerseits wieder größere Offenheit für sozialdemokratische Leitbilder bei Leuten zu gewinnen, die vor allem auch semantisch in großer Distanz zur Partei leben, und um andererseits für die Formulierung dieser Ideen die notwendige kreative Freiheit zu schaffen, braucht es sozialdemokratische Think Tanks neuen Typs.

Der existierende „Tank“ ist natürlich die Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie muss ein politisch-analytischer Anstoßgeber bleiben. Indem sie noch viel stärker als „intellektuelle Holding“ agiert, die kleinere Denkstuben unterstützt und fördert und sich dabei zum Webschiff der Netzwerkbildung entwickelt, kann sie ihre Wirkung und Reichweite auf dem Feld der Ideenproduktion erhöhen. Think Tanks neuen Typs, das heißt auch, dass sich die Denkfabriken von den Fleischtöpfen der öffentlichen Hand emanzipieren und private Mittel dort einwerben müssen, wo mit sozialer Demokratie sympathisiert wird, ohne dass man gleich der SPD sein Geld geben will. Publikationschancen müssen über Parteimedien hinaus erschlossen werden. Und schon heute sind die Regierungsbündnisse von morgen durch eine internationale Allianz für Soziale Demokratie vorzubereiten.

 

Die Mitgliederpartei des 21. Jahrhunderts

 

Die SPD ist heute eine postheroische Partei, die sich so schnell von keiner Untergangsmeldung mehr umschmeißen lässt und den Blues vergangener Zeiten verinnerlicht hat. Das ist unendlich sympathisch und zugleich haarsträubend resignativ. Dabei gibt es sie noch, die großen Entscheidungsfragen und Entdeckungen. Die heroischen Sozialdemokraten des 21. Jahrhunderts sind die Internationalisten. Die globalisierte Welt drückt nationale Parteien organisatorisch und ideell immer enger zusammen. Die SPD war die erste Partei, die das erkannt hat und in die Deklaration internationaler Solidarität übersetzte. Diese Erkenntnis muss heute realisiert werden. Eine moderne, international vernetzte Partei bewegt sich in einem Bündnisgeflecht, das für das weit in die Zukunft weisende Projekt einer politischen Gestaltung der Globalisierung jeden Tag unverzichtbarer wird.

Das kostet viel Kraft, aber anders als Sisyphus werden Sozialdemokraten diesen Stein nicht vergebens rollen. Sie werden Deutungshoheit zurückgewinnen und Menschen anziehen, die mit Herzblut in Kampagnen gehen und auch den Schritt zur Mitgliedschaft tun. Der Weg zur Mitgliederpartei für das 21. Jahrhundert führt über die strategische Netzwerkpolitik.

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