Verlust der Volksnähe

Ungestümer Wandel und bisher ungekannte Probleme verlangen nach neuen Strategien. Erfolgreich können Sozialdemokraten nur sein, wenn sie lernen, auch widersprüchliche Entwicklungen intellektuell zu verarbeiten

Eine Partei, die Wahlen gewinnen will, muss sich zu allererst um ihre Mitglieder kümmern und diese mit einem in die Zukunft weisenden Gesellschaftsentwurf bei der Stange halten. Die weitgehende Angleichung der Parteiprogramme hat zwar gerade die Bindungskraft der SPD ausgehöhlt. Hier gilt es jedoch, die Einsicht Hans-Ulrich Wehlers zu beherzigen, dass die Aufgabe der Sozialdemokratie erst dann erfüllt ist, wenn es keine Armut und kein Unrecht mehr gibt. Das bedeutet, dass sie die sozial benachteiligten Gruppen nicht aus dem Auge verlieren darf. Folglich sollte sich die SPD nicht als eine Partei begreifen, die lediglich arbeitende Menschen vertritt.

Die SPD ist ihrer Herkunft nach eine Protestpartei, die den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu ihrem zentralen Thema machte. Im 20. Jahrhundert hat sie sich zu einer politisch gestaltenden Kraft entwickelt. Sie hat aber auch ihre gesellschaftlichen Wurzeln eingebüßt. Selbst der Vorsitzende der Partei muss einräumen, dass er – wie es der Göttinger Politologe Franz Walter so treffend für die Generation der Enkel beschrieben hat – das proletarische Wohnviertel längst verlassen hat, dass er eine andere Sprache spricht und Anteil an dem früher der bürgerlichen Schicht vorbehaltenen kulturellen Leben hat. Dieser Verlust der Volksnähe ereignet sich in einer Zeit, die sich durch einen ungestümen sozialen Wandel auszeichnet. Dieser zeitigt bislang unbekannte Probleme und verlangt nach neuen politischen Strategien. Die zunehmende Vielschichtigkeit der politischen Probleme führt aber zugleich zu Ratlosigkeit und Unsicherheit – sowohl bei den Mitgliedern der SPD wie bei den Wählern.

Nehmen wir das Beispiel der Europäischen Union, ein Thema, bei dem die Sprachlosigkeit des sozialdemokratischen Führungspersonals und die Vielschichtigkeit der zu lösenden Aufgaben am auffälligsten sind. Wer die Mitglieder und Wähler für das Projekt Europa gewinnen will, wird diesen die Vorzüge und Risiken der europäischen Integration zu erläutern haben. Dies erfordert Mut zum Risiko und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Jacques Delors sprach zu Recht von einem „kollektiven Abenteuer“. Er hatte bei dieser Wortwahl weniger das Spielerische als vielmehr das Experimentelle und damit die Ungewissheit des Ausgangs im Sinn. Diese Verantwortung kann die SPD nur schultern, wenn sie ihre Mitglieder in die Entscheidungsprozesse einbezieht.

Hier hat die SPD jüngst vorbildliche – verfassungsgerichtlich abgesegnete – Formen demokratischer Teilhabe entwickelt, die den Wunsch, Mitglied der Partei zu werden, anregen dürften: Gemeint sind der Mitgliederentscheid über den mit der CDU und CSU ausgehandelten Koalitionsvertrag auf der Bundesebene sowie die Kandidatenauswahl für das Amt des künftigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin. In beiden Fällen war klar, dass diese Mitgliederentscheidungen, um politisch erfolgreich zu sein, letztlich in die Verfahren der parlamentarischen Demokratie münden müssen.

Nicht nur die Vielzahl der Probleme, sondern auch die Gegenläufigkeit der mit diesen verbundenen Einstellungen fordert gegenwärtig von den Politikern einen besonderen Intellekt. Gefragt ist die Fähigkeit, „zwei entgegengesetzte Ideen zugleich im Kopf zu haben“ und dennoch weiter politisch wirken zu können – was sehr frei nach F. Scott Fitzgerald der „Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz“ ist. Beispielsweise müssen Politiker, die das Ordnungsgefüge der transnationalen Europäischen Union weiter voranbringen wollen, zwei einander mitunter widersprechende Identitäten klug in einem Kopfe harmonisieren können. Sie müssen auf das Nationale bedacht und zugleich davon überzeugt sein, dass nur ein schrittweiser Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität die Europäische Union zum Fundament einer einheitlichen Währung machen kann.

Vor allem für junge Menschen ist die Demokratie eine selbstverständliche, ihnen aber wenig erfolgreich erscheinende Staatsform. Sie müssen davon überzeugt werden, dass der demokratische Staat zwar ein offenes und riskantes Projekt ist, aber zugleich die friedfertigste Regierungsform ist, die Menschen bisher erprobt haben. Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit können für die Demokratie tödlich sein. Menschenwürdige Alternativen sind uns bislang nicht bekannt. Im Gegenteil, unser gegenwärtiges demokratisches Staatsgebildete war und ist ein Gegenentwurf zu Diktatur und Monarchie, zu Staatsformen also, die mit Menschen- und Bürgerrechten nichts oder wenig im Sinn hatten. Die Widerstandskraft der Demokratie und ihre Anpassungsfähigkeit an veränderte politische Herausforderungen hängen nicht allein von der Handlungs- und Kompromissfähigkeit der Politik ab, sondern sind auch auf gesellschaftlichen Rückhalt angewiesen.

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